Gandhi
Grossbritannien / Indien 1982, von Richard Attenborough, mit Ben Kingsley, Candice Bergen, Edward Fox, John Gielgud, Trevor Howard, John Mills und Martin Sheen

Spoiler-Alert
Das dreistündige Epos beginnt 1948 mit Gandhis Ermordung und Staatsbegräbnis, bevor es ins Südafrika des Jahres 1893 zurückblendet, wo sich der junge Anwalt Mohandas K. Gandhi gegen rassistische Praktiken und Gesetze wehrt. Er entwickelt das Konzept der friedlichen Non-Kooperation und wird zum Helden der indischen Gemeinschaft.

1915 kehrt er nach Indien zurück und übernimmt eine Führungsrolle in der Unabhängigkeitsbewegung. Er überzeugt seine Mistreiter, nicht auf Gewalt, sondern auf friedliche Non-Kooperation zu setzen, und organisiert unter dem Titel «a day of prayer and fasting» einen umfassenden Generalstreik, der den Briten die Fragilität ihrer Herrschaft vor Augen führt.

Unter dem Motto «it is not only generals who know how to plan campaigns» organisiert Gandhi eine Kaskade von Widerstandsaktionen, etwa den Salzmarsch, die zu wichtigen Etappenerfolgen führen. Trotzdem wird die Unabhängigkeitsbewegung ein Vierteljahrhundert lang immer wieder zurückgeworfen, durch die Verhaftung von Gandhi und seinen Mistreitern, durch Gewalt der Briten gegen die indische Bevölkerung, aber sporadisch auch durch Gewalttätigkeit gegenüber den Repräsentanten der Kolonialmacht, was Gandhi jeweils innehalten lässt.

Gandhi strebt nicht die möglichst baldige Unabhängigkeit an sich an, sondern insistiert auf der Erfüllung mehrerer Rahmenbedingungen: Eine schmale indische Elite soll nicht einfach die Rolle der Engländer übernehmen, die Stellung der Unberührbaren und der Frauen muss verbessert werden, die Trennung von den Briten soll freundschaftlich verlaufen. In einem unabhängigen Indien sollen Hindus, Muslime, Sikhs und weitere Religionsgemeinschaften friedlich zusammenleben können. Dass trotz seines maximalen Engagements inklusive mehrerer Hungerstreiks die Unabhängigkeit von den Briten zu zwei Staaten, verbunden mit Vertreibung und Blutvergiessen, führt, empfindet er als grosse Niederlage. Der interreligiöse Konflikt führt letztlich auch zu seiner Ermordung durch einen fanatischen Hindu.

Sehenswert für
Ein gleichermassen ergreifendes und opulentes Biopic über eine politisch und moralisch epochale Figur und ein detailreiches Lehrstück über ihre raffinierte Strategie der gewaltfreien Non-Kooperation – wenn auch die Perspektive britisch geprägt ist und Gandhis Psychologie vielleicht etwas komplexer war.

Siegreiche Strategie
Gandhi fokussiert seinen gewaltfreien Widerstand auf Gesetze, die dem Gerechtigkeitsgefühl widersprechen, etwa rassistische Regelungen bezüglich Heiraten und Pässen in Südafrika und das königliche Salzmonopol in Indien, und verstösst öffentlich gegen sie. Für seine Verbündeten bedeutet dies eine Empowerment-Erfahrung, die Machthaber stellt es vor lauter schlechte Alternativen: Teilweise setzen sie ihre rassistischen und kolonialistischen Gesetze mit Gewalt durch, was aber einer Bevölkerungsmehrheit im Heimatland unverhältnismässig und ungerecht erscheint und die Zweifel am eigenen Gebaren als Kolonialmacht verstärkt – in Gandhis Worten: «Through our pain we will make them see their injustice.» Wenn die Kolonialherren die Gesetzesverletzung akzeptieren oder das Gesetz ändern, gestehen sie eine moralische und politische Niederlage ein und schwächen ihre Position im Hinblick auf die nächste Auseinandersetzung, die sich der gewaltfreie Widerstand unweigerlich suchen wird.

