«Eine extrem wichtige Errungenschaft»

Thomas Christen, im Bundesamt für Gesundheit für die Krankenversicherung zuständig, verteidigt das Sozialwerk trotz steigender Prämien. Wie ein Velo brauche es Bewegung und Gleichgewicht.

Thomas Christen (50) ist in St. Gallen geboren und aufgewachsen und hat dort Rechtswissenschaft studiert. Seit 2017 ist Christen im Bundesamt für Gesundheit (BAG) als stellvertretender Direktor für die Kranken- und Unfallversicherung zuständig, Ende Jahr gibt er sein Amt ab. (zvg)

Thomas Christen, was heisst für Sie Macht*?
Thomas Christen: Der Begriff Macht impliziert, dass man etwas auch gegen den Willen anderer ganz allein durchdrücken kann. Deshalb gefällt mir der Begriff Einfluss viel besser. Da wird schon aus dem Wort klar, dass man etwas einfliessen lassen kann, aber nicht allein entscheidet.

Sie waren Generalsekretär einer NGO, einer Partei, persönlicher Mitarbeiter eines Bundesrats und sind jetzt beim Bundesamt für Gesundheit BAG für die Krankenversicherung zuständig. An welcher dieser Positionen hatten Sie am meisten Einfluss?
Christen: Ich hatte immer das Privileg, mich für Inhalte einsetzen zu können, die mir am Herzen liegen. Wenn man etwas verändern möchte, braucht man natürlich auch Einfluss. In all meinen Positionen konnte ich in den jeweiligen Bereichen einen gewissen Einfluss ausüben. Aber mir war auch immer klar, dass man nur mit anderen zusammen vorwärtskommt. Insbesondere jetzt, in der Verwaltung, bin ich Teil eines grossen Ganzen.

Als SP-Generalsekretär konnten Sie eher selber schalten und walten?
Christen: Man ist dort natürlich unabhängiger. In der aktuellen Position schätze ich insbesondere, dass ich so nahe an den Themen und Problemen der Bevölkerung arbeiten und dazu beitragen kann, etwas zu bewegen.

Zuerst stellten Sie Forderungen auf, dann mussten Sie diese koordinieren und schliesslich umsetzen. Was hat Ihnen am meisten Spass gemacht?
Christen: Es sind alles Aufgaben, die Spass machen. In der Verwaltung geht es selbstverständlich in erster Linie ums Umsetzen von Entscheiden von Regierung und Parlament. Es geht aber auch um ein Vorbereiten und Vorschlagen möglicher neuer Lösungen.

Seit neun Jahren beschäftigen Sie sich mit der Krankenversicherung. Ist das eine derartige Monsteraufgabe, wie es von aussen betrachtet scheint?
Christen: Grundsätzlich hat die Krankenversicherung ein grosses Ziel, das man so zusammenfassen kann: Wenn jemand krank wird, soll er oder sie deswegen nicht arm werden, und wenn jemand arm ist, soll sie oder er deswegen nicht krank werden oder krank bleiben. Dieses Versprechen, das bei der Einführung der Krankenversicherung vor 30 Jahren abgegeben wurde, konnte man halten.

Wirklich?
Christen: Ja. Der Hauptfokus lag damals darauf, dass alle einen gleichberechtigten Zugang zur medizinischen Grundversorgung haben sollten und gleichzeitig das Sozialwerk finanzierbar bleiben sollte. Das ist der einfache Grundgedanke. Aber selbstverständlich geht es um viel: Es geht um über 50 Milliarden Franken, die wir pro Jahr für die Krankenversicherung ausgeben, es geht um mehrere Hunderttausend Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, und es geht um eines der emotionalsten und wichtigsten Themen, nämlich um die Gesundheit. Deshalb ist klar, dass viele verschiedene Interessen vorhanden sind und das Ganze etwas komplex erscheint.

Als Bürgerin oder Bürger hat man den Eindruck, man müsse für immer weniger Leistungen immer mehr zahlen. Teilen Sie diese Ansicht?
Christen: Nein. Tatsächlich haben wir auf der einen Seite immer höhere Prämien. Das ist eine zu grosse Belastung für viele Haushalte. Darum ist es eine der zentralen Herausforderungen, die Kosten und die Prämien im Griff zu behalten. Auf der anderen Seite bekommt man fürs Geld auch immer mehr Leistungen. Die medizinische Innovation, neue Medikamente, neue Behandlungen, ein schnellerer Zugang zu diesen Behandlungen: All dies hat sich immer weiterentwickelt. Es ist aber zentral, dass das Gleichgewicht zwischen einem guten Zugang zu diesen Leistungen und der Finanzierbarkeit immer wieder neu gefunden wird.

