«Als Chef muss ich zeigen, dass es möglich ist, ein Sabbatical zu nehmen»

Weshalb der BLS-Chef Bernard Guillelmon Führungskräften rät, ein Sabbatical zu nehmen. Er gönnte sich im vergangenen Herbst zehn Wochen lang eine Auszeit und tauchte ab – mit Buckelwalen.

Bernard Guillelmon, CEO beim Bahnunternehmen BLS. (Bild: BLS)

Was heisst für Sie Freiheit?
Bernard Guillelmon: Freiheit ist einer meiner Grundwerte. Ich bin in einem humanistisch-liberalen Haus aufgewachsen. Freiheit ist für mich untrennbar mit Verantwortung verbunden – mit Eigenverantwortung, aber auch mit Verantwortung gegenüber Umwelt und Gesellschaft. Kurz: frei zu sein, verpflichtet.

Haben Sie deshalb im vergangenen Herbst eine Auszeit genommen – weil Sie frei sein wollten?
Ich habe mich immer als freien Geist verstanden, der sich seine Meinung selber bildet und der nicht immer nach den Geboten der Normalität handelt. Ich sehe eine Auszeit eher als Chance, Distanz zu gewinnen und vieles aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Diese beiden Aspekte sind eng miteinander verbunden.

Muss man mutig sein, um sich Freiräume zu schaffen?
Ja, ganz eindeutig. Als Freiheitsdenkender ist man gewissermassen ein Contrarian. Es ist auf jeden Fall einfacher, mit dem Mainstream zu gehen. Aber ich finde die Rolle des Advocatus Diaboli, der bewusst Gegenargumente in die Diskussion einbringt, durchaus spannend. Viele Leute fragen sich, ob ein CEO überhaupt ein Sabbatical beziehen darf. Im Unternehmen BLS haben wir eine klare Vorstellung: Ja, es muss möglich sein, sich im Arbeitsalltag Freiräume zu nehmen. Aber allein schafft man das nicht. Es braucht Weggefährten, die einen unterstützen. Meine Frau war mir bei der Planung des Sabbaticals eine wichtige Stütze. Ohne sie hätte ich den Mut wohl nicht gehabt, immer wieder eine Auszeit zu nehmen.

Wie lange spielten Sie schon mit dem Gedanken, ein Sabbatical zu nehmen?
Schon als ich 2008 in die BLS eingetreten bin, habe ich mir darüber Gedanken gemacht. Davor hatte ich mir ja schon zweimal längere Auszeiten geleistet. Das erste Mal nach meinem Studium an der Insead in Fontainebleau (Fr) – damals war ich mit meiner Frau acht Monate lang unterwegs. Das zweite Mal nutzten wir drei Monate zwischen meiner Anstellung bei den SBB und derjenigen bei der BLS und machten eine erste grosse Reise mit unserem damals drei Jahre alten Sohn. Ich habe diese beiden «Breaks» in unterschiedlicher Form als sehr bereichernd empfunden. Deshalb fand ich es gut, dass wir ein solches Arbeitszeit-Modell bei der BLS auf Stufe oberes Kader einführen konnten. Für mich war klar: Als Chef muss ich mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass es möglich ist, ein Sabbatical zu nehmen. Sonst bleibt diese Möglichkeit ein Versprechen auf dem Papier.

Ihre zehnwöchige Weltreise hat Sie an einen speziellen Ort geführt. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Da müssten Sie spezifizieren, welchen der speziellen Orte Sie meinen (lacht). Im Ernst: Meine Frau und ich reisen sehr gerne. Wir inspirieren uns gegenseitig. Zu Hause führen wir ein Wunschbuch mit Reisezielen. Es gibt wenig Orte auf der Welt, die wir zweimal besucht haben. Ausnahmen sind Orte, die wir unserem Sohn zeigen können oder die uns selbst so beeindruckt haben, dass wir sie gerne nochmals sehen wollen – mit dem Risiko, eine schöne Erinnerung mit der vielleicht veränderten Realität konfrontieren zu müssen. Der Gedanke der Nordostpassage (Seeweg durch das Nordpolarmeer, die Red.) kam uns, als wir vor zwei Jahren in die Antarktis reisten und mit dem damaligen ersten Offizier ins Gespräch kamen. Er schwärmte von dieser Route. Deshalb stand für uns fest: Wenn es machbar ist – wir mussten unseren Sohn beurlauben lassen –, dann tun wir das. Der Rest der Reise ergab sich. Wenn man schon beim 180. Längengrad angekommen ist, sollte man dort entlang weiterreisen. Deshalb haben wir uns die weniger bekannten Inseln des pazifischen Ozeans vorgenommen. Wir besuchten die Marquesas, Vanuatu, Tonga, Samoa, die Salomonen und Papua-Neuguinea.

