«Das wird man nie kompensieren können»

SRK-Direktorin Nora Kronig erklärt, welch massive Folgen das Kappen der US-Entwicklungshilfe hat – indirekt auch für das Schweizerische Rote Kreuz.

Nora Kronig Romero (44) stammt aus dem Wallis, ist in Genf aufgewachsen und hat an der HSG in St. Gallen Wirtschaftswissenschaften studiert. Danach absolvierte sie die Diplomatenausbildung beim EDA. Seit Mai 2024 ist sie Direktorin des Schweizerischen Roten Kreuzes.

Weltweit werden die Hilfsgelder gekürzt, dafür steigen die Verteidigungsausgaben. Was heisst das für das SRK?
Nora Kronig: Zunächst mal: Unsere Organisation ist aus dem Krieg entstanden. Das Rote Kreuz gibt es, weil Henry Dunant auf dem Schlachtfeld von Solferino über den Umgang mit verwundeten und verstorbenen Soldaten schockiert war. Und das SRK hat General Henri Dufour gegründet, der im Sonderbundskrieg die eidgenössischen Truppen anführte. Wir sehen keinen Widerspruch zwischen humanitärer Hilfe und Verteidigungsausgaben, für uns geht das Hand in Hand. Ich würde behaupten, dass sich General Dufour in der jetzigen Zeit für beides engagiert hätte. Aber natürlich merken wir, was es heisst, wenn Hilfe, die geleistet wurde, auf einmal nicht mehr da ist.

Hat die Streichung der USAID-Programme auch Folgen für die Spenden an das SRK – gehen diese ebenfalls zurück oder nehmen sie im Gegenteil zu?
Kronig: Da merken wir nichts, die Solidarität der Schweizer Bevölkerung ist weiterhin gross. Doch der Rückzug des staatlichen Engagements in Zeiten, in denen die Gewalt zunimmt und es auf der Welt 120 Konflikte gibt, hat extreme Auswirkungen auf Verletzliche. Gerade auf jene, die ohnehin in höchst prekären Verhältnissen leben, wie zum Beispiel in Haiti.

Können private Spenden wettmachen, was an staatlicher Unterstützung fehlt?
Kronig: Niemals. Den Rückzug der USA, den über Jahrzehnte grössten Akteur im Unterstützungsbereich, wird man nicht kompensieren können. Egal, ob andere Staaten einspringen oder sich Private engagieren: Zu meinen, dass man das je kompensieren könnte, ist eine Illusion.

Hat die weitgehende Einstellung der US-Entwicklungshilfe auch Folgen für SRK-Projekte?
Kronig: Nein, denn wir hatten keine direkte Zusammenarbeit mit USAID. Indirekt aber sind die Auswirkungen massiv. Nicht nur für die direkt Betroffenen vor Ort, sondern auch für die ganze internationale Zusammenarbeitsarchitektur, die man seit dem zweiten Weltkrieg aufgebaut hat. Das betrifft die Menschen ebenso wie alle Organisationen, die in dem Gebiet aktiv sind. Wie genau sich die Folgen äussern werden, ist noch unsicher. Es hat aber einen hoch disruptiven Effekt.

Auch auf das SRK?
Kronig: Als Teil einer weltweiten Bewegung sind wir Teil der internationalen Zusammenarbeitsarchitektur. Das Rote Kreuz ist praktisch in allen Ländern mit einer nationalen Gesellschaft präsent, wir haben überall Freiwillige – in der Schweiz 50‘000, weltweit sind es Millionen. Dadurch sind wir stark in die Bevölkerung eingebettet. Weil wir auf der Freiwilligkeit aufbauen, sind wir in der Lage, mit relativ geringen Mitteln sehr viel zu bewirken. Je mehr Unterstützung wir punkto Ressourcen aber bekommen, desto besser können wir helfen. Wir sehen, dass die Bedürfnisse zunehmen. Insofern sind wir also sehr wohl betroffen.

