«Polizei und Migrationsbehörden müssen wissen, wer da ist»

Florian Düblin, Generalsekretär der Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz, erklärt, wie die Ukraine-Krise die Sicherheitsbehörden in den Kantonen fordert – und warum ein Nein zu Frontex katastrophal wäre.

Florian Düblin ist seit Anfang 2022 der neue Generalsekretariat der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD). Er löst Roger Schneeberger ab, der das Amt seit 2005 bekleidet hatte und Ende 2021 in den Ruhestand trat. (Foto: Mark Niedermann)

Florian Düblin, was heisst für Sie Macht*?

Florian Düblin: Macht ist die Möglichkeit, andere Menschen oder Gruppen zu einer Handlung zu bewegen – oder auch zu einer Nichthandlung. Etwas kreativer betrachtet, bedeutet es die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, Entwicklungen zu beeinflussen.

Nimmt die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren KKJPD Einfluss, indem sie die Polizei als innenpolitisches Sicherheitsinstrument kontrolliert?

Düblin: Dort liegt sicher ein Hebel für die Einflussnahme. Die gefühlte Sicherheit auf der Strasse liegt im direkten Gestaltungsbereich der KKJPD. Das macht sie zu einem relativ wichtigen Player im gesamtstaatlichen Gefüge, obwohl sie selber eigentlich keine formale Macht hat. Die KKJPD ist ein Verein, der keine Anweisungen erteilen kann. Die Mitglieder können sich bloss selbst verpflichten.

Die Konferenz kann aber durch Absprachen Einfluss nehmen.

Düblin: Das ist so. Die KKJPD ist vernetzt und anerkannt als Ansprechstelle für sicherheits- und justizpolitische Fragen, wann immer die Kantone involviert sind. Damit hat sie ein gewisses Gewicht. Sie muss aber immer im Sinne einer grossen Zahl ihrer Mitglieder handeln, und das beschränkt ihre Macht. Weder der Präsident noch der Generalsekretär können einfach bestimmen und sagen: Wir machen das jetzt so. Punkt.

Ist die KKJPD mit der Ukrainekrise und der bevorstehenden Abstimmung über den Schweizer Beitrag zur europäischen Grenzwacht Frontex an allen Fronten stark gefordert?

Düblin: Ja, das sind zwei wichtige Dossiers. Frontex ist vor allem politisch laut. Es brennt zwar nirgends, die Situation an den EU-Aussengrenzen ist nicht anders als sonst. Trotzdem fordert uns natürlich die politische Diskussion, die geführt wird. Was brennt, ist die Ukrainekrise. Für die Unterbringung und Betreuung der Geflüchteten sind aber nicht wir federführend, sondern die Sozialdirektorenkonferenz.

Wo orten Sie aus Sicht der kantonalen Migrations- und Sicherheitsbehörden aktuell das grösste Problem?

Düblin: Die Polizei und die Migrationsbehörden müssen wissen, wer da ist. Eine gewisse Herausforderung liegt darin, dass die Flüchtlinge aus der Ukraine frei einreisen und sich ohne Anmeldung bis zu 90 Tage legal in einem Land aufhalten dürfen. Die Problematik hält sich aber in Grenzen. Denn die Betroffenen haben ein Interesse daran, sich anzumelden, sobald sie auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Die grösste Herausforderung besteht momentan darin, dass alle Geflüchteten ein Dach über dem Kopf haben. Die Verantwortung dafür liegt in den allermeisten Kantonen bei den Sozialbehörden.

Werden die Ukrainerinnen und Ukrainer im Gegensatz zu anderen Flüchtlingsgruppen nicht als potenzielles Sicherheitsrisiko wahrgenommen?

Düblin: Das steht momentan sicher nicht im Vordergrund, es handelt sich um eine humanitäre Krise, keine sicherheitspolitische. Klar stellen sich Detailfragen. Etwa, ob jemand Kriegsverbrechen begangen haben könnte. Das klopft der Bund soweit möglich bei der Registrierung ab, aber es fällt zahlenmässig nicht ins Gewicht. Dann gibt es ein Missbrauchspotenzial, etwa wenn sich Personen aus Drittstaaten als Ukrainer ausgeben, um an den Schutzstatus S zu gelangen. Längerfristig fragt sich auch, wie die Wohnbevölkerung auf die hohen Zugangszahlen reagieren wird.