Welches war denn nun der Höhepunkt Ihrer Reise?
Es gab sehr viele starke und bleibende Eindrücke. Einer der emotional stärksten Momente für die Familie war sicher der Tag, an dem wir auf Tonga mit Buckelwalen schwimmen konnten. Ein paar Meter entfernt von diesen sanften Riesen zu sein, ist überwältigend. Plötzlich machen die Buckelwale eine Bewegung mit der Schwanzflosse – und weg sind sie. Es gab auch eine lustige Erinnerung.

Erzählen Sie.
Mein Sohn hat sich lustig über mich gemacht, weil ich beim Schnorcheln einem Buckelwal folgte. Der Wal tauchte elegant unter dem Schiff durch, ich stiess mit dem Kopf gegen den Schiffsrumpf.

Erlebten Sie auf Ihrer Reise einen Moment, der Sie traurig gestimmt hat?
Ich glaube, Trauer ist der falsche Ausdruck für das, was ich während und nach der Reise empfunden habe. Mir wurde insbesondere in der Arktis mit den vielen vor sich her rostenden Ölfässern, aber auch auf den zahlreichen Inseln, die wirtschaftlich weniger entwickelt sind, bewusst, wie kurzsichtig wir Menschen agieren. Wir sind daran, unseren Planeten zu zerstören und merken es nicht, weil wir kurzfristig andere Interessen verfolgen, oder die Auswirkungen so langfristig sind, dass wir es nicht wahrnehmen können. Diesbezüglich bin ich heute eher noch überzeugter als zuvor: Wir müssen Verantwortung übernehmen und uns für nachhaltige Lösungen einsetzen – nicht verzweifeln, sondern handeln.

Ihr Sohn hat in seinem Blog northeastbysouthwestblog.wordpress.com
mit viel Liebe zum Detail über aussergewöhnliche Ereignisse der Reise berichtet. War das virtuelle Tagebuch Ihres Sohnes der einzige Draht zur Aussenwelt?

Ja, das kann man so sagen. Für unseren Sohn war es ab und zu frustrierend, wenn es keinen Netzempfang gab. Dadurch konnte er seine Tagebucheinträge nicht sofort posten. Wir hatten unsere Smartphones dabei. So konnten wir immer wieder mal die Berner Zeitung online lesen. Wegen der Zeitverschiebung auf Tonga haben wir einmal im Live-Ticker den SCB-Match während des Frühstücks verfolgen können. Aber sonst waren wir wirklich «weit weg» von Europa.

Haben Sie sich während des Sabbaticals strikte Regeln auferlegt – wie kein Lebenszeichen von sich zu geben? 
Meine Mitarbeitenden hatten mir angedroht, dass jede Meldung von mir einen Tageseinsatz bei der Fahrzeugreinigung zur Folge haben würde (schmunzelt). Meine E-Mails hatte ich also abgeschaltet. Ich habe mich in der Tat nur einmal gemeldet, weil ich gesehen hatte, dass eine wichtige Person versucht hatte, mich zu erreichen. Dies habe ich per SMS meinem Stellvertreter mitgeteilt. Ich bat ihn, diese Person zu kontaktieren. Sonst aber hat die BLS 69 Tage lang nichts von mir gehört. Unser Kontakt zur Aussenwelt war auf einige private Mails und den Blog beschränkt.

Wie lautete Ihre Abwesenheitsnotiz für eingehende E-Mails?
Ich habe das nüchtern formuliert: «Ich bin von … bis … in einem Sabbatical. Dringende Anfragen richten Sie bitte an meinen Stellvertreter, Herr X oder an meine Assistentin, oder melden Sie sich wieder nach dem … bei mir. Ihre Mail wird nicht gelesen und automatisch gelöscht.» Effektiv habe ich alle CC-Mails automatisch löschen lassen. Die direkt an mich adressierten Mails hingegen wurden von meiner Assistentin bearbeitet. So ging keine Terminanfrage verloren.

