«Wir pflegen eine Ich-Kultur statt eine Wir-Kultur»

Der Polizeipsychologe Manfred Krampl über Gewalt und Terror, wie wir damit umgehen und weshalb unsere westliche Gesellschaft anfälliger dafür ist.

Der österreichische Polizeipsychologe Manfred Krampl. (Bild: zvg)

Was bringt Menschen dazu, Gewalttaten zu begehen?
Manfred Krampl: Wir kennen verschiedene Arten von Gewalttaten: Terroranschläge, Amokläufe an Schulen, Familientragödien. Es gibt nicht ein vorherrschendes Motiv für diese unfassbaren Taten. Kränkung kann ein Antrieb sein, beispielsweise wenn diese Person gerade entlassen worden ist. In der heutigen Gesellschaft ist unser Selbstbild etwas überzeichnet. Jeder lebt gewissermassen in seiner eigenen Welt. Bricht diese kleine Welt aufgrund eines aussergewöhnlichen Ereignisses zusammen, kann dies in die Krise führen. Nicht alle Menschen können eine solche Krise überwinden. Sie ticken dann aus.

Terrorismus und Amokläufe an Schulen – worin unterscheiden sich diese Gewalttaten?
Terroristen sind häufig auf der Suche nach der eigenen Identität. Meistens begehen sie ihre Taten, weil sie von einer Ideologie getrieben sind und sie sich dann mit einer bestimmten Weltanschauung identifizieren. Terroristen sind Fanatiker und oft latent suizidal – zwei Grundvoraussetzungen, um einen Terroranschlag durchzuführen. Bei Amokläufen an Schulen ist mangelndes Selbstwertgefühl Triebfeder der Tat: «Ich bin nichts wert, ich bin ein Versager, ich werde nicht beachtet». Minderwertigkeitsgefühle können bei einem Menschen dazu führen, dass er psychisch krank wird und sich entsprechend behandeln lässt. Der Minderwertigkeitskomplex kann aber auch zur Folge haben, dass es beim Betroffenen zu einer psychologischen Umkehr kommt. Er sagt dann: «Nicht ich bin der Böse, sondern alle anderen tragen die Schuld.» Die Folge sind Rachefantasien und manchmal dann ultimative Rachehandlungen. Der Amokläufer wählt gezielte Gruppen oder Personen aus und plant das School Shooting lange im Voraus. Erst findet es in seiner Fantasie statt, später wird es Realität.

Sind Terroristen Märtyrer oder psychisch Kranke? 
Als psychisch Kranke kann man Terroristen auf keinen Fall bezeichnen. Terroristen sind der Überzeugung, als Märtyrer zu sterben. Sei es nun im Auftrag einer Organisation wie Al-Qaida oder aus eigenem Antrieb. Hier spielt der Werther-Effekt (Nachahmung von erweiterten Selbstmorden durch ausführliche Berichte in den Medien, die Red.) eine zunehmend bedeutendere Rolle. Terroristen wollen mit einem erweiterten Suizid auf sich aufmerksam machen: «Schaut, ich bin wer, ich kann etwas bewirken, ich diene darüber hinaus mit der Tat noch einer Sache».

Wie sehen die letzten Stunden im Leben eines Märtyrers aus?
Wenn die Tat einen religiösen Hintergrund hat, ist sie meistens mit irgendwelchen Ritualen verbunden: Körperreinigung, Kleidung, Gebete sprechen. Hinzu kommt die Vorfreude auf das Leben nach dem Tod. Terroristen sind oft davon überzeugt, dass sie durch die Tat zu vollwertigen Persönlichkeiten werden. Manchmal tauchen im Nachgang von Terroranschlägen Tagebucheinträge der Attentäter auf mit Anweisungen für die Nachwelt – so geschehen anlässlich der Anschläge am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York.

Kann man einen Terroristen überhaupt noch von seinem Vorhaben abbringen?
Es ist immer eine Frage des Zeitpunktes. Ein Terrorist hat in der Regel mit seinem Leben abgeschlossen, wenn er zur Tat schreitet. Will man ihn von seinem Vorhaben abbringen, müsste eine Brücke zum «alten» Leben des Terroristen gebaut werden; beispielsweise in dem man ihn darauf hinweist, dass sein Vater nach der Tat enorm leiden würde. Theoretisch könnte ein solches Gespräch zur Folge haben, dass sich der Terrorist ergibt, weil er zur Erkenntnis kommt, dass es sich lohnt, weiterzuleben. Aber dies ist wirklich nur sehr selten möglich.

