«Es ist gar keine Hexerei»

Sophie Achermann, Leiterin der ersten Schweizer Stiftung für öffentlichen Diskurs im Internet, erklärt, was wir alle gegen Hassrede tun können.

Sophie Achermann (31) leitet seit Februar 2023 leitet sie die «Public Discourse Foundation», die erste Schweizer Stiftung für öffentlichen Diskurs im Internet. Von 2018 bis zu ihrem Wechsel war sie Geschäftsführerin des Frauen-Dachverbandes Alliance F, wo sie das Projekt «Stop Hate Speech» mitinitiierte. (Yoshiko Kusano)

Seit bald zwei Jahren gibt es Ihre Stiftung «Public Discourse Foundation». Haben die Anfeindungen im Internet in dieser Zeit so stark zugenommen, wie es scheint? 

Sophie Achermann: Den Eindruck haben viele. Ein Ziel unserer Stiftung ist es, Zahlenmaterial zu liefern, um zu sehen, wie sich Hassrede über die Zeit verändert. Noch fehlen uns die Daten, um wissenschaftlich fundierte Aussagen zu machen. Klar ist aber: Es gibt sehr viel Hass in den sozialen Netzwerken und Kommentarspalten. Und wir sehen immer wieder krasse, epidemieartige Spitzen, bei denen Einzelpersonen oder Personengruppen über eine gewisse Zeit extrem viel Hass abbekommen.

Wer zum Beispiel? 
Achermann: Nach dem Sieg am Eurovision Song Contest erntete Nemo Hass in einem noch nie dagewesenen Ausmass.

Wie beschaffen Sie sich die Daten? 
Achermann: Wir bekommen von mehreren Schweizer Medien sämtliche Kommentare, auch die gelöschten. Wer sie geschrieben hat, wissen wir nicht, wir kennen nur die Inhalte. Diese analysieren wir mit einem eigenen Algorithmus, der Hassrede erkennt, um herauszufinden, wie viel Hass es gibt und gegen wen er sich richtet.

Welche Erkenntnisse haben Sie dabei gewonnen?
Achermann:
Eine Vergleichsstudie auf Twitter im Jahr 2021 hat gezeigt, dass damals etwa ein Prozent aller untersuchten Posts als Hassrede bezeichnet werden konnte. Wir gehen davon aus, dass dieser Prozentsatz heute höher ist.

Und in den Medien?
Achermann:
In den Schweizer Medien werden bis zu 50 Prozent der Kommentare nicht publiziert. Wobei das nicht per se heisst, dass es sich um Hassrede handelt. Die Medien haben Richtlinien, die auch andere Aussagen ausschliessen. Wenn zum Beispiel jemand den immer gleichen Kommentar postet, egal zu welchem Artikel oder Thema, wird dieser ebenfalls gelöscht.

Die Kommentare in den sozialen Medien analysieren Sie nicht regelmässig?
Achermann:
Wir würden unheimlich gern, aber die sozialen Medien gewähren uns keinen Zugang. Da geht die Schweizer Medienlandschaft viel transparenter voran. Die Verantwortlichen sehen grosse Herausforderungen in der Moderation von Inhalten und möchten möglichst hass- und zensurfreie Diskussionen. Sie wissen aber nicht genau, wie sie das schaffen sollen, und werden damit alleingelassen. Twitter war das einzige soziale Medium, das offen war, um Forschung zu betreiben.

Gilt das nicht mehr, seit es von Elon Musk übernommen und zu X umbenannt wurde?
Achermann:
Auf X kann man immer noch forschen. Allerdings zahlt man pro Monat mehrere tausend oder gar mehrere zehntausend Franken. Das kann sich fast kein Forschungsinstitut leisten.

Nach welchen Kriterien analysieren Sie die Medienkommentare?
Achermann:
Wir schauen zum Beispiel, welcher Prozentsatz nicht publiziert wurde und wie viel davon Hassrede ist. Wir wollen verstehen, was die Schweiz momentan besonders beschäftigt, wo sich der Hass sammelt und wo man wirklich hinschauen muss. Zurzeit bauen wir eine Plattform, auf der man in Echtzeit sehen kann, wie sich der Hass in der Schweiz im Lauf der Zeit verändert.

Was tun Sie dagegen?
Achermann:
Wir haben verschiedenste Projekte mit den Medienhäusern, um zu sehen, wie man das Engagement der Leute erhöhen und gleichzeitig den Hass verringern kann. Daneben geht es aber auch darum, die Menschen, die von Hassrede betroffen sind, zu schützen und die Gesellschaft als Ganzes zu sensibilisieren.

