«Die Politik sollte nicht die Wissenschafter angreifen»

Sabine Süsstrunk, Präsidentin des Schweizerischen Wissenschaftsrats, hält den angedrohten Maulkorb aus dem Parlament für ebenso schädlich wie polemisierende Wissenschaftler.

Sabine Süsstrunk, Präsidentin des Schweizerischen Wissenschaftsrats, plädiert für einen besseren Dialog zwischen Politik und Wissenschaft – gerade, um die Pandemie zu meistern. (Foto: zvg.)

Sabine Süsstrunk, wie oft haben Sie sich in der Covid-Krise geärgert, dass Wissenschafter einander und dem Bundesrat widersprechen und am Schluss das Volk ratlos zurücklassen?

Sabine Süsstrunk: In den seltenen Fällen, in denen Wissenschafter keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern ihre eigenen Ängste und polemisierenden Ansichten vortrugen. Die meisten Wissenschafter kommunizierten ehrlich und offen entsprechend dem Wissensstand, der in dem Moment herrschte. Manchmal wollte man es nicht hören, es entsprach aber dem jeweiligen Stand der Erkenntnis. Doch es gab einige wenige, national und auch international, die ganz einfach Unsinn redeten. Darüber habe ich mich geärgert.

Hat der dadurch entstandene Eindruck einer Kakophonie der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft geschadet?

Süsstrunk: Ich hoffe nicht. Wobei sich die Menschen klar werden müssen: Wissenschaft ist etwas, das sich permanent weiterentwickelt. Ständig kommen neue Erkenntnisse hinzu, und Schlussfolgerungen kann man erst ziehen, wenn alle Erkenntnisse da sind. Das betrifft dann oft die Vergangenheit. Man kann die Erkenntnisse nicht einfach von einem Baum pflücken, sondern muss sie sich erarbeiten, sie einschätzen und vergleichen. Das haben die Bürgerinnen und Bürger in der Covid-Krise wohl gelernt.

Zuvor wussten sie das nicht?

Süsstrunk: Wir alle haben uns zuvor viel weniger mit der zeitgenössischen Wissenschaft auseinandergesetzt. In der Schule wurden wir nur mit wissenschaftlichen Erkenntnissen konfrontiert, die vor Jahren erarbeitet worden waren. Jetzt aber wurden wir gezwungen, uns mit der Wissenschaft auseinanderzusetzen, die zeitgleich entstanden ist.

Jahrelang wurde beklagt, Politik und Wissenschaft seien viel zu weit voneinander entfernt. Führt die Pandemie zu einer Annäherung?

Süsstrunk: Ich hoffe sehr, dass sich jetzt alle Seiten um eine Annäherung bemühen. Wir Wissenschafter müssen lernen, unsere Erkenntnisse für das breite Publikum anders zu formulieren, als wir es in unseren wissenschaftlichen Arbeiten tun. Umgekehrt sollten Volk und Politik gelernt haben, dass die Wissenschafter helfen möchten. Dass sie dazu da sind, Erkenntnisse zu erarbeiten und diese vorzustellen. Erkenntnisse, die sie nicht erlogen oder erfunden haben, sondern die da sind. Die Politik kann immer anders entscheiden, sollte aber nicht die Wissenschafter angreifen. Das schadet der Politik genauso wie es der Wissenschaft geschadet hat, als ein oder zwei ihrer Exponenten Unsinn geredet haben.

Sie sprechen den Maulkorb an, den der Nationalrat der Covid-19-Task-Force verpassen wollte?

Süsstrunk: Ja. Die Erkenntnis geht nicht weg, wenn man sie wegwünscht. Sie geht auch nicht weg, wenn die Leute nicht darüber sprechen wollen.

Sie präsidieren den Wissenschaftsrat, dessen Aufgabe es ist, den Bundesrat in wissenschaftlichen Fragen zu beraten. Wenn man einzelne Mitglieder der Task Force hört, erhält man nicht den Eindruck, dass der Bundesrat den Rat dann auch befolgt.

