«Wo ist dieser Zettel im Mäppchen neben mir?»

Der ehemalige Nationalratspräsident Jürg Stahl verrät, woran der höchste Schweizer bei einer Bundesratswahl denken muss.

Der damaliger Zürcher SVP-Vertreter Jürg Stahl präsidierte den Nationalrat vom Dezember 2016 bis zur Wintersession 2017 und orchestrierte die Wahl des Nachfolgers des scheidenden FDP-Bundesrates Didier Burkhalter. (Foto: zvg)

Schauen Sie als ehemaliger Nationalratspräsident, der die Wahl von Ignazio Cassis in den Bundesrat orchestrierte, mit besonderem Interesse nach Bern?

Jürg Stahl: Auf jeden Fall. Nicht nur, weil ich das Amt des höchsten Schweizers ausüben durfte, sondern auch, weil ich fast zwei Jahrzehnte Jahre lang Teil des Wahlgremiums war. Die letzte Wahl, bei der ich nicht live dabei war, war jene von Ruth Metzler und Joseph Deiss am 11. März 1999. Da war ich in St. Gallen im Nachdiplomstudium und schwänzte eine Vorlesung, um die Bundesratswahlen zu verfolgen.

Seit 1848 gab es über 200 Nationalratspräsidentinnen und -präsidenten, doch bei weitem nicht alle durften bei einer Bundesratswahl das Zepter schwingen. Ein Grund für Sie, besonders stolz zu sein? 

Stahl: Dass es in meinem Präsidialjahr, das von November 2016 bis November 2017 dauerte, eine Vakanz gab, war Zufall. Es fanden ja keine Gesamterneuerungswahlen statt. Danach wurde ich oft auf die Bundesratswahl angesprochen. Sie ist auch etwas Spezielles, aber zumindest bei mir ist es nicht das, was mir zuerst einfällt, wenn ich an mein Präsidialjahr denke. Eher ist es das sehr ausgefüllte, intensive Jahr.

Wie haben Sie die Wahl in Erinnerung?

Stahl: Ich ging sie sehr konzentriert an. Nationalratssitzungen zu leiten, heisst ja, sich aus der politischen Debatte herauszuhalten und zu versuchen, das Amt möglichst neutral auszuüben. Am Wahltag habe ich das noch viel bewusster gelebt, ebenso in der Vorbereitung. Auf ein wichtiges Ereignis muss man immer vorbereitet sein, sonst steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht gut herauskommt.

Wie haben Sie sich vorbereitet?

Stahl: Es beginnt in dem Moment, in dem das scheidende Mitglied des Bundesrates dem Vorsitzenden der Bundesversammlung den Rücktritt mitteilt. Traditionell informiert er zuerst seine Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat und kommt dann zum Nationalratspräsidenten oder zur Nationalratspräsidentin. Didier Burkhalter, der scheidende Bundesrat, tat dies, indem er während der Sommersession mit mir abgemacht hat.

Um Ihnen sein Rücktrittsschreiben zu überreichen?

Stahl: Ja, er tat dies während der Mittagspause zwischen den Nationalratssitzungen, in seinem Büro im Aussendepartement EDA. Da habe ich es als Zahlenmensch rasch überschlagen und gesehen, dass die Zeit reicht, damit die Wahl ordnungsgemäss am Mittwoch der zweiten Sessionswoche der Herbstsession stattfindet. Um 15 Uhr eröffnete ich die Sitzung, indem ich Burkhalters Rücktrittsschreiben vorlas. Im Hintergrund begannen gleichzeitig die Vorbereitungen im Generalsekretariat. Das läuft jeweils sehr strukturiert und professionell ab, bis schliesslich am Wahltag das Drehbuch auf dem Tisch liegt. Das Ziel ist, dass jeder Satz stimmt und alle Eventualitäten angedacht sind.

Dass zum Beispiel jemand gewählt wird, den seine Partei nicht will, oder dass es zu einer Aufruhr kommt? 

Stahl: Ja. Als Präsident kann man einen Unterbruch der Sitzung beantragen. Und man hat Instrumente, um Ruhe im Saal herzustellen.

Welche – das Glöckchen?

Stahl: Das Glöckchen ist die mildeste Form. Wer es häufig benützt, hat wenig Erfolg. Man kann verbal zur Ruhe rufen. Wenn es im Publikum Unruhe gibt, sind die Sicherheitskräfte da. Im Saal hat man den Blickkontakt mit den Weibelinnen und Weibeln. Mit Fedpol geht man im Vorfeld das Sicherheitsdispositiv durch. Es gibt eine Anleitung für eine Evakuierung, die man mindestens einmal trainiert. Das sind die technischen Voraussetzungen.