Bisher sehr solidarisch.

Düblin: Ja, und die Solidarität ist beeindruckend. Gleichzeitig stellen andere Ausländergruppen nachvollziehbare Fragen. Sie wollen wissen, warum die Ukrainerinnen und Ukrainer anders behandelt werden als sie, wieso sie etwa gratis Zug fahren und telefonieren dürfen. Das kann zu Konflikten führen, bei denen dann die Polizei reagieren muss.

Wie oft passiert das?

Düblin: Wir hören von vereinzelten Fällen, aber die Frage bleibt sicher aktuell. Dazu kommt, dass hohe Einwanderungszahlen immer auch von den politischen Kräften an den Polen instrumentalisiert werden. Da werden Ängste und Abwehrreflexe geweckt und das kann sicherheitsrelevant sein. All das sind keine akuten Probleme, man muss sie aber im Auge behalten.

Haben Sie persönlich angeboten, Flüchtlinge aufzunehmen?

Düblin: Nein. Das wäre in unserer Wohnung schwierig. Ausserdem hätte ich den Anspruch, diese Leute zumindest zu Beginn dabei zu unterstützen, sich hier zurechtzufinden. Meine Frau und ich sind beide voll berufstätig, wir können das nicht leisten.

Kommen wir zum politischen Brandherd, der Frontex-Abstimmung. Die europäischen Sicherheitsbehörden verstärken ihre Zusammenarbeit und beklagen, mit der Schweiz sei alles immer viel komplizierter. Zu Recht?

Düblin: Das lässt sich nicht wegdiskutieren: Wir sind komplizierter als Staaten, die stark zentralistisch organisiert sind.

Das liegt aber an der föderalistischen Struktur, nicht an der fehlenden Mitgliedschaft in der EU?

Düblin: Ja, und es ist ganz wichtig, zwischen der EU und Schengen zu unterscheiden, obwohl das auch die EU nicht immer hundertprozentig scharf tut. Für die Zusammenarbeit in unserem Verantwortungsbereich sind die Abkommen von Schengen und Dublin zentral, und dort ist die Schweiz vollständig dabei.

Was würde ein Nein zur Frontex-Vorlage am 15. Mai für die polizeiliche Zusammenarbeit bedeuten?

Düblin: Ich bin kein Experte für europäische Politik und kann nicht sicher abschätzen, wie die EU reagieren würde. Wenn es aber streng nach Vertrag abläuft, würden wir innert Kürze aus dem Schengen-Acquis rausfliegen. Das wäre katastrophal für die Sicherheit in der Schweiz wie auch für die internationale Polizeizusammenarbeit.

Warum?

Düblin: Einerseits kämen wir nicht mehr an die Informationen, die wir zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Verbrechensbekämpfung in der Schweiz benötigen. Anderseits würde die Schweiz für die EU zu einem blinden Fleck und damit zu einem attraktiven Zufluchtsort für allerlei Leute, die ungute Sachen im Schilde führen. Wo in Europa möchten Sie sich als Verbrecher oder Verbrecherin lieber aufhalten als dort, wo sich die Polizei nicht systematisch mit den umliegenden Staaten austauscht? Ich spreche nicht von Ladendiebstahl, sondern von Schwerstkriminalität. Aus Sicht der organisierten Kriminalität wäre die Schweiz ein hochattraktiver Platz, mitten in Europa, aber ohne polizeiliche Informationen aus den Nachbarstaaten.

Welche anderen Bereiche, die momentan nicht in den Schlagzeilen sind, beschäftigen die KKJPD?

Düblin: Die Koordination des Justizvollzugs ist zum Beispiel ein weiterer Bereich, der uns stark beschäftigt. Es gibt drei funktionierende Konkordate in der Schweiz, die unterschiedlich eng zusammenarbeiten. Alles, was übergeordnet zu regeln ist, ist Sache der KKJPD.