Süsstrunk: Das würde ich nicht unterschreiben. Der Bundesrat befolgt den Rat schon. Nur sagt er nicht, nachdem er es getan hat, dass es ihm von dieser oder jener Seite empfohlen worden sei. So ist er zum Beispiel bei der Förderung von ausseruniversitären Forschungseinrichtungen von nationaler Bedeutung wie dem Tropeninstitut, dem Allergieforschungsinstitut SIAF oder dem Sozialarchiv unseren Empfehlungen weitgehend gefolgt. Selbstverständlich ohne zu sagen, dass er das getan hat.

Was ist Ihre wichtigste Lehre aus Corona?

Süsstrunk: Wir brauchen ein System, das rasch reagieren kann, damit die Wissenschaft in einer nächsten Krise in der Lage sein wird, die Beratung rasch zu übernehmen. Die Task Force kam ja aus dem ETH-Bereich und wurde dann vergrössert, es war aber am Anfang nicht ganz klar, was sie genau solle. Jetzt schauen wir zusammen mit anderen Institutionen, wie man ein solches Gremium schnell auf die Beine stellt – eine Task Force, von der klar sein soll, wem sie angegliedert ist, wer sie einberuft, wen sie berät und wer für sie spricht. Ihre Mitglieder würden je nach Krise bestimmt. Die Frage lautet, wie man das wissenschaftliche Wissen heranziehen kann, ohne Zeit zu verlieren. Dazu muss man ein Gefäss schaffen, das man im Notfall mit den richtigen Experten füllen kann. Und auch wieder auflösen, wenn die Krise vorüber ist.

Ist das Ihr wichtigstes Ziel als Wissenschaftsratspräsidentin?

Süsstrunk: Es ist ein wichtiges Ziel neben anderen. Dazu gehört die Evaluation des Schweizerischen Nationalfonds, wobei wir nicht nur in die Vergangenheit blicken, sondern auch in die Zukunft, und überlegen, wie der Nationalfonds seine wichtigen Aufgaben weiterhin erfüllen kann. Weitere Schwerpunkte sind die Digitalisierung in der Gesellschaft und die Grösse und Internationalität unseres Bildungs-, Forschungs- und Innovationssystems.

International droht der Schweiz das Abseits, weil die EU sie vom Weltraum- und Quantenforschungsprogramm Horizon ausschliessen will. Macht Ihnen das Sorgen?

Süsstrunk: Es macht mir Sorgen, denn die Auswirkungen wären mittel- und langfristig enorm. In der Quantentechnologie etwa sind wir auf gewissen Gebieten europaweit führend. Wir können diese teure Forschung aber nicht einfach bei uns betreiben, weil das eine so komplexe Angelegenheit ist, wir können aber dazu beitragen. Wenn wir davon ausgeschlossen werden, bekommen wir ein echtes Problem. Das gilt für alles. In vielen Gebieten kann man nur noch in grossen Forschungsgemeinschaften forschen. Diesen Rahmen hat uns die EU bisher geliefert. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt.

Welchen?

Süsstrunk: Wissenschafter sind kompetitiv, sie vergleichen sich gerne mit anderen Wissenschaftern. Sich um die ERC Grants – Zuschüsse des Europäischen Forschungsrats in der Höhe von 1,5 bis 2,5 Millionen Franken – zu bewerben, ist für sie eine echte Herausforderung. Die ERC Grants bieten nicht nur eine willkommene Finanzierungsquelle, sondern auch eine schöne Anerkennung. Die Schweiz hat hier einen Spitzenplatz. Wenn das wegfällt, werden wir auch für internationale Forscher weniger attraktiv. Sie werden nicht mehr in die Schweiz kommen, um zu forschen und zu unterrichten. Auf Dauer ist das für uns sehr negativ.

Wo orten Sie nach einem Quartal als Präsidentin den grössten Nachholbedarf im Wissenschaftsrat?