Wie haben sich der Verwaltungsrat und die acht anderen Mitglieder der Geschäftsleitung verhalten, als sie erstmals von Ihren Plänen hörten?
Bei der BLS gehört das Sabbatical zum Standard in den Anstellungsbedingungen des oberen Kaders. Es ist eine BLS-Massnahme und ein Ansporn für Kadermitarbeiter. Denn ihre Überstunden können wir nicht mit zusätzlichen Ferien abgelten. Im Unternehmen war ich nicht der erste, der von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hat. Ich war jedoch der operative Chef. Das machte die Sache speziell. Ich habe frühzeitig über meine Pläne informiert und dargelegt, wie ich das Unternehmen während meiner Abwesenheit zu organisieren gedenke. Ich hatte ja acht Jahre Zeit, um ein kompetentes Team aufzubauen. Mein Stellvertreter geniesst ein sehr hohes Vertrauen im Verwaltungsrat.

Haben Sie für Ihr Sabbatical einen Coach beansprucht?
Das ist eine gute Frage. Für mich ist Selbstreflexion etwas sehr Wichtiges. Deshalb führe ich zurzeit alle zwei Monate ein Gespräch mit einem Coach. Dieser Coach zeigte mir die Möglichkeit auf, den Teamkollegen vor meiner Abreise eine Botschaft zu vermitteln.

Welche Botschaft war das?
Ich hielt der Geschäftsleitung eine Art Bergpredigt. Dabei habe ich den GL-Mitgliedern mein Vertrauen ausgesprochen. Ich habe ihnen ein Eishockey-Bild gezeigt, auf dem der SC-Bern-Stürmer Tristan Scherwey gerade ein Tor erzielt. Meine Botschaft lautete unmissverständlich: Ihr könnt die Tore selber schiessen! Dann habe ich Geschäfte aufgelistet, bei welchen die GL-Mitglieder mit der Entscheidung zuwarten mussten, bis ich zurückgekehrt bin. Bei anderen Geschäften gab ich entweder die Stossrichtung vor oder erteilte den Teamkollegen die Carte blanche. Zuletzt habe ich ihnen noch mein Worst- und Best-Case-Szenario dargelegt. Das war’s.

Versuchte man Sie von Ihren Plänen abzuhalten?
Ich habe diesbezüglich keine kritischen Stimmen gehört. Eher das Gegenteil war der Fall: «Wenn Du dies nicht tust, versteht jeder, dass ein Sabbatical ‹von oben› nicht getragen wird.»

Wie liefen die Vorbereitungen – und wie lange dauerten sie?
Wir haben uns in der Familie mindestens ein Jahr vorher Überlegungen zu den Reisezielen gemacht. Wie immer hatten wir viel zu viele davon. Beim Lesen von Reiseliteratur schränkten wir diese Ziele nach und nach ein. Drei Monate vor der Reise machten wir eine detailliertere Planung mit Hilfe einer Excel-Tabelle. Eigentlich wollten wir die ganze Reise selber buchen, die Zeit lief uns aber davon. Deshalb übergaben wir die Detailplanung und die Abstimmung der Flüge einer Reiseagentur.

Haben Sie Rücksicht auf die laufenden Geschäfte genommen, als Sie Ihre kreative Pause planten?
Nein. Ich musste meine Absenz ja anderthalb Jahre zum Voraus planen, damit sie überhaupt stattfinden konnte. Im «Worst-Of-Worst-Case» wäre ich ja irgendwie schon erreichbar gewesen.

Wie lange brauchten Sie nach der Rückkehr, um wieder im BLS-Modus zu arbeiten?
Einerseits ging das sehr schnell. Ich konnte ja quasi laufende Geschäfte wieder übernehmen. Andererseits versuche ich, die Distanz und die Gelassenheit, die ich mitgenommen habe, beizubehalten. Aber eines habe ich festgestellt: Ich bin mit einer unglaublichen Energie und grosser Motivation zurückgekehrt – das bringt letztlich auch dem Unternehmen einen Mehrwert.

