Am 9. Januar 2007 präsentierte Steve Jobs der Welt das iPhone und prophezeite damals «That changes everything», was sich als korrekte Vorhersage erweisen sollte. (Foto: Shutterstock)

«Das Internet? Gibt’s den Blödsinn immer noch?» – Homer Simpson.

Ja, den Blödsinn gibt es immer noch und wir sind mehr denn je von ihm umgeben. Angefangen vom Computer über das Smartphone, den Fernseher, Kühlschrank, Auto, Uhr, Alexa, alles ist mit dem Netz verbunden. Wir hören Musik über das Internet, schauen unsere Lieblingsserien und checken noch kurz, wann der Zug fährt – oder wo man etwas Feines zum Essen bestellen kann. Wir können dem Internet nicht mehr entkommen. Und gerade das macht uns Angst.

Was Mitte der 1990er-Jahre als Dienst zur Übermittlung von Informationen im CERN seinen Anfang nahm, entwickelte sich rasant weiter. Um Informationen zu übermitteln, müssen sie digitalisiert werden – aus ABC wurde 0101. Seither gilt: Was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert. Musik konnte dank der Digitalisierung plötzlich als MP3-Datei gehört werden, Filme waren auf YouTube verfügbar und alle User konnten eigene Filme hochladen. Von einem Moment auf den andern waren wir in der Lage, Bilder mit Freunden auf Facebook zu teilen, zu kommentieren und zu liken. Wir trafen Freunde aus der Schule auf Facebook wieder und zeigten unsere Ferienfotos auf Instagram. Das Internet lieferte uns Cat-Content – Katzenbilder und -filme, Influencer und Memes, was wollten wir mehr. Wir alle waren damals neugierig auf diese neuen Geräte und Kanäle, probierten vieles aus und machten uns auch Hoffnungen, was uns diese Entwicklungen alles bringen könnten.

«That changes everything»

Am 9. Januar 2007 präsentierte Steve Jobs an der MacWorld «one last thing», aber eigentlich war es «das nächste grosse Ding». Mit dem iPhone erhöhte sich die Geschwindigkeit der Digitalisierung um ein Mehrfaches. «That changes everything», meinte Steve Jobs damals prophetisch.

In den darauffolgenden Jahren lag der Duft von Revolution in der Luft. Die mit dem Smartphone verbundenen Möglichkeiten der Digitalisierung eröffneten ganz neue Visionen. Ich stelle mir das ähnlich vor, wie es gewesen sein muss, als Gutenberg den Buchdruck erfand. Nur dass jetzt auch noch eine neue industrielle Revolution hinzukam. Jeff Jarvis fasste das Gefühl der Stunde einmal wie folgt zusammen: «We no longer need companies, institutions, or government to organize us. We now have the tools to organize ourselves. We can find each other and coalesce around political causes or bad companies or talent or business or ideas.» Oder zusammengefasst: Das Internet befähigt mit seinen Instrumenten die Menschen, sich selbst zusammenzuschliessen und zu organisieren.

Ein Frühling in den arabischen Staaten, der schnell erstickt wurde

Wie aus der möglichen Revolution eine reelle wurde, zeigte sich schon kurz darauf in den arabischen Ländern. Bilder vom Tahrir-Platz in Kairo erreichten uns in Europa in Echtzeit. Die Menschen vernetzten sich in Ägypten und Tunesien über die Sozialen Medien und informierten sich gegenseitig über Behördenwillkür und ihre schwierige Situation. Nach einem kurzen Moment der Verwirrung schlugen die autokratischen Herrscher aber zurück. Sie setzten alles daran, die neuen Informations- und Vernetzungsmöglichkeiten zu neutralisieren. Der Wille, den freien Zugang zum Internet zu sperren, wurde in der Folge fast schon zu einer deutlichen Eigenschaft, die demokratische von autoritären Herrschaftsweisen trennt. Was wiederum die Macht des Internets untermauert.

Das Internet schien den progressiven Kräften einen Aufschwung zu verleihen. Dank des Internets konnten sich die Menschen auf der ganzen Welt vernetzen. Die Globalisierung war nicht mehr nur ein Traum der Wirtschaft, sondern schien wahr zu werden. Zum Wohle aller.

Bis die Digitalisierung beginnt, Verlierer zu produzieren

Alles lief eigentlich gut für das Internet und die Digitalisierung. Klar, gab es Verlierer, und die waren zurecht unzufrieden. Etwa die Musikbranche, die immer mehr unter Druck geriet. Oder die Filmbranche, die harte Herausforderungen zu bestehen hatte. Auch der Buchhandel geriet immer stärker unter Druck, doch sie alle kamen nicht um die Digitalisierung herum. So ging es etlichen anderen Branchen, und abseits von der Wahrnehmung der Öffentlichkeit breitete sich die Digitalisierungen immer mehr in der Wirtschaft aus. Systeme wurden digitalisiert, Abläufe dadurch optimiert, und die Angestellten mussten sich umschulen lassen oder wurden arbeitslos.

Dann der Paukenschlag 2016: Erst stimmten die Briten für den Brexit, dann wählten die Stimmenden in den USA auch gleich noch Donald Trump zum Präsidenten. An diesem Punkt fing die Stimmung vollends an zu kippen: Das Internet und die Sozialen Medien – also vor allem Facebook – wurden für den Ausgang beider Urnengänge verantwortlich gemacht.

