«So wird man Bundesratssprecher»
Der frühere Vizekanzler Oswald Sigg erklärt, welche Anforderungen der Regierungssprecher erfüllen muss – und warum er in der Schweiz eigentlich anders heissen sollte.
Der frühere Vizekanzler Oswald Sigg erklärt, welche Anforderungen der Regierungssprecher erfüllen muss – und warum er in der Schweiz eigentlich anders heissen sollte.
Erstaunt es Sie als ehemaligen Bundesratssprecher, dass der aktuelle Amtsinhaber Andrea Arcidiacono schon nach einem halben Jahr das Handtuch wirft?
Oswald Sigg: Es erstaunt mich schon, denn es ist nicht üblich. Selber habe ich diesen Job zwar nur vier Jahre lang ausgeübt. Meine beiden Vorgänger Achille Casanova und Walter Buser aber waren jahrzehntelang Vizekanzler, wie die Funktion damals noch hiess – Bundesratssprecher kam erst später hinzu. Deshalb nehme ich an, dass es sich um ein persönliches Problem handelt, nicht um ein amtliches.
Ihr Nachfolger André Simonazzi war auch 15 Jahre lang die Stimme des Bundesrats, bis er im Amt verstarb. Warum sind Sie nur vier Jahre geblieben?
Sigg: Dazu gibt es eine kurze Geschichte, die aus dem Bundesratszimmer kolportiert wird: Als mein Vorgänger nach sehr vielen Jahren pensioniert wurde, meldeten sich bei der Bundeskanzlei etwa ein Dutzend jüngere und gutbürgerliche Kandidatinnen und Kandidaten – ich war damals schon 61 Jahre alt und SP-Mitglied. An der Sitzung, an welcher der Bundesrat die Wahl des Regierungssprechers besprach, meldete sich sogleich Christoph Blocher zu Wort und sagte nur: «Wir nehmen den Sigg, denn der bleibt höchstens vier Jahre.» So wird man Bundesratssprecher.
Sie waren zuvor Kommunikationschef in mehreren Departementen und haben den Stab von UVEK-Chef Moritz Leuenberger geleitet. Sind die Anforderungen an den Vizekanzler beziehungsweise Bundesratssprecher besonders hoch?
Sigg: Dazu gibt es ein Pflichtenheft wie für alle Chefbeamten. Was darin steht, ist nicht per se unerfüllbar. Es kommt nicht zuletzt darauf an, wie der Bundeskanzler den Bundesratssprecher einsetzt. Seit der Amtszeit von Bundeskanzler Karl Huber gehört dazu, dass der Vizekanzler das Protokoll schreibt. Das ist eine sehr anspruchsvolle Tätigkeit, die nicht jeder einfach so kann.
Ist das nicht die Aufgabe des anderen Vizekanzlers?
Sigg: Zu meiner Zeit war der andere Vizekanzler zuständig für die Protokollierung der Bundesratsbeschlüsse, nicht für das Sitzungsprotokoll. In letzteres schreibt man, was die einzelnen Mitglieder des Bundesrats zu jedem Traktandum in etwa gesagt haben. Anhand der Protokolle kann man nachverfolgen, wie es zu einem Beschluss gekommen ist. Meines Wissens hat sich das nicht geändert.
Gibt es nicht auch Bundesratssitzungen, die bewusst nicht protokolliert werden?
Sigg: Auch da kann ich nur etwas über meine Zeit als Bundesratssprecher sagen. Da gab es ganz selten Sitzungen, bei denen der Bundeskanzler und die Vizekanzler nicht dabei waren. Wie zum Beispiel die Sitzungen nach den Wahlen, bei denen die Departemente verteilt wurden, oder wenn ein besonders heikles Geschäft diskutiert wurde.
US-Präsident Donald Trump hat mit Karoline Leavitt eine 27-jährige Sprecherin. Macht das Sinn?
Sigg: Absolut. Das ist etwas vom Wenigen, was Trump in seiner Situation richtig macht. Alte Füchse in der Kommunikation lassen sich meist nicht sagen, wie man kommuniziert, sondern sagen selber, was Sache ist – auch wenn es nicht der Fall ist. Eine junge Sprecherin, die den allgewaltigen Chef vielleicht auch noch anhimmelt, ist da viel besser. Die sagt haargenau das, was der Chef gesagt hat, ohne auch nur ein Komma zu ändern. So betrachtet hat Trump für einmal alles richtig gemacht.
Welches ist die grösste Herausforderung, die der Regierungssprecher zu meistern hat?
