«Die EU hat ein Demokratiedefizit»

Im Interview spricht der ehemalige österreichische Vizekanzler Erhard Busek über den Brexit, die Ost-West-Gegensätze und das Verhältnis zwischen EU und der Schweiz.

Influence traf den ehemaligen österreichischen Vizekanzler Erhard Busek anlässlich der Veranstaltung «Aussenpolitische AULA» in der Universität Bern. (Bild: Susanne Goldschmid)

Die EU feierte letztes Jahr das 25-Jahr-Jubiläum des Binnenmarktes. Ist Europa nach wie vor ein Erfolgsprojekt?
Erhard Busek: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zeigte die Gründung der Europäischen Union vielen kommunistischen Ländern eine Perspektive auf, wie ihre Zukunft aussehen könnte. Das war für diese Länder sehr attraktiv, sie drängten sozusagen in die EU. Von daher ist Europa ein Erfolgsprojekt. Auch wirtschaftlich kann man die EU als Erfolgsprojekt bezeichnen. Aber: Von der Vision der Gründerväter, die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen, sind wir weit entfernt. Europa trat vor dem Ersten Weltkrieg geeinter auf als heute.

Das ist eine erstaunliche Feststellung. Wie meinen Sie das?
Das Leben der Menschen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Feudalismus geprägt, denken Sie nur an die zahlreichen Monarchien, die Europa prägten. Die Staatsoberhäupter, Kaiser und Könige, waren oft miteinander verwandt. Heute sind unsere Gesellschaften – auch als Folge der demokratischen Entwicklung – vielgestaltiger geworden. Die Individualisierung der Menschen und der Staaten hat Europa stark verändert.

Was bereitet Ihnen heute mehr Sorgen – der Brexit oder die aufbrechenden Ost-West-Gegensätze?
Das ist eine gute Frage. Der Brexit bereitet mir mehr Sorgen, weil die Gefahr sehr gross ist, dass Grossbritannien auf die Dauer aus Europa wegbricht. Allerdings weiss heute niemand, wohin die Briten hinsteuern werden. Das wissen ja selbst die Briten nicht. Die aufbrechenden Ost-West-Gegensätze haben mit einer unterschiedlichen Geschichte zu tun. Die ehemals kommunistischen Länder müssen erst noch richtig in die Europäische Gemeinschaft hineinwachsen. Das braucht Zeit. Wobei ich festhalten möchte: In diesen Ländern ist die Zustimmung zur EU bei der Bevölkerung ungleich höher als bei den langjährigen EU-Mitgliedstaaten. Leider muss man auch feststellen, dass der sogenannte Westen in Europa eine gewisse Arroganz gegenüber diesen Neuankömmlingen in der Europäischen Union hat.

Wie sehen Sie die Zukunft Europas nach dem Brexit?
Ich frage Sie: Wie eigenständig kann Europa überhaupt noch sein? Der Brexit ist nur Teil des Problems. Europa – und damit meine ich nicht nur die EU-Staaten – macht 7 Prozent der Weltbevölkerung aus und ist für 20 Prozent der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verantwortlich. Wir konsumieren aber 50 Prozent des globalen Reichtums. Das kann nicht aufgehen. Die Gefahr ist gross, dass Europa nicht erkennt, dass es sich in einer sich rasant ändernden Welt neu positionieren muss. Wir sind noch immer überzeugte Eurozentriker – in Tat und Wahrheit sind wir längst nicht mehr der Nabel der Welt.

Weshalb nicht?
Im globalen Verschiebungsprozess spielt Europa eine untergeordnete Rolle. Bei den grossen geopolitischen Themen und Konflikten kommt Europa gar nicht mehr vor, zum Beispiel im Syrien-Krieg. Die Chinesen treten in Europa dominanter auf als die Europäer in China. Und im Bereich der Digitalisierung beherrschen Technologiekonzerne aus China (Huawei) und den USA (Emerson) den Markt. Europa hat es in diesem Sektor nicht geschafft, ein Global Player zu werden. Silicon Valley gibt es in Kalifornien, nicht aber in Europa, wobei wir sicher die Kapazität hätten, aber nie zueinander gefunden haben.