Wo ist die Not aktuell am grössten: in der Ukraine, im Gazastreifen, in Syrien, Haiti oder im Sudan?
Kronig: Menschliche Bedürfnisse in die Waagschale zu werfen, ist immer schwierig. Wir engagieren uns, indem wir die Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften in rund 30 Ländern unterstützen. Sie sind am nächsten dabei und wissen, welche Prioritäten zu setzen sind, damit die Bedürfnisse vor Ort am besten gedeckt werden können. Unser Ansatz ist, das Rote Kreuz gesamthaft zu stärken, damit es überall nahe bei den Leuten ist und dort aktiv sein kann, wo man uns am meisten braucht.

Wo liegt der Schwerpunkt der SRK-Arbeit im Inland?
Kronig: Wir priorisieren den Menschen, der uns braucht. Wir unterstützen die Leute entlang ihrer ganzen Lebenskette, damit sie möglichst wieder auf eigenen Beinen stehen können. Das beginnt bei prekären Situationen mit Kindern, wenn zum Beispiel ein Elternteil krank wird und die Betreuung nicht mehr übernehmen kann, und reicht bis zur Unterstützung im Alter, etwa durch Besuche von Freiwilligen, damit die Menschen zuhause sich nicht mehr so einsam fühlen. Auch in akuten, schwierigen Situationen sind wir aktiv, etwa bei Folteropfern, die starke psychische Traumata haben.

Freiwilligenarbeit verliert an Bedeutung. Was heisst das für das SRK?
Kronig: Die Freiwilligenarbeit ist der Sockel dessen, was wir leisten können. Sie bringt uns einen Zugang zu den Menschen und einen Vertrauensbonus – und damit einen Mehrwert in der Möglichkeit, die Leute zu unterstützen. Umso wichtiger ist für uns, dass wir uns immer wieder neu erfinden, um Freiwillige zu begeistern und auch professionell zu begleiten, damit sie bei uns alles finden, was sie benötigen.

Wie machen Sie das?
Kronig: Indem wir versuchen, an den gesellschaftlichen Trends dranzubleiben. Die jüngeren Freiwilligen sind sehr dynamisch. Wir überlegen gerade, wie wir da mehr Agilität reinbringen. Ich muss aber sagen, dass das Engagement der Freiwilligen nicht abnimmt – ihre Motivation steigt im Gegenteil. Dafür bin ich unseren Freiwilligen zutiefst dankbar.

Ihre Zahl nimmt aber ab. Wie finden Sie überhaupt noch Menschen, die sich freiwillig engagieren wollen?
Kronig: Durch direkte Kontakte, indem wir überlegen, was den Freiwilligen eine Perspektive bietet, um sich weiter entwickeln zu können, indem wir auf ihre zeitlichen Kapazitäten eingehen und auch für kurzfristige Einsätze offen sind. Letztlich geht es darum, am Puls der Leute zu bleiben. Eigentlich funktioniert das gut.
 
Dennoch wird der Sockel, auf dem Ihre Arbeit beruht, immer schmaler. Ist das nicht bedrohlich?
Kronig: Es ist eine Frage der Perspektive. 50’000 Freiwillige sind eine unglaubliche Zahl – das sind so viele wie die Einwohnerinnen und Einwohner einer mittelgrossen Stadt. Wir finden Freiwillige im ganzen Land, in sehr unterschiedlichen Gebieten. Von daher mache ich mir keine Sorgen, dass es einbricht. Wir müssen aber wie gesagt dranbleiben und uns immer wieder den gesellschaftlichen Tendenzen anpassen. So hatte und hat zum Beispiel die massive Veränderung des Frauenanteils in der Arbeitswelt in den letzten 30 Jahren auch einen Einfluss auf den Freiwilligenpool.

Was ist aktuell Ihre grösste Sorge als SRK-Direktorin?
Kronig: Die sich zuspitzende Polarisierung und der respektlose Umgang miteinander. Und die Tatsache, dass man den Menschen in seiner Würde nicht ausreichend respektiert.