Was gibt es sonst noch zu bedenken?

Stahl: Das oberste Ziel für den Hauptverantwortlichen ist, dass die Wahl demokratisch korrekt und in Würde stattfindet. Das bedingt, dass man alle Eventualitäten durchspielt: Was geschieht von dem Moment an, in dem der Kandidat, die Kandidatin mit den wenigsten Stimmen ausscheidet? Was ist, wenn es einen Gleichstand gibt und niemand ausscheidet? Das muss man simulieren und die Wahrscheinlichkeit eines solchen Falls einordnen – selbst vor einer Wahl, die so unspektakulär verläuft, wie jene von Ignazio Cassis, der als einer von drei Kandidierenden im zweiten Wahlgang gewählt wurde.

Und am Wahltag selber? 

Stahl: Da braucht man nicht zu meinen, man müsse alles im Kopf haben. Als Präsident habe ich gewusst: Wo ist dieser Zettel im Mäppchen neben mir? Es braucht keinen Stapel von Unterlagen, nur das Wesentliche muss griffbereit sein. Und man muss den Leuten im Saal die nötige Achtsamkeit entgegenbringen. Man ist nicht unter Zeitdruck. Klar möchte man die Sitzung am Mittag fertig haben. Aber es sind nicht zweimal 45 Minuten wie im Fussball, sondern man kann es entstehen lassen. Dennoch muss man bestimmt führen und darf nicht unsicher wirken. Ich habe mich nie unsicher gefühlt oder nicht bereit, wenn etwas gewesen wäre.

Womit mussten Sie rechnen? 

Stahl: Im Extremfall, dass die Wahl nicht angenommen wird. Das ist zwar eher unwahrscheinlich, wenn sich jemand ins Rennen begibt, aber man hat schon viel erlebt. Wie damals Francis Matthey, der anstelle von Christiane Brunner gewählt wurde und verzichtete. Oder dass jemand gewählt wird, der nicht im Saal ist wie Otto Stich, der anstelle von Lilian Uchtenhagen gewählt wurde. Das habe ich nur vom Fernsehen her gekannt. Bei der Abwahl von Ruth Metzler war ich wahlberechtigt im Saal. Als Eveline Widmer-Schlumpf anstelle von Christoph Blocher gewählt wurde und es einen Unterbruch von einer Woche gab, ebenfalls.

Sie waren aber noch nicht Präsident. Was war dabei besonders?

Stahl: Innerhalb des politischen Spektrums ist es eine spezielle Disziplin, Präsident zu sein. Ich habe mich als Captain gefüllt, der versucht, die Skills, die im Saal sind, richtig einzusetzen. Unter den 245 Leuten im Saal hast du deine Buddies, aber auch deine bekennenden Gegner. Du musst die Atmosphäre so gestalten, dass es eine würdige, faire Wahl gibt. Keinesfalls darf der Anschein geweckt werden, irgendetwas könnte seltsam oder nicht regelkonform abgelaufen sein.

Das war nicht der Fall?

Stahl: Nein. Ich kann mich noch gut an den Moment erinnern, als die Vorsteherin des Wahlbüros, es war die Thurgauer SP-Nationalrätin Edith Graf-Litscher, mit dem Zettel nach vorne kam. Da waren alle Blicke auf die Türe gerichtet, aus der sie in Begleitung des Wahlbüros kam. Dessen Mitglieder nahmen Platz, und sie kam zu mir nach vorne. Da galt es, die Abläufe zu beachten: Habe ich es verstanden, sind die aufgeschriebenen Zahlen leserlich, ist das Mikrofon abgestellt, damit nicht plötzlich das Geflüster gehört wird?

War die Wahl nicht der Höhepunkt Ihres Präsidialjahres, weil alles nach Drehbuch lief und Sie an keiner Stelle improvisieren mussten?

Stahl: Wenn es normal läuft, ist das Ereignis als solches nicht sehr anspruchsvoll. Eine AHV-Abstimmung, bei der man wegen der Ausgabenbremse 101 Stimmen braucht und sich die Parameter während des Vorgangs laufend ändern, ist anspruchsvoller. Das war auch in meinem Amtsjahr so. Wenn es dort nicht die nötigen 101 Stimmen gegeben hätte, wäre die Vorlage nicht vors Volk, sondern schon im Parlament versenkt worden. Dazu musste Mattea Meyer, die gerade frisch Mutter geworden war, samt Baby eigens für die AHV-Abstimmung hergeführt werden.

Bei der Bundesratswahl war die ganze Bundesversammlung vollzählig präsent. Ist das Gefühl besonders erhebend, wenn der Saal für einmal nicht halb leer ist und alle zuhören, statt miteinander zu sprechen? 

