Plädoyer für den weltoffenen Kleinstaat
Konrad Hummler und Franz Jaeger geben Ende Juni ein Buch über die Schweiz heraus. Sie wollen eine Identitätsdebatte anstossen. Weshalb verraten sie im ersten Teil des influence-Gesprächs.
Konrad Hummler und Franz Jaeger geben Ende Juni ein Buch über die Schweiz heraus. Sie wollen eine Identitätsdebatte anstossen. Weshalb verraten sie im ersten Teil des influence-Gesprächs.
Konrad Hummler (links) und Franz Jaeger. (Bild: influence)
Sie geben ein Buch über den Kleinstaat heraus. Warum ausgerechnet jetzt?
Franz Jaeger: Das Thema Kleinstaat hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten in der weltpolitischen und wissenschaftlichen Diskussion kaum eine Rolle gespielt. Der Kleinstaat wurde höchstens als Auslaufmodell belächelt. In einer zusehends vernetzten und globalisierten Welt verliere er laufend an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung und sei den grossen Herausforderungen nicht gewachsen, lautet der Tenor. Es ist aber vollkommen anders rausgekommen. Die Erfolgsfaktoren von Kleinstaaten sind immer deutlicher zutage getreten. Man denke an Luxembourg, Singapur, an Island oder Irland und wie letztere die Finanz- und Wirtschaftskrise aus eigenem Antrieb bewältigt haben – und natürlich an die Schweiz.
Welches sind diese Erfolgsfaktoren?
Franz Jaeger: Neben erfolgreichen ökonomischen Strukturen spielen die politischen, demokratischen und institutionellen eine wesentliche Rolle. Der beste Überbegriff ist wohl die Flexibilität: Ein Kleinstaat hat kürzere Entscheidungswege, kann flexibler mit verschiedenen Optionen umgehen und entscheiden. Der Kleinstaat hat ökonomische Voraussetzungen, die es ihm ermöglichen, in einer globalisierten Welt eher zu den Gewinnern zu gehören als zu den Verlierern. Anhand der Aussenhandelszahlen weisen wir nach, dass der Öffnungsgrad eines Landes zunimmt, je kleiner es ist. Für uns ist klar, dass Kleinstaaten in einer globalisierten Welt ökonomisch im Vorteil sind. Das haben wir empirisch belegt.
Das hört sich nach einem Programm an. Welches Ziel verfolgen Sie?
Konrad Hummler: Die Welt verändert sich, und zwar fundamental. Wir stellen fest, dass auf internationaler Ebene die einzelnen Staaten ihre Interessen direkter wahrnehmen. Die Welt verabschiedet sich von einem übergeordneten, globalen Interesse und wendet sich regionalorientierten Interessen zu. Das akzentuiert sich um uns herum mit dem Brexit und den national ausgerichteten Bürgerbewegungen. Offensichtlich befindet sich die Welt im Umbruch, und deshalb scheint es uns wichtig, dass wir eine Debatte über Prinzipien führen.
Weshalb?
Konrad Hummler: Nur mit Prinzipien kann man einen Umbruch bewältigen. Wir wissen zum Beispiel nicht, wo Europa in fünf Jahren stehen wird. Deshalb ist es wichtig, dass sich die Schweiz folgende Fragen stellt: Wer sind wir eigentlich? Welches sind unsere Stärken und Schwächen? In welchen Bereichen ist unser Land gefährdet? Und wie können wir uns positionieren?
Sie plädieren für die Regionalisierung, für eine Rückkehr zur Kleinräumigkeit. Wie definieren Sie den Kleinstaat?
Franz Jaeger: Das ist keine einfache Antwort. Nicht einmal die OECD verfügt über eine klare Definition. Für uns sind folgende Faktoren ausschlaggebend: die Grösse, der Urbanisierungsgrad und die Bevölkerungsdichte.