Sigg: Das Wort «Herausforderung» mag ich nicht so. Die diffizilste Aufgabe ist je nach Zusammensetzung des Bundesrats der Kontakt zu einzelnen Mitgliedern. Wobei der Bundesratssprecher bei uns nicht Regierungssprecher ist, wie Willi Ritschard zu sagen pflegte. Denn die Regierung ist in der Schweiz nicht der Bundesrat, sondern immer das Volk. Das Volk sagt Ja oder Nein zu den Beschlüssen von Bundesrat und Parlament, also ist das Volk die Regierung. So betrachtet ist es sehr wichtig, dass der Bundesratssprecher, wie es die Berufsbezeichnung sagt, sich stets bewusst ist, dass all das, was er sagt, nicht in seinem persönlichen Namen gesagt ist, sondern für den ganzen Bundesrat gilt.
Ist das so schwierig?
Sigg: Es ist anspruchsvoll, weil der Bundesratssprecher selber nicht Mitglied des Bundesrats ist. Er kann theoretisch durch einen Departementschef oder eine Departementschefin korrigiert werden. Wichtig ist, dass ein gegenseitiges Vertrauen zwischen den Journalistinnen und Journalisten und dem Bundesratssprecher besteht. Das kann etwa darin bestehen, dass der Sprecher nach der Medienkonferenz des Bundesrats Nachfragen von Medienschaffenden nicht einfach abblockt, sondern Einzelheiten der Bundesratssitzung erklärt. Und das muss einem liegen.
Haben Sie ein Beispiel?
Sigg: Meine Standardantwort auf diese Frage ist eine Episode aus der Zeit, als ich für Willi Ritschard tätig war. Ich sollte damals von Bundesrat Kurt Furgler einen Text für ein Buch zum runden Geburtstag meines Chefs abholen. Furgler war am Telefon und bedeutete mir, zu warten. Also hörte ich mit, wie er seinem Gesprächspartner Details aus der letzten Bundesratssitzung schilderte. Ich dachte mir, er spreche mit einem seiner Mitarbeiter. Doch dann verabschiedete sich Furgler mit den Worten: «Also, das bleibt unter uns. Auf Wiederhören, Herr Doktor Zwicky.» Hans Zwicky war damals Bundeshauskorrespondent der NZZ.
Was, wenn sich gewählte Mitglieder nicht an die Regeln halten wollen? Wie zum Beispiel Bundesrat Blocher, der sich weigerte, ein Abstimmungsergebnis zu kommentieren?
Sigg: Das ist absolut legitim. Blocher war ja auch derjenige, der immer sagte, der Bundesrat nenne sich Regierung, sei es aber nicht. Ich interpretiere es so, dass der Bundesrat nicht Partei ist, sondern gewissermassen der Diener, der dem Volk eine Vorlage unterbreitet. Das Volk ist dann die Instanz, die entscheidet. Hauptsache, es gibt eine Abstimmung.
Und was macht der Sprecher, wenn im Gremium Uneinigkeit herrscht?
Sigg: Wenn Uneinigkeit herrscht, gibt es keinen Beschluss, der kommuniziert würde. Dann verschiebt man es auf eine nächste Sitzung – oder allenfalls auf eine Klausursitzung.
Was prägt den Alltag des Regierungssprechers stärker: der Kontakt mit den Bundesratsmitgliedern oder mit den Medienschaffenden?
Sigg: Bei mir war es so, dass ich zu 50 Prozent Journalistenanfragen beantwortet habe. Die anderen 50 Prozent galten der Arbeit innerhalb der Bundeskanzlei, vor allem der Zusammenarbeit mit den Informationschefs der sieben Departemente. Der Bundesratssprecher ist ja auch Vorsitzender der Konferenz der Informationsdienste, was recht anspruchsvoll ist. Ich nahm diese Aufgabe eher fahrlässig wahr, die anderen betrieben sie intensiver. Das gibt dann schon zu tun.
Widmeten alle Bundesratssprecher den Journalistenfragen 50 Prozent ihrer Zeit?
Sigg: Das hängt davon ab, wie man den Beruf ausübt. Ich war stets der Meinung, eine enge Zusammenarbeit mit Journalistinnen und Journalisten sei die Leitlinie eines Sprechers.
Welche Rolle spielt die Zusammensetzung des Bundesrats?
Sigg: Es kommt auf jedes einzelne Mitglied an, ob es in das Gremium passt oder nicht. Selbstverständlich bringt jeder und jede eine andere Persönlichkeit mit. Wichtig ist, dass man solche wählt, die nicht jedes zweite Wort, das in einer Diskussion fällt, auf die Goldwaage legen und gleich widersprechen und sich persönlich betupft fühlen. Solche Bundesrätinnen und Bundesräte habe ich nur ganz selten erlebt.
