«Es ging nur darum, zu funktionieren»
Der Protokollchef im Aussendepartement, Térence Billeter, denkt an die Zeit auf dem Bürgenstock zurück – und erklärt, was seinen Job auch ohne Ukraine-Konferenz spannend macht.
Der Protokollchef im Aussendepartement, Térence Billeter, denkt an die Zeit auf dem Bürgenstock zurück – und erklärt, was seinen Job auch ohne Ukraine-Konferenz spannend macht.
Térence Billeter, seit der Ukraine-Konferenz auf dem Bürgenstock sind drei Monate vergangen. Schlafen Sie jetzt wieder gut?
Térence Billeter: Sogar sehr gut. In den Tagen danach merkte ich gar nicht, wie müde ich war, und fuhr ein paar Tage lang auf der gleichen Schiene weiter. Dann kam der Absturz: Mehr als zwei Wochen lang ging ich um acht Uhr schlafen. Dann kamen die Sommerferien, und jetzt schlafe ich wieder gut.
Was hat Sie am meisten gestresst?
Billeter: Das hing von der jeweiligen Phase ab. Die Vorbereitungen dauerten fünf Monate, dabei gab es unterschiedliche Phasen mit unterschiedlichen Belastungen. In den letzten paar Wochen vor der Konferenz waren es vor allem die vielen ausländischen Delegationen mit ihren Wünschen und Vorstellungen. Etliche stellten besondere Ansprüche, und es war nicht immer einfach, ihre Wünsche zu erfüllen, um es positiv auszudrücken.
Haben Sie das jeweils getan?
Billeter: Ich musste ziemlich stur bleiben, soweit es möglich war. Dann gab es politische Entscheide, und manchmal brauchte es Konzessionen, wenn es sich um besonders hochrangige Vertretungen handelte.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Billeter: Wir hatten beispielsweise eine Obergrenze von «eins plus zehn» festgelegt, also der Delegationschef oder die Delegationschefin plus zehn Begleitpersonen pro Delegation. Für etliche Länder war das schwierig, sie wollten mit eins plus 20 oder eins plus 30 anreisen. Also musste man diskutieren, und am Ende waren es manchmal etwas mehr als eins plus zehn. Andere haben insistiert, dass sie gepanzerte Fahrzeuge bekommen, auch wenn das aus Sicherheitsgründen nicht gerechtfertigt war. Wieder andere wünschten Verschiebungen mit dem Helikopter, nicht auf der Strasse.
Welche Verschiebungen?
Billeter: Zwischen dem Flughafen Zürich, wo die Delegationen landeten, und dem Bürgenstock gab es zwei Wege: entweder per Konvoi auf der Strasse oder mit dem Helikopter. Wir haben immer gesagt, dass wir das kurzfristig entscheiden, aufgrund der Sicherheit als wichtigstem Kriterium. Aber einige Delegationen wollten unbedingt den Helikopter nehmen, weil es schneller ging. Es gab viele solche Anfragen, manche höflich, manche weniger.
Wie haben Sie darauf reagiert – im Befehlston?
Billeter: Nein, nein, wir sind Diplomaten und bleiben stets höflich und ruhig. Manchmal muss man aber Klartext reden und sagen, das sei jetzt definitiv ein Nein.
Welches Erlebnis ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Billeter: Sehr viele. Die ganze Konferenz war so intensiv, dass ich kaum Zeit zum Nachdenken hatte. Es ging wirklich nur darum, zu funktionieren. Einen speziell schönen Moment fand ich, als alle Delegationen wieder abgereist waren, der Bürgenstock aber noch aus Sicherheitsgründen geschlossen war.
Erzählen Sie davon.
Billeter: Mit ein paar wenigen Kolleginnen und Kollegen, die noch da waren, hatten wir die ganze Anlage für uns – eine unwirkliche Ruhe. Wir waren alle todmüde, aber es war schön: die Sicht auf den Vierwaldstättersee, das prächtige Wetter. Es gab ein paar offene Flaschen und es lief ein EM-Fussballspiel, das wir zusammen schauen konnten.
Ein Kontrast zur Konferenz?
Billeter: Ja, ein paar Stunden zuvor war es noch völlig verrückt gewesen, und plötzlich herrschte diese Ruhe. Das war sehr schön.
Stellte Kamala Harris als eine der wenigen Frauen und zweithöchste Vertreterin der USA besondere Anforderungen ans Protokoll?
Billeter: Zu einzelnen Delegationen kann ich nichts sagen. Aber es ist in der Regel schon so, dass 20 Prozent der Delegationen etwa 80 Prozent der Arbeit ausmachen. Grössere Länder gehören tendenziell zu diesen 20 Prozent.
