«Neutralität ist ein beliebiger, ein bequemer Begriff»

Ständeratspräsident Hans Stöckli über sein Präsidialjahr der anderen Art, über seine Liebe zu Freiheit und Macht – und über die Rolle der Schweiz in einer unsicher gewordenen Welt.

Der Bieler Ständerat Hans Stöckli (SP): In einem Ausnahmejahr präsidiert er die kleine Kammer. (Bild: ZVG)

Statt sich an Volksfesten oder im Ausland feiern zu lassen, touren Sie zusammen mit Nationalratspräsidentin Isabelle Moret auf Corona-Mission durchs Land. Haben Sie sich Ihr Präsidialjahr anders vorgestellt?

Hans Stöckli: Zum Ständeratspräsidium bin ich ja fast wie die Jungfrau zum Kind gekommen, weil meine eigentlich gesetzte Parteikollegin Géraldine Savary auf ihre Wiederwahl verzichtet hat. Deshalb hatte ich keine grossen Erwartungen an das Präsidialjahr. Ich setzte mir drei Ziele: den fast zur Hälfte neu zusammengesetzten Ständerat zu einem funktionsfähigen Gremium zusammenzuschweissen, die Mehrsprachigkeit zu fördern und die Jugend für Politik zu begeistern. An diesen drei Zielen kann ich tagtäglich arbeiten.

Trotz Corona?

Stöckli: Genau. Die Krise bringt die Menschen näher und so unterstützt Corona meine Ziele eher. Aber selbstverständlich gehört zum Präsidium auch der offizielle Teil: die Einladungen an den Neujahrsempfang, die Landsgemeinde, die Empfänge. Am Anfang hatten wir das noch.

Auch im Ausland?

Stöckli: Wir hatten 10 Auslandsreisen geplant, doch bisher war ich als Ständeratspräsident noch nie im Ausland. Immerhin habe ich hier in Bern mehrere Delegationen aus anderen Ländern empfangen.

Welche Orte wollten Sie denn besuchen?

Stöckli: Paris, Berlin, Wien, den Papst in Rom, Brüssel, Sarajevo. Aber auch Mexiko und Belize, wo das Papiliorama, das ich präsidiere, ein grosses Naturreservat betreibt. Meine Delegationsreise mit dem Büro des Ständerates hätte mich nach Dänemark, Schweden und Finnland führen sollen. Jetzt gehen wir nach Prag und Wien. Ich reise zwar gern. Meine Motivation, Ständeratspräsident zu werden, war aber nie vom Wunsch nach Auslandsreisen geprägt. Vielmehr habe ich immer geschmunzelt über die grosse Reiselust einiger meiner Vorgänger wie zum Beispiel Filippo Lombardi.

Mit 68 Jahren besuchen Sie Spitäler und andere Gesundheitseinrichtungen in den Kantonen. Sind Sie so mutig, dass Sie als Angehöriger einer Risikogruppe den Kontakt mit Corona-Infizierten nicht scheuen?

Stöckli: Im Lockdown war ich sehr, sehr diszipliniert und ging wirklich nur aus dem Haus, wenn ich musste. Nicht einmal Velo bin ich gefahren. Dass ich jetzt in die 10 am meisten betroffenen Kantone sowie nach Bern gereist bin, liegt daran, dass es als Ständeratspräsident meine Aufgabe ist, nicht nur international, sondern vor allem auf dem nationalen Parkett eine Verbindung herzustellen. Und ich hatte nirgends den Eindruck, wir hätten uns aufgedrängt. In kürzester Zeit wurden unglaubliche, bis auf die Minute durchgetaktete Programme auf die Beine gestellt, mit Empfang durch die Spitzen der Kantonsparlamente, der Regierungen, der Spitäler, der Unternehmungen, der Tourismusorganisationen. Ich habe sehr viel gelernt über das Funktionieren unseres Systems – aber auch darüber, was weniger gut funktioniert.

Was denn?

Stöckli: Eine wichtige Erkenntnis lautet: Wir brauchen einen starken Staat, und der Bundesrat, die kantonalen Regierungen und die Verwaltung haben einen sehr guten Job gemacht – aber unser System mit der vertikalen Strukturierung in drei föderalistische Ebenen ist in einer solchen Krisensituation sehr anspruchsvoll.

War Corona für Sie persönlich unter dem Strich mehr Gewinn denn Verlust?

Stöckli: Das nicht. Um die Wirtschaft und namentlich um den Tourismus mache ich mir grosse Sorgen, obwohl ich von Grund auf ein Optimist bin. Mein Präsidialjahr ist halt jetzt ein ausserordentliches und die Parlamentspräsidien mussten schnell und unkompliziert die Verfassungs- und Gesetzeslücken durch Vereinbarungen mit dem Bundesrat schliessen. Ich bin stolz darauf, wie gut uns das schliesslich gelungen ist. Elf Tage nach dem Abbruch der Frühjahrssession haben wir den National- und Ständerat unter Berücksichtigung aller Covid-19-Vorgaben des Bundes neu organisiert, und ohne Zeitverlust konnte das Parlament anfangs Mai alle nötigen Beschlüsse fällen.