Spielt das Umfeld für die Ausübung einer terroristischen Tat eine grosse Rolle, oder entsteht der Antrieb aus einem destruktiven, brutalen Wesenskern?
Der Antrieb muss nicht unbedingt aus einem destruktiven Wesenskern entstehen. Die meisten Terroristen begehen eigentlich eine Verzweiflungstat, um Selbstwirksamkeit zu finden. Sie selbst sind der Überzeugung, dass sie mit der Tat etwas «Sinnvolles» tun.

Wann überschreitet ein Täter die Grenze von Wut, Hass oder Trauer und ist bereit, sein Leben und das Leben anderer auszulöschen?
Ihre Frage betrifft weniger die Terroristen als vielmehr die Amokläufer, welche im Vorfeld ihrer Tat ihre späteren Opfer entmenschlichen und sich an jenen rächen wollen, die zu ihrer Kränkung beigetragen haben sollen. Amokläufer sehen in den anderen keine Menschen, sondern Figuren wie in einem Spiel. Aus einer Tötungsfantasie wird allmählich Wirklichkeit. Wir wissen, dass zahlreiche Täter – es sind praktisch ausschliesslich Männer – mehrere Phasen durchlaufen. Erst schiessen sie beispielsweise auf personalisierte Melonen, später auf ganz bestimmte Personen.

Was bewegt Amokläufer?
In den meisten Fällen erfolgt der erweiterte Suizid aus Rache aufgrund einer Kränkung. Der Amokläufer will mit seinem Selbstmord ein Zeichen setzen: Niemand mehr hat Macht über mich.

Welche Bedeutung hat der Suizid für einen Amokläufer?
Es geht ihm um die Erhaltung seiner Macht. In Abschiedsbriefen haben Amokläufer nach School Shootings oder Familientragödien häufig darauf hingewiesen, was die Gesellschaft mit ihnen alles gemacht habe. Sie empfanden dies als ungerecht. Mit ihrer Tat würden sie alles wieder ins rechte Licht rücken und der Welt zeigen, dass man so etwas Böses nicht mehr tun sollte. Die Täter propagieren altruistisches Gedankengut.

Häufig fallen diese Menschen bis zu ihrer Gewalttat nicht auf. Können Sie etwas über die Psyche der Täter sagen? Welche Persönlichkeitsmuster weisen solche Täter auf?
Es gibt Erkenntnisse aus Fallstudien. Diese Leute sind eher introvertiert, sie leben zurückgezogen und pflegen fast keine sozialen Kontakte. Sie sind meist depressiv und neigen dazu, Probleme nicht nach aussen zu tragen, sondern sie in der eigenen Welt zu lösen. Teilweise äussern diese Menschen Selbstmordgedanken. Sie zeigen suchtbedingte Auffälligkeiten, trinken im Verborgenen Alkohol und begehen Medikamentenmissbrauch. Es sind Menschen, die sich in einer Identitätskrise befinden.

Wie zeichnet sich eine Identitätskrise ab?
Die Person beklagt den Verlust des Selbstwertes und der Selbstwirksamkeit. Wir leben in einer schnelllebigen, globalen Umwelt; wir stellen Werte, Rechte, Glaubensgrundsätze und Traditionen in Frage – für Menschen in Identitätskrisen kann dies zu einem «explosiven» Cocktail werden.

Lässt sich zurückverfolgen, ob die Täter eine harmonische und liebevolle Kindheit genossen haben, oder werden bereits da die Weichen gestellt?
Das ist eine schwierige Frage. Häufig lassen sich in der Kindheit eines Täters Probleme erkennen. Gerade bei Amokläufen an Schulen gibt es Anzeichen, dass die jugendlichen Täter oftmals in schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen und von den überforderten Eltern vernachlässigt worden sind. Ich möchte aber betonen: Viele Menschen meistern ihr Leben gerade deswegen grossartig, weil sie eine schwierige Kindheit gehabt haben.

Wie kann eine spätere Gewalttat allenfalls frühzeitig erkannt werden? Würde es Anzeichen geben?
Anzeichen kann es zumindest bei Amoktaten geben, ist bei den Tätern im Vorfeld doch häufig eine Veränderung in ihrem Verhalten zu erkennen. Hinweise auf eine bevorstehende Tat können versteckte Äusserungen sein, entsprechende SMS-Botschaften, verdächtige WhatsApp-Beiträge oder Facebook-Posts. Die Problematik: Wie soll man sich verhalten, wenn man solche Zeichen erkennt? Was soll man tun, wenn der Betroffene keine Bereitschaft zeigt, sich in Behandlung zu begeben oder Unterstützung verweigert? Es gibt einen rechtlichen Aspekt; denn es stellt sich die Frage, inwieweit man jemanden zwingen kann, seine Probleme offen zu legen. Nur wenn sich der Betroffene öffnet, besteht die Möglichkeit, eine eskalierende Gewalttat zu verhindern.