Ein ebenso grosses Thema ist die Entfremdung von Ost und West in Europa. Weshalb ist es überhaupt so weit gekommen?
Das Thema ist nicht neu. Die Entfremdung war schon immer da. Neu ist, dass sie voranschreitet. Die Westeuropäer haben nach dem Fall der Mauer nicht erkannt, dass sich 70 Jahre sowjetische Geschichte nicht einfach wegschieben lassen. Wir denken nach wie vor, dass die ehemals kommunistischen Länder nun eine Demokratie haben und sie nun all ihre Probleme lösen können. So einfach geht es nicht. Alle tragen ihre Geschichte und Strukturen mit sich herum, die sich im Laufe der Jahrzehnte in die Gesellschaften eingraviert haben.

Auch die Österreicher?
Ja, auch die Österreicher. Es macht mich jeweils fassungslos, wenn ich nach Katalonien reise. Da werde ich doch tatsächlich auf den verlorenen Krieg des späteren Kaisers Karl VI. im Jahr 1712 gegen die Bourbonen angesprochen. Hätte Karl VI den Krieg gewonnen, würde es den Katalanen heute besser gehen, wird mir über 300 Jahre nach diesem Ereignis fast vorwurfsvoll beschieden. Die Geschichte kann auf eigentümliche Weise zurückschlagen. Die Briten glauben heute immer noch an das Commonwealth, Wladimir Putin kokettiert mit der Sowjetgeschichte und dem Zarentum, und ein Teil der Türken sehnt sich nach dem Osmanischen Reich zurück. Ich wünschte mir mehr Zukunftsdiskussionen.

Warum ist der Neo-Nationalismus in Europa derart auf dem Vormarsch?
Wir leben in einer sehr bewegten Zeit, die eine Menge neuer Herausforderungen bereithält. In solchen Situationen verbreitet sich Angst. Diese Angst führt dazu, dass man sich selbst beschützen will und deshalb sagt: «Wir zuerst» oder «America first!» In diesem Moment weisen viele auf ihre eigene Bedeutung hin und verlieren dadurch den Blick für den anderen. Es gibt einen Wiener Spruch, der den Neo-Nationalismus kennzeichnet: «Jeder denkt an sich, nur ich denke an mich!» Im Grunde genommen ist der Neo-Nationalismus nichts anderes als Egoismus. Da stellt sich mir die gravierende Frage: Ist der Nationalstaat überholt?

Ihre Antwort?
Wir Europäer bilden uns ein, unsere Probleme allein lösen zu können. Dabei sind wir längst voneinander abhängig und miteinander vernetzt, sodass ein einzelner Nationalstaat gar nicht mehr handlungsfähig ist. Das begreifen viele Menschen nur schwer. Und die Politik gibt dies nicht gerne zu. Denn dadurch würde die Bedeutung der handelnden nationalen Akteure sinken.

Fühlen sich die mittel- und osteuropäischen Länder von Brüssel betrogen?
Betrogen würde ich nicht sagen, aber unverstanden. Die mittel- und osteuropäischen Länder wissen, dass sie von Brüssel viel Geld erhalten haben. Ich kann nachvollziehen, dass die Menschen dieser Länder irritiert sind von der Arroganz, mit welcher ihnen die Westeuropäer gewöhnlich begegnen. Wir müssen lernen, die Geschichte dieser Menschen zu begreifen. Sie haben sich in ihrer kommunistischen Vergangenheit unterschiedlich entwickelt – wirtschaftlich, sozial und kulturell. Es hat ungemein lange gedauert, bis überhaupt Mittel- und Osteuropäer Funktionen bei der EU erhalten haben. Der Pole Jerzy Buzek war der Erste, er wurde 2004 als Abgeordneter ins Europäische Parlament gewählt, um dann der erste Präsident des Parlaments aus Ostmitteleuropa zu sein – das allerdings nur ganz kurze Zeit. Allein das ist ein Zeichen dafür, dass man den Partner in der Vergangenheit nicht sehr ernst genommen hat.