Muss man sich als Protokollchef vorgängig mit anderen Protokollchefs und -chefinnen austauschen, um mögliche Protokollkollisionen auszuräumen, oder ist es das Gastland, das jeweils bestimmt?
Billeter: Es ist letzteres. Jeder Protokolldienst ist in seinem eigenen Land zuständig. In der Schweiz sagt das Schweizer Protokoll, wie die Dinge laufen. Wenn wir aber einen hochrangigen Besuch in unserem Land vorbereiten, kommen manchmal Teams zum Rekognoszieren. Da sind auch Protokollleute dabei. Die schauen sich die Ausgangslage an, und manchmal werden gewisse Dinge ausgehandelt, wenn sie andere Vorstellungen haben als wir.
Wie wird das ausgehandelt?
Billeter: Sie fragen zum Beispiel, ob es nicht möglich wäre, dieses oder jenes anders abzuwickeln, weil es sonst für ihren Präsidenten oder ihre Ministerpräsidentin schwierig sei. Und dann spricht man darüber und findet eine Lösung. Normalerweise entscheiden aber wir, wie die Dinge laufen.
Wie muss man sich den Alltag eines Protokollchefs vorstellen?
Billeter: Ganz banal. Ich sitze oft vor meinem Computer oder telefoniere. Der Protokolldienst des EDA besteht aus rund 15 Leuten, aufgeteilt in zwei Sektionen. Die eine heisst «Privilegien und Immunitäten» und ist für die Betreuung ausländischer Diplomaten in der Schweiz zuständig. Das ist wie eine Gemeinde mit einer Bevölkerung von ungefähr 4000 Personen, die bei allen Problemen im Alltag betreut wird, vom Verkehrsunfall über die Schulkinder bis hin zu Steuerfragen. Die andere Sektion heisst «Besuche und Zeremonien» und betreut alle hochrangigen ausländischen Delegationen, welche die Bundespräsidentin oder den Aussenminister der Schweiz besuchen.
Ist Ihr Job langweilig, wenn nicht gerade eine Ukraine-Konferenz ansteht?
Billeter: Überhaupt nicht. Es gibt sehr intensive und auch ruhigere Perioden, abhängig von der Anzahl Delegationen, die kommen. Ich finde das höchst spannend. Es ist sehr konkret – mit einem klaren Anfang und Ende. Ich bekomme zum Beispiel von Bundesrat Ignazio Cassis die Information, dass ein Minister zu Besuch kommt und wir das an einem bestimmten Datum organisieren sollen. Also organisieren wir es, dann ist der Besuch da – und am Ende wissen wir, dass es geklappt hat –, beziehungsweise was nicht geklappt hat.
Ist die Vorbereitung von Besuchen aus Ländern wie China, USA oder Russland besonders anspruchsvoll?
Billeter: Sie ist etwas komplizierter, hauptsächlich wegen des Sicherheitsdispositivs. Das hängt aber nicht einfach von der Grösse oder Macht eines Landes ab. Für einen Besuch aus Israel etwa wären die Sicherheitsvorkehrungen ziemlich hoch, obwohl das Land nicht besonders gross ist. Wichtiger als die Grösse ist die Frage, in welchem politischen Kontext sich der Besuch abspielt. Es stimmt aber: Normalerweise sind grössere Länder stärker ins internationale Geschehen involviert und damit einem grösseren Risiko ausgesetzt.
War der Staatsbesuch des französischen Präsidenten Emanuel Macron vor einem Jahr speziell anspruchsvoll?
Billeter: Ich komme aus Genf, unweit der französischen Grenze, und merke im Zusammenhang mit Frankreich jeweils, dass wir Welsche eine Illusion der Nähe haben, weil wir die gleiche Sprache sprechen. Unsere politischen Kulturen sind doch ziemlich unterschiedlich. In solchen Momenten macht sich das bemerkbar.
Ist es dann schwieriger, die richtige Tischordnung hinzukriegen oder das Gruppenfoto richtig zu drapieren?
Billeter: Das nicht, denn da gibt es internationale Regeln, und die sind überall gleich. Wenn es Meinungsverschiedenheiten gibt, dann betreffen diese meist nicht die protokollarische Reihenfolge.
Sondern?
Billeter: Wenn es Differenzen bei den protokollarischen Vorbereitungen gibt, kann dies zum Beispiel die Anzahl der anwesenden Fotografen, den Umfang der Sicherheitsvorkehrungen oder die Grösse des Empfangskomitees an einem bestimmten Punkt des Programms betreffen. Es handelt sich oft um Dinge, die den reibungslosen Ablauf der Veranstaltung beeinflussen.