Was zum Beispiel?

Düblin: Wenn etwa ein Häftling Probleme bereitet, kann es nützlich sein, ihn in eine andere Anstalt zu verlegen. Und die Gesellschaft erwartet vom Justizvollzug, dass gewisse Standards – beispielsweise bei der gesellschaftlichen Reintegration von Straftätern – überall eingehalten werden.

Das ist nicht der Fall?
Düblin: Es ist «work in progress» – wie immer im Föderalismus. Der Schweizer Justizvollzug ist aber im internationalen Vergleich ein absolutes Erfolgsmodell. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich im föderalistischen System gute Lösung herauskristallisieren, die dann von anderen Kantonen übernommen werden können. Ein weiterer Bereich, der uns regelmässig beschäftigt, sind all die internationalen Abkommen, mit denen sich die Schweiz zur Einhaltung gewisser Standards verpflichtet. Diese Einhaltung wird durch internationale Gremien überprüft.

An welche Abkommen denken Sie?

Düblin: Beispielsweise an die UNO-Pakte oder die Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt. Dort sind wir häufig Ansprechstelle, wenn es um die Umsetzung in den Kantonen geht, sei es bei der Einhaltung von Menschenrechtsstandards oder bei der Bekämpfung von Rassismus unter den Behörden.

Da wird zweierlei kritisiert: Die einen sagen, die Schweiz sei eine Musterschülerin, andere, sie mache nur auf grössten Druck vorwärts. Wer hat recht?

Düblin: Wenn sich die Schweiz einmal einem Vertragswerk angeschlossen hat, versucht sie meiner Ansicht nach tatsächlich, die Standards bestmöglich umzusetzen. Aber unser föderales System ist wohl etwas träger als andere. Nach aussen kann das vielleicht den Eindruck erwecken, man wolle nicht so recht.

Was gefällt Ihnen an Ihrem Job als Generalsekretär der KKJPD am besten?

Düblin: Die thematische Breite finde ich äusserst attraktiv. Dass wir in all den Bereichen, in denen wir zuständig sind, auf strategischer Ebene mitreden und auch einen gewissen Einfluss ausüben können, ist spannend. Gleichzeitig muss man nicht ins Operative eingreifen – und sollte es auch nicht.

Haben Sie damit die grösste Mühe: dass Sie nicht einschreiten können, auch wenn Sie es möchten?

Düblin: Nein, was mir manchmal Mühe bereitet, ist die Trägheit des Systems. Wenn man 26 Kantone für eine einheitliche Lösung mit ins Boot holen muss, nimmt das viel Zeit in Anspruch und erfordert viel Geduld.

Ihr Vorgänger übte das Amt viele Jahre bis zur Pensionierung aus. Ist das auch Ihr Ziel?

Düblin: Das kann ich heute noch nicht sagen. Was ich sagen kann, ist, dass an dieser Stelle eine gewisse Beständigkeit von Vorteil ist. Denn das politische Personal wechselt ja regelmässig.

Wer darf Ihnen privat widersprechen?

Düblin: Alle, einschliesslich meiner neunjährigen Tochter. Bei ihr freut es mich am meisten, wenn sie es tut.

Womit vertreiben Sie sich am liebsten die Zeit?

Düblin: Mit meiner Tochter, die momentan eine grosse Rolle spielt. In der jetzigen Lebensphase steht das Familienleben sicher im Vordergrund. Darüber hinaus esse ich gerne gut, koche gern und interessiere mich für Wein.

Florian Düblin (46) hat in Basel Rechtswissenschaften studiert. Er hat unter anderem den Migrationsdienst des Kantons Bern geleitet, war wissenschaftlicher Berater des Sonderbotschafters für internationale Migrationszusammenarbeit und Generalsekretär der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz. Seit Anfang 2022 leitet er das Generalsekretariat der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD). Düblin lebt mit Frau und neunjähriger Tochter in Basel.

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