Süsstrunk: Dass wir uns einmal persönlich an einem Tisch treffen können. Der Wissenschaftsrat umfasst 15 superintelligente Persönlichkeiten aus verschiedenen Gebieten, die versuchen, gemeinsame Positionen zu erarbeiten, und das ist über Zoom nicht so einfach. Wir sind ein Rat, in dem die Ideen sprudeln. Ideen, die wir dann zusammenfassen und synthetisieren. Über Zoom sprudeln die Ideen aber nun mal nicht so – es landen höchstens ein paar Spritzer auf der Kamera. Uns endlich einmal an einem Tisch treffen zu können, würde uns allen guttun und dem ganzen Rat nützen.

Sie präsidieren nicht nur den Rat, sondern forschen auch an der EPFL in Lausanne. Was steht im Zentrum?

Süsstrunk: Es geht um digitale Bildverarbeitung – um die Frage, wie man ein Bild mit Software verbessern kann. Das hat rein physikalische Grundlagen, weil jede Kamera gewisse Limitationen aufweist, weshalb das Bild restauriert werden muss, um zum Beispiel das Rauschen wegzubringen oder die Auflösung zu erhöhen. Es hat aber auch einen physiologischen Aspekt. Das «schöne» Bild, das am Ende resultieren soll, hat mit der Physik der Szene relativ wenig zu tun. Bevor wir ein Bild wahrnehmen, ist es in unserem Auge und Gehirn schon durch sehr viele Verarbeitungsschritte gegangen. Wir versuchen zu modellieren, was das Auge und das Gehirn tun, damit wir schöne Fotos produzieren können.

Ist es für das Präsidium des Wissenschaftsrats ein Vorteil, Expertin für digitale Bildwissenschaften zu sein?

Süsstrunk: Offen gestanden sind all meine anderen Erfahrungen wohl wichtiger als mein Spezialgebiet. Als Ingenieurin weiss ich zum Beispiel, wie man ein Problem angehen muss, um es lösen zu können. Das bietet sicher einen Vorteil.

Setzen Sie im Alltag das Bild stets über den Ton?

Süsstrunk: Es ist schon so, dass ich vom visuellen Eindruck fasziniert bin. Weil mich das schon immer ausserordentlich interessiert hat, habe ich meine Karriere darauf aufgebaut. Den Ton geniesse ich zwar, er ist für mich aber weniger wichtig. Deshalb spiele ich auch kein Instrument und singe auch nicht. Das käme nicht gut heraus.

Sie forschen, lehren und leiten das wissenschaftliche Beratergremium des Bundesrats. Bleibt daneben noch Zeit für Hobbies?

Süsstrunk: Nein. Ich bin zwar leidenschaftliche Fotografin, mir fehlt aber im Moment die Zeit, Fotografie zu betreiben. Denn Fotografie heisst nicht, dass man einfach abknipst, sondern verlangt volle Zuwendung. Mein Hobby ist es, mit anderen Menschen etwas zu unternehmen. Dank Covid ging das Sozialleben etwas unter, was für meinen Einstieg beim Wissenschaftsrat ein Vorteil war. Es traf sich auch gut, dass ich viele Reisen nach Bern unterlassen musste. Dadurch habe ich Zeit gespart, in der ich mich in die vielen Dossiers einarbeiten konnte.

Sabine Süsstrunk (58) studierte wissenschaftliche Fotografie an der ETH Zürich und doktorierte in Computerwissenschaften an der Universität von East Anglia in Norwich (UK). Die Solothurnerin ist Professorin an der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne, wo sie das Labor für Bilder und visuelle Darstellung an der Fakultät für Computer- und Kommunikationswissenschaften leitet. Seit Anfang Jahr präsidiert sie den Schweizerischen Wissenschaftsrat – eine ausserparlamentarische Kommission, die den Bundesrat in allen Fragen der Forschungs- und Innovationspolitik berät. Sabine Süsstrunk lebt in Lausanne.

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