Die Ursünde Russlands

Putin, seine Macht und den Ukraine-Krieg besser verstehen – ein grossartiger Roman.

Der Roman des französisch-schweizerischen Schriftstellers und Intellektuellen Giuliano da Empoli ist das Buch der Stunde. Der Kriegszug gegen die Ukraine hat das Interesse an Russland und seinem autoritären Regime schlagartig erhöht. Wie ist es zu diesem Überfall gekommen? Wie kann eine Person derart rücksichtslos herrschen und bestimmen? Wer ist Putin überhaupt? Der 2022 in Frankreich erschienene Roman «Le Mage du Kremlin», Finalist des Prix Goncourt und Gewinner des Grand prix du roman de l’Académie française, ragt neben vielen Biographien und Sachbüchern zu diesen Fragen heraus.

Vom TV-Produzenten zum Putin-Berater 
Über den hochaktuellen und spannenden «Magier im Kreml» sind intensive, zum Teil heftige Kontroversen entbrannt. Da Empoli lässt den fiktiven Berater Wadim Baranow erzählen, wie er vom Produzenten von TV-Reality-Shows zum Berater Wladimir Putins wurde, dessen Aufstieg inszenierte und dessen Macht zementierte. Für die einen ist es eines der besten Bücher, um das System Putin zu verstehen, für die anderen gerade deswegen untauglich und gefährlich, weil es eben eine Fiktion, eine Erzählung ist.

Diese erzählerische Freiheit hat sich da Empoli bewusst genommen. Ursprünglich wollte er einen Essay schreiben, hat intensiv recherchiert, zahlreiche Quellen gelesen, mit vielen Leuten gesprochen und sich dann für die Romanform entschieden. Man darf ihm dafür dankbar sein, denn da Empoli hat einen faszinierenden, dichten, gut lesbaren Pageturner geschrieben, den man nicht mehr aus der Hand legen mag.

Sehnsucht nach Ordnung und russischen Werten 
Der Ich-Erzähler, ein französischer Literaturwissenschaftler, sucht in Moskau nach Spuren des vergessenen russischen Schriftstellers Jewgeni Samjatin. Sein 1920 verfasster dystopischer Roman «Wir» nimmt den Totalitarismus des Stalinismus vorweg und wurde als erstes Buch in der Sowjetunion verboten. Übers Internet spürt Baranow den Ich-Erzähler auf, lädt ihn in sein Haus vor den Toren Moskaus ein und erzählt ihm seine Lebensgeschichte.

Was wir da vernehmen, ist schlicht unglaublich. Im «Der Magier im Kreml» werden die Jahre nach dem Fall der Mauer, den exzessiv gelebten Ultra-Kapitalismus der Jelzin-Jahre, die Sehnsucht nach Ordnung, nach russischen Werten beschrieben sowie der Versuch gewisser Oligarchen, den blassen, vermeintlich harmlosen Geheimdienstler Putin an die Macht zu hieven. Doch Putin versteht sich nicht als Marionette in den Händen einiger weniger Drahtzieher. Vielmehr macht er sie mundtot oder schickt sie ins Exil, um autonom und zunehmend autoritär Russland zu lenken. Zahlreiche reale Figuren bevölkern den Roman, die für ganz spezifische Ereignisse und Episoden stehen: Boris Beresowski, Michail Chodorkowski oder Alexander Saldostanow, Gründer des Motorrad- und Rockerclubs «Nachtwölfe». Wir werden Zeugen des Unglücks des russischen Atom-U-Boot Kursk, der Maidan-Unruhen 2013 und 2014 in der Ukraine, der gigantischen Inszenierung der olympischen Spiele in Sotschi oder der Ermordung von Putin-Kritikern.

Atemlose Reise durch die jüngste Geschichte 
Es ist eine atemlose Reise durch drei Jahrzehnte zeitgenössischer russischer Geschichte, die stark verbunden ist mit jener des Westens. Die vielen historischen Momente und einzelnen Ereignisse haben sich in unser Bewusstsein eingraviert. Da Empoli gelingt es, diese miteinander zu verbinden und wie sein Hauptdarsteller genial zu inszenieren. Und immer wieder sinniert er über die Verhaltensweisen der Menschen, über die unterschiedliche Geschichte und Wertesysteme des Westens und Russlands – mit zahlreichen, tiefsinnigen, philosophischen Gedanken, die zum Denken anregen, gleichzeitig aber düster-defätistisch sind: «Das Reich des Zaren wurde aus dem Krieg geboren, und es war nur folgerichtig, dass es am Ende wieder zum Krieg zurückkehrte. Das war die unerschütterliche Grundlage unserer Macht, ihre Ursünde.» Ein grosses Buch.

Giuliano da Empoli: Der Magier im Kreml. Übersetzung von Michaela Messner. C.H. Beck Verlag, München 2023, 265 S., etwa Fr. 30.-. 

«Die AHV braucht ohnehin eine strukturelle Reform»

Eric Breval, Direktor des AHV-Ausgleichsfonds compensuisse, über die Auswirkungen von Corona auf das AHV-Vermögen und warum er auf einen Schritt der Politik hofft, damit der Fonds langfristig anlegen kann.

Warum die Schweiz so erfolgreich Talente fördert

Es ist kein Zufall, dass unser Land die langjährige Spitzenposition erneut verteidigen kann.

«Alle Menschen haben Werte, aber nicht alle dieselben»

Kirchenratspräsident Gottfried Locher über ethisches Handeln in Wirtschaft und Politik.

«Als Chef muss ich zeigen, dass es möglich ist, ein Sabbatical zu nehmen»

Weshalb der BLS-Chef Bernhard Guillelmon Führungskräfte rät, eine Auszeit zu nehmen.

Nur wer offen ist, erzielt Wirkung

Die Wissenschaft lebt vom internationalen Austausch der Ideen.

China-Sicht im Wandel

Die aktuelle Wachstumsschwäche verstellt den langfristigen Blick auf die steigenden Compliance-Anforderungen

«Die Politik sollte nicht die Wissenschafter angreifen»

Sabine Süsstrunk, Präsidentin des Schweizerischen Wissenschaftsrats, hält den angedrohten Maulkorb aus dem Parlament für ebenso schädlich wie polemisierende Wissenschaftler.

Wie man seine Passwörter vor AI schützt

Jedes zweite Kennwort ist in weniger als einer Minute geknackt – deshalb: je länger und komplizierter, desto sicherer

Plädoyer für den weltoffenen Kleinstaat

Konrad Hummler und Franz Jaeger geben Ende Juni ein Buch über die Schweiz heraus. Sie wollen eine Identitätsdebatte anstossen. Weshalb verraten sie im ersten Teil des influence-Gesprächs.