Sie haben chinesische Wurzeln. War das ein Vorteil beim Besuch des chinesischen Premierministers?
Billeter: Nun, in einem Beitrag des Schweizer Fernsehens wurde ich doch tatsächlich als chinesischer Premierminister präsentiert – worüber ich mich amüsiert habe (lacht). Nein, im Ernst: Es macht nicht wirklich einen Unterschied. Ich kenne die Kultur gut und kann gut nachvollziehen, warum die Chinesen irgendwo ein Problem haben oder auf gewissen Dingen beharren. Am Job ändert das aber eigentlich nichts.
Können Sie die protokollarischen Regeln mitgestalten, oder müssen Sie alles so übernehmen, wie es schon immer war?
BIileter: Sagen wir es so: Der Protokolldienst ist nie ein Vorreiter in Sachen Höflichkeitsregeln. Aber die Gesellschaft ändert sich ständig, und wir müssen das reflektieren. Wir müssen es beobachten und zur Kenntnis nehmen, dass es Änderungen gibt. Manchmal haben diese einen Einfluss darauf, wie wir Besuche handhaben.
Wo zum Beispiel?
Billeter: Lange lautete die Regel, dass man «Madame l’ambassadeur» sagt. In den letzten zehn Jahren hat sich das geändert, alle sagen nun «Madame l’ambassadrice». Früher gab es kaum homosexuelle Paare im diplomatischen Dienst – heute ist es üblich, dass auf einer Einladungskarte nicht nur «Monsieur l’ambassadeur» steht, sondern noch ein weiterer Monsieur. Man sieht also, dass es ein Paar ist. Vor 20 Jahren wäre das kaum vorstellbar gewesen, jetzt ist es absolut normal. Auch das Protokoll ist nicht statisch, es wird sich weiter entwickeln.
In welche Richtung?
Billeter: Ich kann mir vorstellen, dass zum Beispiel die Frage des dritten Geschlechts bald ein Thema werden könnte. Oder, ob wir weiterhin am Galadinner Fleisch servieren oder nicht.
In der Gesellschaft verliert der Knigge zunehmend an Bedeutung. Gilt das auch für das Protokoll?
Billeter: Ich sehe das anders. Jede Periode hat ihre Anstandsregeln. Sie verschwinden nicht, sondern wandeln sich. Ich habe drei Töchter im Teenageralter und weiss: Es gibt sehr wohl Regeln, nach denen junge Menschen interagieren. Ich kenne diese Regeln nicht, beobachte aber, dass sie sich von den meinigen unterscheiden. Wenn man Leute empfängt, braucht es Regeln, um Respekt zu bekunden. Das ist die Idee hinter dem Protokoll.
Welches ist der heikelste Teil des Protokolls?
Billeter: Das hängt vom Gegenüber ab. Persönlich finde ich Gespräche über Religion heikel. An einem Galadinner kein Schweinefleisch zu servieren, ist kein Problem. Heikel wird es aber, wenn zum Beispiel eine Delegation aus religiösen Gründen einen Museumsbesuch verweigert, weil da ein Bild einer nackten Frau ausgestellt ist. Wie gehen wir damit um? Gehen wir ins Museum oder nicht, machen wir einen Umweg oder sagen wir dem Museum, das Bild müsse entfernt werden? Dabei gehört diese Art der Malerei zu unserer Kultur.
Tragen Sie privat immer Krawatte?
Billeter: Ich schlafe sogar mit meiner Krawatte (lacht). Nein, natürlich nicht, die Krawatte gehört zu meiner Arbeitsuniform. Bevor ich mit dem Velo nach Hause fahre, ziehe ich sie aus.
Wie erholen Sie sich von den strengen Anforderungen Ihres Protokollalltags?
Billeter: Indem ich schlafe, ich bin ein grosser Schläfer. Ich lese viel, gehe gerne ins Kino – und mein Familienleben ist mir auch wichtig.
Térence Billeter (54) ist als Sohn einer Chinesin und eines Schweizers in Japan geboren und in Genf aufgewachsen. Nach dem Lizenziat in Philosophie, Chinawissenschaften und Geschichte erwarb er in Genf den Master in internationalen Beziehungen und in Paris den PhD in Politikwissenschaften. 2001 trat er in den diplomatischen Dienst ein, der ihn unter anderem als Botschaftsrat in die Schweizer Botschaft in Beijing und als stellvertretenden Missionschef nach Jordanien führte. Seit August 2023 leitet er den protokollarischen Dienst im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA). Térence Billeter lebt mit seiner Frau und den drei Töchtern im Alter von 12 bis 14 Jahren in der Nähe von Bern.