Spüren Sie noch Nachwehen der Machtkämpfe, die das SRK vor ihrem Amtsantritt 2023 erschütterten hatten?
Kronig: Das habe ich persönlich nie gespürt. Als ich vor einem Jahr angefangen habe, wurde ich von den Kolleginnen und Kollegen sehr gut empfangen. Selbstverständlich sind wir eine sehr grosse Organisation. Ich bin davon überzeugt, dass man aus Schwierigkeiten lernen muss. Also haben wir die Verantwortung, die Organisation weiterzubringen und ihr die dafür nötigen Institutionen zu geben. Wir müssen uns möglichst stark aufstellen, damit wir unsere Arbeit so gut wie möglich machen können. Dieser Prozess läuft jetzt.

Sie haben als Diplomatin in der Schweizer Mission bei der UNO in Genf gearbeitet, danach im Bundesamt für Gesundheit und leiten jetzt das SRK. Welcher der drei Jobs ist am spannendsten und anspruchsvollsten?
Kronig: Die jetzige Tätigkeit ist für mich die spannendste und anspruchsvollste, weil sie mit der ganzen Gesellschaft zu tun hat. Sei es mit einem höchst traumatisierten Geflüchteten, der grosse Schwierigkeiten im Alltag hat, oder mit einer Bundespolitikerin, mit der ich mich austausche, um die Rahmenbedingungen zum Gesundheitssystem weiterzubringen. Ich halte es für ein grosses Privileg, täglich mit Menschen arbeiten und interagieren zu können, die die gesamte Bevölkerung abdecken.

Während der Pandemie waren Sie für die Impfstoffbeschaffung zuständig. War das nicht anspruchsvoller?
Kronig: Ich habe alle drei Jobs sehr gerne ausgeübt. Es ging jedes Mal darum, eine Rolle zu spielen, die am Ende den Menschen zugutekommen musste. Die Herausforderung, einen Konsens zu finden, war ebenfalls stets da. In allen drei Jobs ist es das Wichtigste, mit den Leuten zu sprechen und gute Lösungen zu finden. Was beim Roten Kreuz dazu kommt, ist der gewaltige Umbruch in den weltweiten Beziehungen seit Anfang Jahr.  Das macht es zu einer komplexen Aufgabe, meine Arbeit so zu erledigen, dass wir auch wirklich die Leute unterstützen und einen Unterschied machen können.

In der Pandemie wurde Ihnen vorgeworfen, dass Sie schwanger waren. War das eine besondere Belastung?
Kronig: Für mich war die Tatsache, dass meine Schwangerschaft als Problem dargestellt wurde, eher ein Zeichen, dass ich meinen Job gut machte. Wenn es das Schlimmste war, was man mir vorwerfen konnte…

Hat sich Ihre Freizeitgestaltung geändert, seit Sie beim Roten Kreuz sind?
Kronig: Ja, denn ich reise viel weniger als zuvor. Dass ich fast jeden Abend zuhause schlafen kann, hat positive Auswirkungen auf meine Freizeitgestaltung.

Wofür haben Sie mehr Zeit?
Kronig: Um für meine Familie gut kochen zu können.

Nora Kronig Romero (44) stammt aus dem Wallis, ist in Genf aufgewachsen und hat an der HSG in St. Gallen Wirtschaftswissenschaften studiert. Danach absolvierte sie die Diplomatenausbildung beim EDA und arbeitete unter anderem als Stabschefin von Staatssekretär Yves Rossier und in der Schweizer Mission bei der UNO in Genf. 2017 wurde sie Leiterin der Abteilung Internationales beim BAG in Bern. Seit Mai 2024 ist sie Direktorin des Schweizerischen Roten Kreuzes. Nora Kronig wohnt mit ihrem Mann und der vierjährigen Tochter in Ostermundigen bei Bern.

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