Sie haben einst in einem Aufsatz die Abschaffung des Ständerats gefordert, weil er altbacken sei. Was hätten Sie gesagt, hätte man Ihnen prophezeit, dass sie ihn dereinst präsidieren würden?

Stöckli: Ich hätte es nicht geglaubt. Es war trotz meines Namens auch nie mein Ziel.

Eben, Sie sind der erste Ständeratspräsident, der so heisst wie seine Kammer. Wie sehr hat Ihnen der Slogan «Stöckli ins Stöckli» geholfen?

Stöckli: Es war eindeutig ein Vorteil. Ich hatte recht anspruchsvolle Wahlkämpfe: zuerst gegen SVP-Fraktionschef Adrian Amstutz, dann gegen SVP-Präsident Albert Rösti, und am Ende gegen Grünen-Präsidentin Regula Rytz. Das sind alles Giganten in der Schweizer Politik. Ich denke, die Leute haben den Slogan verstanden, was mir sicher geholfen hat.

Hilft Ihnen Ihr Name heute noch?

Stöckli: Schweizweit werde ich darauf angesprochen. Auf der «Tour des Cantons» war es frappant, wie viele mich beim Namen nennen konnten. Das Stöckli ist eine sehr hilfreiche Eselsbrücke. Interessanterweise funktioniert sie auch in der welschen Schweiz. Als Bezeichnung für den Ständerat ist das Stöckli bekannt, obwohl es auf Französisch keinen Sinn ergibt.

Vor ihrem Ständeratspräsidium absolvierten Sie bereits eine lange Politkarriere, vom Bieler Stadtpräsidium über den Nationalrat bis in den Ständerat. Welche Station war Ihnen die liebste?

Stöckli: Mein berufliches und politisches Engagement drehte sich immer um die Begriffe Freiheit und Macht. Angefangen habe ich als selbstständiger Anwalt, durfte also einen freien Beruf ausüben, und wurde dann Richter, weil mich die Macht interessierte. Als Stadtpräsident hatte ich das Glück, beides zu haben: nämlich die Freiheit, zu gestalten, Impulse zu geben und Sachen anzureissen, und gleichzeitig die Macht, sie umzusetzen. Das war ganz klar die wichtigste Station in meinem Leben, und ich hatte Glück. Obwohl ich sicher einiges falsch gemacht und auch Niederlagen erlitten habe, stellte, als ich nach 18 Jahren nochmals antrat, kein Mensch die Frage: Stöckli, ist es das letzte Mal? Niemand, weder die Parteien, noch die Medien, noch meine zahlreichen Konkurrenten. Das ist heute unvorstellbar. Heute wird man schon nach 4 Jahren gefragt: Trittst du nochmals an?

Wie ist es bei Ihnen heute um Macht und Freiheit bestellt?

Stöckli: Heute habe ich nichts mehr. Die Freiheit nicht, weil ich an den Sitzungen vom Anfang bis zum Schluss teilnehmen muss – deswegen wurde ich auch Ständeratspräsident, denn so wollten sie mich disziplinieren. Und die Macht habe ich verloren, weil ich nur noch den Stichentscheid geben kann – was ich bisher lediglich einmal im Büro machen durfte. Aber ich bin dankbar, dass ich vor meiner eindrücklichen Stadtpräsidentenzeit eine sehr lehrreiche Zeit als Richter hatte und jetzt eine ausserordentliche Zeit als Bundesparlamentarier erlebe. Und dass ich meine Erfahrung auf allen drei Ebenen – Judikative, Exekutive und Legislative – einsetzen kann, etwa als Präsident der Subkommission Gerichte in der Lauber-Geschichte und der Umstrukturierung der Bundesanwaltschaft.

Was ist Ihr grösster Erfolg?

Stöckli: Dass die Expo.02 auch in Biel erfolgreich stattfinden konnte. Damit habe ich mir mit 50 Jahren einen Bubentraum erfüllt. Seit ich die Expo 64 in Lausanne gesehen hatte, liess mich das Thema nie mehr los. Deshalb setze ich auch alles daran, dass die nächste Landesausstellung in ein paar Jahren stattfinden wird. Ich bin zuversichtlich, dass das gelingen kann. Das Interesse ist vorhanden, und Corona wird es noch verstärken, davon bin ich überzeugt.