Schon Obama nutze die Daten über Wählerinnen und Wähler

Dabei ging vergessen, dass vier Jahre zuvor schon Barack Obama die Wiederwahl nur geschafft hatte, weil sein Lager den Online-Wahlkampf revolutioniert hatte. Der deutsche Soziologe Christoph Kucklick beschreibt es in seinem Buch «Die granulare Gesellschaft» eindrücklich: «Obamas Datenteam wurde innerhalb kürzester Zeit eines der grössten des Landes – und kostete über den gesamten Zeitraum der Wahl mehr als 100 Millionen Dollar – wie kein anderer Politiker vor ihm hat er die digitale Auflösung des Wahlvolkes betrieben.»

Die Kampagnen der Brexit-Befürworter und von Trump führten die Arbeit von Obamas Datenteam einfach weiter und optimierten sie zusätzlich. Nur, dass das politische Pendel 2016 eben in die entgegengesetzte Richtung schwang. Dazu geriet die Stimmung im Internet aus der Balance und wurde allgemein viel gehässiger. Eine Entwicklung, die bereits in den Jahren zuvor zu beobachten war, sich aber in den beiden Ereignissen kumulierte.

Den grossen Tech-Giganten wie Google oder Facebook schaute man nun vermehrt auf die Finger. Facebook geriet aufgrund der Enthüllung im Zusammenhang mit der Brexit-Kampagne und den Datenauswertungen der Firma Cambridge Analytica massiv unter Druck. Viele beschuldigten die Firma, die politische Manipulation ihrer Userinnen und User zugelassen zu haben. Der Ton auf Social Media wurde allgemein rauer, ja sogar richtig hässlich. Hasskommentare und böse Angriffe auf Personen gehörten mehr und mehr zum Social-Media-Alltag. Der Traum einer grossen, vernetzten Gesellschaft, die positive Entwicklungen trotz räumlicher Distanz zustande bringt, zerbrach. Wie so viele Revolutionen frass auch die Internet-Revolution ihre Kinder auf.

Die Chancen der Digitalisierung wurden überverkauft

An dieser Stelle sollte man sich selbstkritisch die wichtigste Frage stellen: Warum waren wir so naiv zu glauben, dass der Mensch sich im Internet anders benimmt als im echten Leben? Warum nur hatten wir die Chancen und Hoffnungen, die Gesellschaft in neue Bahnen zu lenken, die mit dieser Technologie verbunden waren, überverkauft?

Aber die Geschichte von Internet und Digitalisierung ist ja noch nicht zu Ende geschrieben. Wie so oft, schwang das Pendel erneut in die entgegengesetzte Richtung aus. Denn durch den Brexit-Frust und Trump-Schock landeten viele wieder auf dem Boden der Tatsachen.

Dann kam 2017 die #metoo-Bewegung, 2018 folgte «Friday for Future», 2020 «#BlackLivesMatter», eine Bewegung, die seit 2013 bestanden hatte, aber 2020 mit dem von weissen Polizisten verschuldeten Tod des Schwarzen George Floyd im Internet und auf den Strassen erneut auf sich aufmerksam machte.

Die digitale Vernetzung hat nicht nur eine hässliche Fratze. Es gibt mehr als ein Dutzend Beispiele, wie das Internet Menschen verbindet und Schicksalen zur öffentlichen Wahrnehmung verhilft, die Lösungen und Verbesserungen zur Folge haben. Immerhin zeigt uns das Internet auch auf, wie divers wir alle sind – und immer mehr Menschen akzeptieren dies.

In der langen Geschichte der Menschheit gab es schon immer die Reaktionären, die Verweigerer, es gab schon immer Manipulation ganzer Gesellschaftsgruppen. Dagegen ist im Internet alles öffentlich und kann sofort unter die Lupe von Tausenden von Menschen geraten. Dazu ist es ein Ort, an dem Meinungen kumuliert und ganz schnell hochgespielt werden können.

Flucht nach vorne

Doch was sollen wir nun vom Internet halten? Das verdammte Ding ist immer noch hier und wir können ihm nicht ausweichen. Dieses Gefühl kann Ängste erzeugen. Oder wie es der italienische Philosoph Luciano Floridi in einem Interview mit der «WirtschaftsWoche» formulierte: «Es ist eine anthropologische Angst, die in uns steckt. In Erwartung des Unbekannten, des Ungewissen, des Unerwarteten sind wir immer besorgt. Wir sollten darüber hinwegkommen und uns wie Erwachsene verhalten.»

Wir können vor der Digitalisierung nicht mehr fliehen. Darum sollten wir ihr ins Auge schauen und wieder anfangen sie zu gestalten. Da hilft es, wenn wir nicht immer vom Schlimmsten ausgehen und uns vornehmlich auf die negativen Aspekte konzentrieren. Oder wie es Apple-Ikone Steve Jobs in einem Rat an College-Studierende formulierte: «Stay hungry. Stay foolish. Never let go of your appetite to go after new ideas, new experiences, and new adventures.»

Denn die Schweiz ist auch im Internet keine Insel. Andere Länder sind uns digital nicht nur auf den Fersen, sondern zum Teil schon weit voraus. Zwar kümmern sich gerade autokratische Regimes nicht um die Bedenken der Bevölkerung, die Angst vor Überwachung haben, sondern wollen um jeden Preis ihre Wirtschaft und Gesellschaft digitalisieren. Bei uns werden diese Staaten teils trotzdem als leuchtende Vorbilder angesehen: Weil sie schon die besseren Drohnen, die besseren Netzwerke, die besseren Batterien und selbstfahrende Autos entwickelt haben.

Genau hier fängt unsere Aufgabe an: Wir sollten aufzeigen, dass wir beides umsetzen können. Eine fortschrittliche Gesellschaft dank einer fortschrittlichen Digitalisierung. Wie auch im normalen Leben ist eine gesunde Prise Respekt kein Nachteil, aber wir sollten uns nicht lähmen lassen, sondern die neue Welt mitgestalten.