Konrad Hummler: Zum Kleinstaat gehören auch die Eigenständigkeit und die Offenheit. Ein Kleinstaat kann nie eine abgeschottete Insel sein. Ohne Austausch mit anderen gibt er seine Eigenständigkeit auf. Viele verstehen nicht, dass Eigenständigkeit und Offenheit sich gegenseitig bedingen. Mir gefällt die Idee einer global orientierten Plattform, die ihre Vorteile ausspielt, wesentlich besser. Die Schweiz ist derart ideal positioniert mit ihrer Vielfalt an Kulturen, Mentalitäten und Sprachen, der Tradition der weltweiten Handels- und industriellen Tätigkeit und der geographischen Lage – diese Trümpfe gilt es noch besser auszuspielen.
Sie könnten mit dem Postulat des Kleinstaates jedoch Applaus von der falschen politischen Seite kriegen.
Franz Jaeger: Die Affinität zum Kleinstaat ist überhaupt keine nationalistische oder völkische Idee. Wir plädieren für Offenheit, denn nur so können wir souverän bleiben. Allerdings bedeutet Offenheit immer auch Wettbewerb. Deshalb ist man als Kleinstaat gezwungen, Alleinstellungsmerkmale zu entwickeln. Wenn man uns nun die gleichen Steuer- oder Sozialsysteme vorschreibt, kann man sich gar nicht mehr differenzieren. Und diese Tendenz ist in Europa ausgeprägt.
Die Erfolgsfaktoren, die Sie beschreiben, sind nicht neu. Die Schweiz funktioniert schon seit 150 Jahren als erfolgreicher Kleinstaat. Deshalb die Frage nochmals: Weshalb publizieren Sie Ihr Buch jetzt?
Franz Jaeger: Es gibt immer noch genügend Leute, die nicht glauben, dass ein Kleinstaat überleben kann.
Welche politische Debatte möchten Sie anstossen?
Konrad Hummler: Im Grunde eine Identitätsdebatte. Was ist die Schweiz? Warum sind wir so stark? Weshalb dürfen wir so viel Freude an der Schweiz haben? Wir müssen viel mehr das halbvolle Glas analysieren, anstatt uns auf das halbleere zu konzentrieren.
Das Flüchtlingsthema ist ein internationales Problem, genauso wie die Klimaerwärmung oder Cyberattacken, welche ein Kleinstaat nicht im Alleingang lösen kann.
Konrad Hummler: Deshalb sagen wir, dass die Offenheit und der Austausch mit der Umwelt gerade für einen Kleinstaat essenziell sind. Es gibt auch übergeordnete Fragen im Sicherheitsbereich, bei denen eine internationale Zusammenarbeit erforderlich ist. Aber weshalb braucht es einen grossen Verband wie die EU? Man kann diese Fragen auch thematisch, funktionsorientiert angehen. Wir sind überzeugt, dass in jenen Themen, in denen die Gefahr des Trittbrettfahrens besteht, der Kleinstaat seinen Beitrag leisten soll. Darin unterscheiden wir uns klar von nationalkonservativen Kräften.
Franz Jaeger: Ich kann mir sehr gut Lösungen vorstellen, wie sie in der Schweiz seit je praktiziert werden. Es gibt gewisse gemeinsame Probleme, welche Kantone untereinander lösen. Das kann auf globaler oder kontinentaler Ebene ähnlich funktionieren.
Konrad Hummler: Schauen Sie doch, welche Probleme die EU löst. Es geht fast nur um den Binnenmarkt. Doch wo sind die Antworten auf die wichtigen Dossiers Sicherheitspolitik und Flüchtlinge? Gemeinschaftliche Lösungen gibt es nicht.
Gespräch: Pascal Ihle und Andreas Hugi
Das Buch, das Konrad Hummler und Franz Jaeger gemeinsam herausgeben, heisst «Kleinstaat Schweiz – Auslauf- oder Erfolgsmodell?» und erscheint am 21. Juni im Verlag NZZ Libro.
Im zweiten Teil des Gesprächs geht es um das Verhältnis der Schweiz zu Europa: «Wir wollen aufzeigen, dass Europa auf dem falschen Weg ist»