Haben Sie nach Ihrer Rückkehr mit den GL-Mitgliedern Gespräche geführt, um herauszufinden, ob sich während Ihrer Abwesenheit etwas verändert hat?
Ziel meines Sabbaticals war es auch, dass alle Kadermitarbeiter Erkenntnisse gewinnen. Deshalb habe ich nach meiner Rückkehr mit jedem GL-Mitglied ein Gespräch geführt. Ich stellte vier Kernfragen: Was lief gut? Was sollten wir beibehalten? Was lief weniger gut? Wie hast du dich selbst weiterentwickelt? Nach den aufschlussreichen Gesprächen haben wir einiges in der Art der Zusammenarbeit angepasst. Die GL-Mitglieder sind beispielsweise noch autonomer geworden, um ihre Probleme untereinander zu lösen. Während des Sabbaticals ging das ja auch. Festgestellt wurde auch, dass die Profilierungssucht abgenommen hat. Der Chef, dem man es hätte zeigen wollen, war ja nicht im Haus.

Welches Fazit ziehen Sie für das Unternehmen?
Ich habe festgestellt, dass das Unternehmen auch ohne mich funktioniert. Keiner ist unersetzbar. Eigentlich weiss jeder, was zu tun ist. Damit kann sich das obere Kader umso mehr um wirklich Essentielles kümmern und anderes noch konsequenter delegieren. Wir können also noch mehr die Zusammenhänge besprechen, die Konsequenzen von Entscheiden hinterfragen, sicherstellen, dass wir im Gesamtsystem denken et cetera. Das erachte ich in der Komplexität der heutigen Welt als einen grossen Vorteil.

Welches Fazit ziehen Sie für sich persönlich?
Für mich selbst war es eine grossartige Chance, Distanz zu gewinnen. Ich habe zwei Sachen mitgenommen. Erstens: Ich bin gelassener geworden, rege mich viel weniger über gewisse Sachen auf, kann besser Distanz wahren und mir überlegen, ob dies relevant ist oder nicht. Zweitens: Wir verstehen unsere Welt als System eigentlich nicht. Ich interpretiere deshalb unsere Verantwortung darin, die Konsequenzen unseres Handelns noch klarer zu antizipieren, um verantwortungsvoll agieren zu können.

Können Sie anderen Führungskräften eine Auszeit empfehlen?
Ich bin überzeugt, dass dies auf allen Stufen für Mensch und Unternehmen ein Vorteil wäre. Wir versuchen bei der BLS neuerdings auch, unseren Mitarbeitenden entweder vermehrt unbezahlten Urlaub zu geben oder ihnen zu ermöglichen, Urlaub zu kaufen. Damit weiten wir dieses Modell aus. Ich selber animiere alle meine Führungskräfte, die Auszeit zu nehmen – wenn möglich nicht die minimal vorgegebenen acht Wochen, sondern gleich eine längere Zeit. Man braucht drei bis vier Wochen, bis man im Sabbatical-Modus ist. Je länger, umso wirkungsvoller kann dieses Timeout sein.

Kennen Sie andere CEOs, die ein Sabbatical genommen haben?
Nein, ich kenne niemanden. Meine Annahme ist, dass dies vor allem mit dem überhöhten Ego des CEO zusammenhängt, vielleicht auch mit dessen Ängsten, während der Abwesenheit nicht mehr alles unter Kontrolle zu haben. Wer zehn Wochen lang ein Sabbatical bezieht, akzeptiert, dass er zehn Wochen im Betrieb nichts mehr zu sagen hat. Das erfordert Mut und Vertrauen ins Team.

Wurden Sie inzwischen von einem anderen CEO auf Ihr Sabbatical angesprochen?
Nein. Aber die amtierende Bundespräsidentin sagte mir kürzlich sinngemäss: «Herr Guillelmon. Ich finde das super, was sie gemacht haben. Leider kann ich mir das in meiner Rolle nicht leisten.» (lacht herzhaft)

Gespräch: Thomas Wälti und Pascal Ihle

Bernard Guillelmon (50) ist seit 2008 CEO der BLS AG mit Sitz in Bern. Zuvor war der Waadtländer stellvertretender Leiter Infrastruktur der SBB. Guillelmon präsidiert seit 2016 das European Management Committee und die Regional Assembly des Internationalen Eisenbahnverbands UIC mit Sitz in Paris. Er ist verheiratet und hat einen Sohn. Mit seiner Familie wohnt der kulturinteressierte Cellist in Bern. Bernard Guillelmon hat Ingenieurwissenschaften/Mikrotechnik an der EPFL Lausanne studiert und besitzt einen Master of Business Administration, kurz MBA (Insead, Fontainebleau).

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