Welche Rolle spielt Russland im Ost-West-Konflikt?
Das ist eine ganz wichtige Frage. Gelingt es uns, ein vernünftiges Verhältnis zu Russland aufzubauen? Das haben wir im Nachgang der Wiedervereinigung von Deutschland versäumt. Man gab das Versprechen ab, keine Nato-Stützpunkte an der russischen Grenze aufzubauen – es wurde dennoch getan! Auch das hat wieder mit Arroganz zu tun. Die Russen kommen seit der chaotischen Jelzin-Ära nicht mehr richtig auf die Beine. Obwohl Russland wieder eine gewisse militärische Stärke erlangt hat, ist die wirtschaftliche Kraft des flächenmässig grössten Landes der Erde nicht sehr hoch. Streckenweise ist das Bruttonationalprodukt Russlands so gross wie jenes der Schweiz. Die Russen verlassen sich auf ihre Energiereserven. Zudem leiden sie unter den vom Westen verhängten Wirtschaftssanktionen. Und China stellt für die Russen eine Bedrohung dar: Die Russen sind nervös, weil die Chinesen immer weiter nach Ostsibirien vordringen, weil sie hoffen, dort Energiequellen zu finden.

Autokraten üben in vielen Ländern ihre Macht aus, und Populisten werden gefeiert. Wie soll und kann Europa darauf reagieren?
Die EU hat ein Demokratiedefizit. Die Demokratie hat sich nicht in dem Ausmass weiterentwickelt, das nötig wäre, um die aktuellen Probleme zu lösen. Wir führen sehr viele vordergründige Diskussionen. Das Tempo unserer Zeit führt zu populistischen Lösungen. Erlauben Sie mir eine kritische Bemerkung: Die Qualität der Politiker in Europa ist nicht sehr hoch. Es fehlen Figuren der Orientierung. Charles de Gaulle und Konrad Adenauer waren solche Persönlichkeiten, lange Zeit auch Angela Merkel.

Kann die EU überhaupt mit einer einheitlichen Stimme sprechen?
Im Moment tut sie das nicht. Die Politiker in den einzelnen Ländern wollen sich von ihren Amtskollegen unterscheiden. Deshalb sagen sie bewusst etwas anderes, um in den Medien eine Meldung zu bekommen. Heute tauschen sich die Politiker über die Medien aus und nicht mehr im gemeinsamen Gespräch. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Die EU sollte mit einer einheitlichen Stimme sprechen. Der Brexit ist diesbezüglich eine angenehme Überraschung. Die Art und Weise, wie die EU in dieser Angelegenheit gemeinsam reagiert hat, ist positiv zu werten. Sie hat sich in dieser Frage nicht in ihre Einzelteile aufgelöst, sondern ist als Einheit aufgetreten.

Wo könnte Europa noch eine gemeinsame Identität finden?
Im Bereich der Bildung beispielsweise. Das EU-Austauschprogramm «Erasmus» fördert die Zusammenarbeit der europäischen Universitäten sowie den Austausch von Studenten. Nur: Bei der EU gibt es keine direkte Bildungskompetenz. Bildungspolitik wird nach wie vor national geregelt. Solange das so ist, können wir mit den Universitäten in den USA nicht konkurrieren.