Wie können wir uns vor Gewalttaten wappnen? Sind wir an der Entwicklung der Gewaltkriminalität mitschuldig?
Unsere Gesellschaft ist mitschuldig an der eskalierenden Gewaltkriminalität. Wir pflegen eine Ich-Kultur statt eine Wir-Kultur. Das führt dazu, dass Menschen unter Druck geraten, mitunter überfordert sind und ihr Leben nicht mehr im Griff haben: «Du musst funktionieren, du musst das können». Wer das nicht schafft, bekommt ein Problem. Die eskalierenden Gewalttaten sind für uns nur die Spitze des Eisbergs. In anderen Bereichen, so zum Beispiel bei psychischen Krankheiten, Depressionen und Suizidgefahr, herrscht grosser Handlungsbedarf – trotz ausgezeichneter Präventionsarbeit. Die japanische Sprache könnte hier ein Vorbild sein.

Weshalb?
Ich erzähle Ihnen eine Anekdote von Bruno Bettelheim (US-amerikanischer Psychoanalytiker und Kinderpsychologe österreichischer Abstammung, die Red.). Er ging mit 80 Jahren nach Japan. Dort stellte er fest, dass das japanische Schriftzeichen für das Wort «Mensch» so aussieht, wie zwei Menschen, die aneinander lehnen. Ihm ist bewusst geworden: In der Psychoanalyse ist das Wesentliche vergessen gegangen – das Wir. Es gibt kein Ich ohne das Du. Wir brauchen den anderen, um uns zu vergleichen, anzunähern und abzugrenzen.

Wie sollen wir auf Gewaltexzesse reagieren?
Jede Erwähnung und Darstellung von Gewaltexzessen in den Medien und in den sozialen Netzwerken kann zu einem Werther-Effekt führen. Es gibt immer wieder einzelne Betroffene irgendwo auf der Welt, die ein Massaker als Beispiel nehmen, um selber eine derartige Straftat zu begehen. So trugen die Täter bei späteren School Shootings genau die gleichen Kleider wie jene, welche den Amoklauf an der Columbine High School in den USA 1999 begangen hatten.

Sollten die Medien nicht mehr über Gewaltexzesse berichten?
Es ist eine Illusion, dramatische Straftaten totzuschweigen. Damit bleibt ein Restrisiko des Werther-Effekts bestehen.

Sind westliche Gesellschaften empfindlicher für Gewaltexzesse?
Die Anforderungen an das Selbstbild sind im Westen höher als in anderen Regionen. Andererseits ist es in ärmlicheren Gegenden, wo man nicht einen derartigen Wohlstand hat wie im Westen, wahrscheinlich leichter, Leute zu radikalisieren, weil sie in der Ideologie eine Sicherheit finden. Ich denke, dass der Westen anfälliger ist für Gewaltexzesse als andere Regionen der Welt.

Wie gehen Menschen, die bei einer Tat im unmittelbaren Umfeld anwesend waren, mit dieser Belastung um?
Das ist ganz unterschiedlich und kommt auf die betroffene Person an. Es gibt Menschen, die an der Tat zerbrechen oder deswegen zeitlebens ein Trauma erleiden. Andere wiederum gehen gestärkt aus einer derart dramatischen Situation heraus. Sie merken, dass sie etwas durchstehen und verarbeiten können. Man spricht dann vom Resilienz-Effekt.

Gespräch: Thomas Wälti

Manfred Krampl ist Leitender Psychologe im Landesrettungskommando Tirol. Der renommierte Referent und Lektor an der Universität Innsbruck war bis zu seiner Pensionierung 2016 Polizeipsychologe. In dieser Funktion führte er Verhandlungen mit Tätern, Geiselnehmern und Suizidenten. Der 63 Jahre alte Krampl ist verheiratet und wohnt in Innsbruck. Das #influence-Gespräch ist im Rahmen der Internationalen Kriseninterventionstagung in Innsbruck geführt worden. Der Anlass wurde vom Österreichischen Roten Kreuz organisiert.

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