Ist die Krankenversicherung deshalb eine Dauerbaustelle?
Christen: Ja. Ich habe sie auch schon mit einem Velo verglichen. Nur wenn sie in Bewegung bleibt und das richtige Gleichgewicht zwischen dem Zugang und der Finanzierbarkeit hält, kommt sie vorwärts.

Was hat in den letzten Jahren am meisten gebracht, wo wurden tatsächlich Fortschritte erzielt?
Christen: Wir kommen jetzt gerade aus einer Phase, in der das Parlament, aber auch das Volk ganz wichtige Reformen verabschiedet haben: die einheitliche Finanzierung, Kostenziele, mehr Gelder für die Prämienverbilligung, aber auch ein neues Tarifwerk. Ich glaube, die Krankenversicherung ist mit diesen Reformen gut aufgestellt. Es muss jetzt aber auch gelingen, dass die Reformen gut umgesetzt werden.

Wenn man den Aufschrei hört, zum Beispiel der Kinderspitäler wegen der neuen Tarife für die Unfallversicherung, zweifelt man daran.
Christen: Ohne konkret auf dieses Beispiel einzugehen, muss man sich einfach bewusst sein: Es geht um viel Geld. Es geht um viele Menschen, um ein wichtiges Anliegen. Deshalb sind sehr viele Interessen vorhanden, und getroffene Entscheide sind nie zur Zufriedenheit aller. Und meistens äussern sich dann jene, die weniger zufrieden sind, lauter als die Zufriedenen. Deshalb kann der Eindruck entstehen, es gebe viele Probleme. Ich bin aber überzeugt: Insgesamt ist die Krankenversicherung gut aufgestellt.

Im Rückblick sieht man aber Reformen und politische Entscheide, über deren Sinn und Unsinn man streiten kann. War es zum Beispiel ein Fehler, die Ärztezahl künstlich zu reduzieren? Jetzt haben wir zu wenige Medizinerinnen und Mediziner und müssen sie aus dem Ausland importieren, mit allen sprachlichen und sonstigen Problemen, die das mit sich bringt.
Christen: Die Thematik des Fachkräftemangels, etwa dass wir weiterhin genügend Ärztinnen und Ärzte haben und auch die hohe Qualität sichergestellt bleibt, halte ich tatsächlich für eine der ganz grossen Herausforderungen. Es darf bei der Zulassungsfrage auch nie um einen Stopp von allen im gleichen Masse gehen. Das wäre ein falscher Ansatz.

Genau das hat man aber vor Jahren getan.
Christen: Jetzt ist das schon lange kein Thema mehr. Es ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass es immer wieder Ungleichgewichte gibt. Dass es in gewissen Gebieten zu viele Spezialisten hat und dafür in anderen Gebieten zu wenige Grundversorger. Dass die Kantone Einfluss nehmen möchten, wenn die Dichte an gewissen Spezialisten sehr hoch ist, finde ich richtig.

Hat man das Sparpotenzial der Generika zu hoch angesetzt?
Christen: Ich glaube nicht. Nachdem wir festgestellt hatten, dass auf dem Schweizer Markt relativ wenige Generika vorhanden sind, gab es verschiedene Massnahmen, um diese zu fördern – zuletzt vor zwei Jahren. Jetzt stellen wir fest, dass der Anteil der Generika stetig wächst. Das ist erfreulich und ein wichtiger Ansatz, um das Kostenwachstum zu dämpfen. Aber selbstverständlich betrifft es nur einen Teil der Medikamente. Von den innovativen und oft sehr teuren Medikamenten gibt es keine Generika.

Sind die Fallpauschalen wirklich das Gelbe vom Ei?
Christen: Man hat sich einiges davon versprochen und ich glaube, dass sie in den letzten Jahren zu einer Stabilisierung der Kosten im stationären Bereich beigetragen haben. Die Befürchtungen, die es bei der Einführung der Fallpauschalen gab, sind zum Glück nicht eingetreten. Man muss aber sagen: Jedes Tarifsystem hat Fehlanreize, es gibt keines, das ohne auskäme. Grundsätzlich ist es dennoch richtig, dass man in Richtung Pauschale geht und nicht jede Leistung einzeln tarifiert, was jetzt auch im ambulanten Bereich geschieht.