Also ist es auch für den Sprecher wichtig, wer demnächst zur Nachfolge von Viola Amherd gewählt wird?
Sigg: Es ist bei jeder Vakanz gleich wichtig, wer zur Nachfolge antritt, wie gross die Auswahl ist und wer am Schluss gewählt wird. Es ist insofern sehr wichtig, als es Menschen gibt, die ein Gremium, in das sie gewählt werden, zum Negativen oder Positiven verändern können.
Droht unter Umständen auch ein völlig neuer Kommunikationsstil?
Sigg: Das nicht. Ein einzelnes Bundesratsmitglied kann gegenüber dem Bundesratssprecher Wünsche formulieren, aber die Kommunikation des Bundesrats verändern kann es nicht.
Sind Bundesratswahlen für den Regierungssprecher besonders anspruchsvoll?
Sigg: Nein. Er begleitet den oder die Gewählte in das Bundesratszimmer. Das ist die anspruchsvollste Aufgabe, die er oder sie hat.
Sie haben nicht nur für den Staat gearbeitet, sondern auch für die Medien. Wie beurteilen Sie deren aktuelle Situation?
Sigg: Sehr allgemein betrachtet finde ich, die Schweizer Medien seien wesentlich besser als vor 25 Jahren. Ich halte sie für präziser, konziser, umfassender und intelligenter. Das gilt nicht für das Schweizer Fernsehen, aber sehr wohl für das Radio.
Gleichzeitig ist die wirtschaftliche Situation der Medien schwierig. Erbringen weniger Journalistinnen und Journalisten eine bessere Leistung?
Sigg: Es ist durchaus möglich, dass eine Reduktion der Anzahl Journalistinnen und Journalisten das Gegenteil dessen bewirkt, was man erwartet. Ich denke, in den Redaktionen kommt es darauf an, wer dort sitzt und nicht, wie viele es sind. Mit mehr Journalistinnen und Journalisten kann man zwar viel mehr Texte, Bilder, Shows und Beiträge realisieren. Aber ob das Medium dadurch insgesamt wesentlich besser wird, bezweifle ich.
Die Arbeitsbedingungen für die einzelnen Medienschaffenden haben sich allerdings stark verschlechtert, und viele wurden entlassen.
Sigg: Dennoch scheint mir, die Qualität der Presse und eines Teils der elektronischen Medien habe zugenommen. Das kann auch eine Frage der äusseren Umstände sein, wenn ich an all die Irrungen und Wirrungen in den USA und anderswo denke, die uns an den Rand eines dritten Weltkriegs bringen. Da sind die Medien gefordert wie nie, und es ist unglaublich, was sie produzieren. Sei es in der Schweiz, in Deutschland oder in Frankreich.
Eine staatliche Medienförderung halten Sie nicht für sinnvoll?
Sigg: Wenn Medien aus dem letzten Loch pfeifen, wäre sie absolut nötig. So weit sind wir aber nicht. Gerade lokale Medien funktionieren wirtschaftlich besser als die grossen Zeitungen und Zeitschriften.
Wie verbringen Sie Ihre Zeit, nachdem Sie kein Medienunternehmen mehr leiten und auch nicht mehr für den Bundesrat arbeiten?
Sigg: Indem ich seit drei Jahren an einem Buch schreibe, das demnächst fertig werden soll. Es geht darin ums Geld, das in der Demokratie Verwendung findet. Unsere Volksrechte sind keine Rechte mehr, sondern Produkte. Eine Volksinitiative zum Beispiel kostet von der Lancierung bis zur Abstimmung zweieinhalb Millionen Franken. Der Arbeitstitel meines Buchs lautet denn auch «kostbare Demokratie».
Oswald Sigg (80) ist in Zürich aufgewachsen und hat in St. Gallen, Paris und Bern Soziologie, Volks- und Betriebswirtschaft studiert. 1973 trat er der SP bei und begann kurz darauf seine berufliche Laufbahn als stellvertretender Informationschef der Bundeskanzlei. Danach war er Informationschef des EFD unter Willi Ritschard und Otto Stich. 1988 wurde er Chefredaktor der SDA und anschliessend SRG-Sprecher. Zehn Jahres später kehrte er in den Bundesdienst zurück: als Informationschef des VBS unter Adolf Ogi und Samuel Schmid sowie als Stabschef des UVEK unter Moritz Leuenberger. Von 2005 bis 2009 war Sigg Vizekanzler und Bundesratssprecher. Der Vater von zwei erwachsenen Kindern lebt mit seiner Frau in Bern.