Die grössere Herausforderung als die Umsetzung der Strategie besteht für Gandhi in ihrer internen Mehrheitsfähigkeit. Ungehalten reagiert er insbesondere, wenn sie als «passiver Widerstand» abgelehnt wird («I, for one, have never advocated passive anything»). Die Strategie ist in der Umsetzung mit Schmerzen verbunden, aber der Underdog übernimmt so das Szepter: «The function of a civil resister is to provoke response. And we will continue to provoke until they respond, or they change the law. They are not in control – we are. That is the strength of civil resistance.»

Der Film arbeitet anschaulich die Bedingungen heraus, unter denen diese Strategie in Indien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts funktioniert hat: Der Appell an die Menschlichkeit und den Gerechtigkeitssinn richtet sich an eine Kolonialmacht am anderen Ende der Welt, in deren Bevölkerung und Politik Skepsis gegenüber dem eigenen Kolonialreich bereits auf dem Vormarsch ist, deren Repräsentanten vor Ort rationalen Güterabwägungen mehrheitlich offen gegenüberstehen und deren Justizapparat selber an den Gesetzen zweifelt, die er sich anzuwenden gezwungen sieht. Eine grosse Rolle spielen auch die Medien aus England und den USA, im Film insbesondere durch einen Journalisten der New York Times personifiziert, der Gandhi durch sein ganzes politisches Leben begleitet. Ein kurzer Dialog, ob Gewaltfreiheit auch gegen Hitler funktioniert hätte, erhält im Film kein bejahendes Fazit.

Erfolglose Strategie
Weder mit körperlicher Gewalt seitens Militär und Polizei noch mit dem Justizsystem können die Kolonialherren die Unabhängigkeitsbewegung bezwingen, auch Versuche, sie zu Gewalt zu provozieren oder sie zu ignorieren («It’s only symbolic if we choose to make it so»), funktionieren nicht.

Wie wird Politik dargestellt?
«Mr. Gandhi is a shrewder man than you will ever meet, however otherworldly he may seem»: Das ist das Fazit von General Smuts, dem südafrikanischen Premier, als er kapituliert, einen sichtlich körperlich misshandelten Gandhi in Gefängnisklamotten in die Freiheit entlässt und ein rassistisches Gesetz aufhebt. Er erkennt unschwer, wie später die britische Kolonialherren in ihren Palästen in Indien, wie raffiniert Gandhi vorgeht, aber ist gegenüber der moralischen Strahlkraft des zivilen Widerstands letztlich machtlos. Was im Ashram – teilweise auch im Gefängnis – ausgeheckt, in den Salons der indischen Oberschicht geplant und auf Partei- und ähnlichen Versammlungen auf einer breiten Basis organisiert wird, setzt sich gegenüber den vermeintlichen Machtzentralen in Pretoria und Delhi langsam, aber unaufhaltsam durch.

Themen
Unabhängigkeitsbewegungen, Dekolonialisierung, Imperialismus, Rassismus, Empowerment

Zitat
«In the end you will walk out. Because one hundred thousand Englishmen simply cannot control three hundred fifty million Indians if the Indians refuse to co-operate. And that is what we intend to achieve – peaceful, non-violent, non-co-operation. Until you yourself see the wisdom of leaving, your Excellency.»

Das Persönliche wird politisch

Politik im Film #2: Wie der Schritt aus der Privatsphäre Mehrheitsverhältnisse kippt.

Das Timing entscheidet

Politik im Film #6: Wie in «Lincoln» die Sklaverei 1865 abgeschafft wird

Grosse Diktatoren sind gar nicht so gross

Politik im Film #11: Wie Charlie Chaplin Tyrannen der Lächerlichkeit preisgibt

Politik als Gegenstand der Filmkunst

Politik im Film – unsere neue Serie zum Politikbild, das Spielfilme über die Jahre vermittelt haben

Herzliche Gratulation zum Märtyrertum!

Politik im Film #10: Wie in «Life of Brian» das Reden dem Handeln im Weg steht

Zuviel Stärke zeigen ist riskant

Politik im Film #4: Wie die Logik der Abschreckung die Politik irrelevant macht

Die Wahrheit kommt immer ans Licht

Politik im Film #5: Warum man Vertuschungsaktionen lassen sollte

We shall never surrender

Politik im Film #9 Wie Churchill in «Darkest Hour» die Sprache in den Krieg gegen die Nazis schickt

Nur wer schmutzig kämpft, kann Gutes tun

Politik im Film #3: Der Verweis auf hehre Ziele rechtfertigt, dass man über Leichen geht.