Jeder Kanton bestimmt weiterhin seine Spitalinfrastruktur – und wenn ein Regierungsmitglied daran rüttelt, droht ihm die Abwahl. Ist die Politik mit dem staatlich administrierten Milliardenmarkt überfordert?
Christen: In der Krankenversicherung ist der Einfluss verteilt zwischen Bund, Kantonen und Akteuren. Die Kantone spielen also eine wichtige Rolle. Innerhalb der einzelnen Kantone funktioniert die Spitalplanung auch gut. Aber es braucht noch eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Kantonen, es braucht mehr überregionale Planung der Spitalinfrastrukturen. Da gibt es tatsächlich noch einiges Verbesserungspotenzial.

Ganz grundsätzlich: Ist das Krankenversicherungsgesetz mit dem Wettbewerbsgedanken wirklich der richtige Ansatz, oder wäre eine Einheitskasse, wie sie die SP immer mal wieder fordert, doch besser?
Christen: Wir kennen in der Krankenversicherung den regulierten Wettbewerb, also Markt und Staat. Grundsätzlich hat sich dieses Gleichgewicht bewährt. Die Zahl der Krankenkassen ist in den letzten Jahren stark reduziert worden. Zu Beginn gab es über 100, heute sind es noch etwas mehr als 30, davon etwa zehn grosse. Es hat also eine Konsolidierung stattgefunden. Das System bringt auch einen gewissen Innovationswettbewerb zwischen den Versicherern. Aber selbstverständlich haben beide Systeme Vor- und Nachteile. Die Bevölkerung hat den Wechsel zu einer Einheitskasse bisher abgelehnt.

Frustriert es Sie nicht, dass selbst der kleinste Reformschritt nur mühsam umzusetzen ist und der Berg am Ende meist nur eine Maus gebiert?
Christen: Gesundheitspolitik ist – wie die Politik generell – ein hartes Bohren von dicken Brettern. Man muss hartnäckig sein und lange dranbleiben. Wenn man aber etwas Abstand nimmt und schaut, was man sich vor 30 Jahren von der Krankenversicherung versprochen hatte und was man heute hat, glaube ich wirklich, dass sie eine extrem wichtige Errungenschaft ist, die ihr Hauptversprechen einlöst. Natürlich geht vieles jeweils ein bisschen länger, als man es sich selber wünschen würde, aber das gehört zu unserem politischen System. Und sicher braucht es einen breiten Rücken, weil meistens jene, die mit einem Entscheid nicht zufrieden sind, etwas lauter sind als die Zufriedenen. Aber das gehört zum Job. Es gibt also keinen Grund, zu resignieren.

Sie hören Ende Jahr also nicht aus Frust auf?
Christen: Nein, gar nicht. Ich habe immer noch die Leidenschaft für das Gesundheitswesen und möchte als Selbstständiger in diesem Bereich tätig bleiben.

Wer darf Ihnen privat widersprechen?
Christen: Grundsätzlich dürfen das alle, weil ich es gerne habe, wenn ich aufgrund eines Widerspruchs inhaltlich weiterkomme. Ich scheue die inhaltliche Auseinandersetzung privat ebenso wie auch beruflich nicht. Deshalb darf man mir widersprechen und tut es auch.

Was machen Sie in Ihrer Freizeit – überlegen, zu welcher Kasse Sie vor Ende November wechseln wollen?
Christen: Nein, im Gegenteil. Ich muss zugeben: Beim Wechseln von Kassen bin ich ziemlich träge. Ich glaube, ich habe bei der Arbeit schon genug mit diesen zu tun. Die Freizeit verbringe ich dann lieber mit der Familie – oder mit Schwimmen und Velofahren.

Thomas Christen (50) ist in St. Gallen geboren und aufgewachsen und hat dort Rechtswissenschaft studiert. Ins Berufsleben stieg er als Generalsekretär der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs) ein. 2002 wechselte er zur SP, wo er unter anderem als Kommunikationschef und Generalsekretär arbeitete. Danach folgten fünf Jahre als persönlicher Mitarbeiter von Bundesrat Alain Berset. Seit 2017 ist Christen im Bundesamt für Gesundheit (BAG) als stellvertretender Direktor für die Kranken- und Unfallversicherung zuständig, Ende Jahr gibt er sein Amt ab. Der Vater von zwei Söhnen im Alter von 14 und 27 Jahren lebt mit seiner Partnerin, der SP-Politikerin Ursula Wyss, und dem jüngeren Sohn in Bern.

*In der Schaltzentrale der Macht
Sie sitzen auf entscheidenden Positionen, aber selten im Rampenlicht: Generalsekretäre von Parteien oder eidgenössischen Departementen, Geschäftsführerinnen von Verbänden oder Direktoren von Nichtregierungsorganisationen. Braucht die Schweiz politische Lösungen, helfen sie diese zu entwickeln. In regelmässigen Abständen wollen wir im Gespräch die Schaltzentralen der Macht ausleuchten.

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