Donald Trump will eine Mauer errichten, die AfD in Deutschland fordert den Einsatz von Schusswaffen an der Grenze, und Ungarns rechtskonservativer Regierungschef Viktor Orban schützt sein Land mit Stacheldrahtzäunen vor einer Flüchtlingswelle. Was bedeutet dies für die europäischen Ideale der Demokratie, der Freiheit und der Solidarität?
Für die Ideale der Menschenrechte ist das Geschilderte eine ungeheure Niederlage. Die Migrationsfrage haben wir nicht bewältigt, wobei das nichts Neues ist. Ich denke an die Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Westverschiebung Polens um 200 Kilometer. Wanderungen hat es immer gegeben. Dass diverse Politiker Mauern und Zäune bauen, ist sinnlos und löst ungeheure Aggressionen aus. Die längste Mauer, die es gibt, ist die Chinesische Mauer – und die hat nichts verhindert. Sie ist eine touristische Leistung.

Ist der Weltfrieden gefährdet?
Der Dritte Weltkrieg ist mit vielen Teilkriegen schon im Gang. Die Medien – und damit meine ich besonders Fernsehstationen wie Fox News, aber auch russische und chinesische TV-Sender – führen Informationskriege. Es gibt Handelskriege, Cyberkriege und lokale Konflikte, wie das Beispiel Syrien zeigt. Die Waffen haben nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nur ganz kurz geschwiegen.

Wie würden Sie das Verhältnis der Schweiz zur EU beschreiben?
Im tiefen Inneren haben die Schweizer begriffen, dass sie ihr Verhältnis zur EU überdenken müssen. Das mag ein bisschen wehtun. Und es wird Anpassungsschwierigkeiten geben. Meine Schweizer Freunde erklärten mir einst, weshalb sie für den Beitritt zum Schengen-Raum und damit für die Abschaffung der systematischen Personenkontrollen waren: «Stehen Sie einmal bei der Passkontrolle am Flughafen hinter lauter Afrikanern an.» Das aggressive Zitat zeigt die Rationalität der Schweizer zu begreifen, dass es dann doch eine gemeinsame Lösung geben muss. Ich finde es zu viel verlangt, wenn man erwartet, dass die Schweizer begeistert sein müssen, bei der EU da und dort mitzutun –, vernetzt mit der Europäischen Union ist die Schweiz ja ohnehin. Unabhängig davon hat die Schweiz bis jetzt recht geschickt agiert. Die Schweiz zahlt einen hohen Preis für ihre erfolgreiche Eigenständigkeit. Sie hat sich dadurch viele Kriege erspart.

Ist der bilaterale Weg mit der EU zukunftsweisend?
Das ist eine sehr gute Frage. Sollte es zu mehr Integration kommen in der EU – im Moment sieht es nicht danach aus –, wird es für die Schweiz schwieriger. Mehr Integration hätte für sie zur Folge, dass sie sich noch mehr anpassen müsste. Ich bewundere die rational denkenden Schweizer.

Weshalb?
Als Vizekanzler hatte ich in Österreich auch mit der Verteidigung zu tun. Diesbezüglich ist die Schweiz mit ihrer Neutralität ein ganz wichtiger Orientierungsfaktor. Sie hat die Neutralität ja ernster genommen als wir. Ich weiss, dass die Schweiz in einem Ernstfall die Fähigkeit hätte, sich rasch in die Nato zu integrieren. Das finde ich im positiven Sinn so typisch für das Schweizer Verhalten. Die Schweiz hat eine hohe Rationalität, was das Überleben sichert.

Soll die Schweiz Mitglied der EU werden?
Will die Schweiz direkt mitbestimmen, bleibt ihr nichts anderes übrig. So wie sich die Lage heute präsentiert, hat die Schweiz halt immer das Problem, nachkonsumieren zu müssen, was sich in der Europäischen Union entwickelt. Aufgrund der inneren Schwierigkeiten läuft in der EU diesbezüglich nicht sehr viel. Daher besteht im Moment nicht unbedingt ein Bedürfnis, dass die Schweiz Mitglied der EU werden soll. Allerdings: Die Schweiz sollte den Dialog mit den EU-Staaten verstärken und versuchen, durch Aktivitäten unter Darstellung ihrer Position innerhalb der EU mehr präsent zu sein.

Was ist der Schweizer Finanzplatz noch wert?

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