Welches war der Tiefpunkt: Dass Sie als Frauenverhinderer kritisiert wurden, weil Sie Regula Rytz im Ständeratswahlkampf geschlagen haben? Oder dass die olympische Flamme für Sion 2026, für die Sie sich einsetzten, von den Wallisern im Keim erstickt wurde?

Stöckli: Natürlich das zweite. Ich war vielleicht zu naiv in der Olympia-Kandidatur und würde heute vieles anders machen. Auch dürfte uns das angeschlagene Image des Internationalen Olympischen Komitees und anderer internationaler Sportverbände nicht geholfen haben. Ich bin aber nach wie vor überzeugt, dass gerade die Schweiz in der Lage wäre, bescheidene und nachhaltige Olympische Winterspiele durchzuführen, was für unser Land wichtig wäre.

Sie waren schon politisch aktiv, als die Welt noch zweigeteilt war und sich die Supermächte kalt bekriegten. Sehen Sie Parallelen zu heute?

Stöckli: Mich hat die Zweiteilung seit meiner Kindheit immer fasziniert. Ich war oft in Ost-Berlin, in Prag, in Budapest, auch in der Sowjetunion. In meiner Bibliothek findet man aus dieser Zeit viele Bücher, die ich im Osten sehr günstig gekauft – und häufig noch nicht gelesen – habe. Ich fand das äusserst spannend und war ein grosser Bewunderer der Leute, die den dritten Weg gesucht hatten, zum Beispiel des tschechischen Reformers Ota Šik. Dann kamen der Fall der Mauer und die 90er-Jahre, und seitdem ist die Welt nicht übersichtlicher und sicherer geworden. Die internationalen Beziehungen sind instabil geworden, auch weil in wichtigen Staaten schwierige Persönlichkeiten an die Macht gekommen sind. Ich will nicht das alte System zurückrufen, aber unsere Hoffnung, dass mit der Beendigung des Kalten Krieges eine Zeit des Weltfriedens anbrechen würde, wurde nicht erfüllt. Zudem veränderte die neue Macht China das politische Gleichgewicht sehr stark. Ich verstehe Englisch, kann die russische Schrift lesen, aber mit dem Chinesischen kann ich nichts anfangen – und was man nicht kennt, macht einem noch zusätzlich Angst.

Wo sehen Sie die Rolle der Schweiz?

Stöckli: Wir sind ein kleiner Staat, der mit der ganzen Welt gute Beziehungen pflegen muss. Ein spezielles Interesse haben wir aber an einer starken EU, als Garantin für unsere europäischen Kulturen, für den grossen Binnenmarkt und für die Sicherheit. Um in dieser Situation bestehen zu können, müssen wir eine unglaubliche Flexibilität an den Tag legen, ohne unsere Prinzipien zu ritzen, damit unsere Grundsätze immer einen Leuchtturm bilden.

Welche Grundsätze meinen Sie?

Stöckli: Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Selbstbestimmung: Das muss unser Leitfaden sein. Die Neutralität gehört zwar zu den Prinzipien. Wir sind aber gut beraten, darüber nachzudenken, wie wir sie im konkreten Fall ausgestalten. Neutralität ist ein beliebiger, ein bequemer Begriff. Unabhängigkeit ist mir lieber.

Sie sind leidenschaftlicher Velofahrer und Langstreckenläufer. Hat Corona Sie ausgebremst?

Stöcki: Der 100-Kilometer-Lauf von Biel wurde heuer abgesagt, mit der Folge, dass ich gar nicht mehr rausging. Gut, haben wir noch einen Hometrainer. Als ich kürzlich mit dem Velo die 42 Kilometer um den Bielersee gefahren bin, stellte ich etwas Erstaunliches fest: Ich bin besser «zwäg» als vor einem Jahr, weil ich keinen Hunderter-Stress hinter mir habe.

Heisst das, Sie nehmen nicht mehr am Lauf teil? Schliesslich sind Sie 68-jährig.

Stöcki: Ich bin voller Hoffnung, dass der 100-Kilometer-Lauf nächstes Jahr stattfindet, und ich daran teilnehmen kann. Meine Frau hat ihn schon elfmal gemacht, und ich erst neunmal. Da bin ich doch herausgefordert.

Ständeratspräsident Hans Stöckli (68) studierte in Bern und Neuenburg Rechtswissenschaften und Journalismus. Mit 26 begann er in der eigenen Anwaltskanzlei zu arbeiten, ein Jahr später wurde der Sozialdemokrat in den Stadtrat von Biel gewählt. Von 1981 bis 1990 war der Vater von heute 3 erwachsenen Kindern Gerichtspräsident von Biel und von 1990 bis 2010 Bieler Stadtpräsident; ab 2002 sass er gleichzeitig im bernischen Grossen Rat. 2004 folgte die Wahl in den Nationalrat, 2011 diejenige in den Ständerat.

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