Stahl: Zum Lärmpegel und zum halbleeren Saal habe ich ein völlig unverkrampftes Verhältnis. Wenn es wichtig ist, sind alle da, und alle sind dann ruhig. Aber es ist schon ein erhebendes Gefühl, ein volles Haus zu haben. Es zeigt, dass alle Beteiligten ihre Verantwortung wahrnehmen und dass es letztlich ein Privileg ist, Teil des Wahlgremiums sein zu dürfen.

Sie waren bei der Wahl schon fast ein Jahr lang Präsident. Ihre Kolleginnen und Kollegen werden aber meist ins kalte Wasser geworfen: Kaum selber gewählt, müssen sie in der Wintersession «Tätschmeister» spielen. Haben Sie einen Tipp für den Bündner Mitte-Nationalrat Martin Candinas, der aller Voraussicht nach die kommenden Wahlen leiten wird, wie er sich vorbereiten soll?

Stahl: Ich bin nicht so der Tipp-Typ. Martin Candinas war ein Jahr lang zweiter Vizepräsident, dann ein Jahr lang Vizepräsident. Also verfügt er über die nötigen Fähigkeiten und kennt die Abläufe, und er hat ein gutes Team. Für mich fand ich es wichtig, dass ich schon eine Weile dabei war und mehrere Bundesratswahlen erlebt hatte. Martin Candinas hat auch schon mehrere erlebt. Er darf dem Team des Generalsekretariats vertrauen, die machen das nicht zum ersten Mal. Für mich war die Sicherheit immer wichtig. Wenn sich der Hauptverantwortliche auch mit unangenehmen Fragen auseinandergesetzt hat, ist er gut vorbereitet – und es besteht die Chance, dass er gut reagiert. Ausserdem sollte er daran denken, dass es keinen Zeitdruck gibt. Man muss es nicht übermässig zelebrieren, hat aber keine Stoppuhr.

Sie sind ja seit dem Rückzug aus der Politik nicht untätig, sondern präsidieren unter anderem Swiss Olympic und den Schweizerischen Nationalfonds. Kommt das ans Nationalratspräsidium heran?

Stahl: Es ist nicht vergleichbar. Ich schaue mit guten Gefühlen auf die fast 20 Jahre als Nationalrat zurück, auf das Präsidialjahr mit Demut, aber auch mit Stolz. Ich habe es gern gemacht. Man weiss, dass dieses Amt ein Enddatum hat, und ordnet dem alles unter. Meine Tochter war damals im zweiten Lebensjahr, und ich habe versucht, auch ein guter Familienvater zu sein. In dem Jahr drehte sich aber alles darum, zu repräsentieren, die Sitzungen gut zu führen und allen gegenüber fair zu sein. Meine jetzigen Ämter stellen andere Anforderungen an mich. Wobei es bei beiden um Höchstleistungen und um Präzision geht, aber auch um faire und respektvolle Bedingungen.

Haben Sie jetzt mehr Zeit für Ihre inzwischen siebenjährige Tochter?

Stahl: Ja, mit meinem Ausscheiden aus der Politik Mitte 2019 gab es einen Schub. Plötzlich hatte ich 110 Tage weniger Verpflichtungen pro Jahr. Dann kamen die beiden Corona-Jahre, die bei uns etwas ausgelöst haben. Wir waren gezwungen, zuhause zu bleiben. Also war ich bei allen Ritualen wie dem Mittagstisch oder beim ins Bett gehen, viel präsenter als zuvor. Es war ein sehr schönes Erlebnis, so nah dabei sein zu können. Ich würde Corona deswegen aber nicht als Glücksfall bezeichnen.

Ihr Familienleben hat aber von der Pandemie profitiert?

Stahl: Schon. Als ich jedoch wieder an einen Kongress reisen konnte, war meine Frau hoch erfreut, dass ich wieder einmal weg war. So ticken wir einfach. Ein Extrem löst das andere ab. Da gilt es, für die Zukunft eine gute Balance zu finden.

Der Drogist Jürg Stahl (54) absolvierte an der Hochschule St. Gallen das Nachdiplomstudium «HSG KMU». In die Politik stieg der SVP-Vertreter als Mitglied des Parlaments seiner Geburtsstadt Winterthur ein. Von 1999 bis 2019 gehörte er dem Nationalrat an, den er 2016/17 präsidierte. Zurzeit ist Stahl Präsident von Swiss Olympic, Zentralpräsident des Schweizerischen Drogistenverbandes sowie Stiftungsratspräsident des Schweizerischen Nationalfonds. Er wohnt mit Frau und Tochter in Brütten im Kanton Zürich.

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