Die Medien haben ein ökonomisches Problem. Haben sie überhaupt die Mittel, um in die Kommentarspalten zu investieren?
Achermann:
Das ist eine gute Frage. Wir spüren zwar eine grosse Offenheit der Medien, aber es stimmt: Sie stecken in Existenz- und Transformationskrisen, und die Weiterentwicklung der Diskussionsräume steht nicht bei allen zuoberst auf der Prioritätenliste. Wir halten es aber für enorm wichtig für die Demokratie, dass hiesige Medien ihre Rolle als Diskursraum wahrnehmen können. Wir wollen, dass der Diskurs in der Schweiz stattfindet und auch von hier moderiert wird – und nicht vom Silicon Valley aus. Deshalb versuchen wir, die Medien bei der Moderation zu unterstützen.

Wird die Hemmschwelle sinken, wenn der künftige US-Präsident Elon Musk, der mit Hassrede auf X kein Problem zu haben scheint, zu seinem Berater macht?
Achermann:
Sicher wird es schwieriger. Lange dachte man: «Don’t feed the Troll.» Wenn jemand etwas Böses sagt, solle man einfach nicht hinhören, sondern den Troll ins Leere laufen lassen. Das hat aber schlecht funktioniert. Weil sich niemand dagegen eingesetzt hat, als sich gewisse Leute extrem despektierlich ausdrückten, sind Menschen, die das gelesen haben, zur Überzeugung gelangt: Es ist ein grosser Teil der Gesellschaft, der so denkt. Also kann ich auch so denken und handeln.

Das macht Hassrede mehrheitsfähig?
Achermann:
Genau. Dabei sehen wir, dass nur gerade ein Prozent aller aktiven Userinnen und User für 50 bis 70 Prozent des Hasses verantwortlich ist. Die gleichen Personen schreiben jedoch viele Kommentare. Das gibt dann ein Gefühl, es sei «die Schweiz», die so denke. Dabei ist es eigentlich nur ein kleiner Teil, jedoch ein sehr aktiver. Umso wichtiger ist, dass die Bürgerinnen und Bürger eine aktive Rolle einnehmen. Dass sie sich einsetzen, wenn sie etwas lesen, das menschenunwürdig ist, und dagegen anschreiben. Denn dies hat wiederum eine Auswirkung auf die Menschen, die diese Kommentare lesen.

Ist der Appell an die Zivilcourage nicht etwas blauäugig? Bringt es tatsächlich etwas?
Achermann:
Es bringt tatsächlich etwas. Wir haben in mehreren Studien gesehen: Wenn mit Gegenrede auf Hassrede reagiert wird, wenn Empathie mit der betroffenen Personengruppe geäussert wird, ist es effektiv so, dass diejenigen, die den Post geschrieben haben, diesen häufiger löschen als ohne Gegenrede. Auch in den Folgewochen sondern sie keine oder weniger hasserfüllte Kommentare ab.

Stimmt der Eindruck, dass es vor allem Frauen und Minderheiten trifft?
Achermann:
Dazu gibt es verschiedenste Studien mit unterschiedlichen Resultaten. Es hängt auch damit zusammen, was gerade in den Medien diskutiert wird. Wenn über non-binäre Personen geschrieben wird, bekommen diese mehr Hass ab. Und wenn man viel über Migration schreibt, dann gibt es mehr Hass gegen Migrantinnen und Migranten. Sicher ist: Menschen mit Mehrfachdiskriminierung erfahren mehr Hass.

Wie halten Sie es mit der Meinungsfreiheit?
Achermann:
Meinungsfreiheit ist auch eine Voraussetzung für Demokratie, ich halte sie hoch. Aber Meinungsfreiheit schützt Hassrede nicht. Gleichzeitig darf es auch nicht sein, dass nichts mehr publiziert wird, das unter Umständen verletzend sein könnte. In einer Gesellschaft muss es eine Resilienz geben, Dinge zu lesen, die wehtun.

Was ist noch akzeptabel, wo fängt Hassrede an?
Achermann:
Darüber scheiden sich die Geister, es gibt keine globale Definition. Wenn ich zum Beispiel sage, alle Frauen können nicht Auto fahren – ist das Hassrede? Es hängt davon ab, wer es beurteilt. Das Gefühl, dass wir diese Entscheidungen darüber, was Hassrede ist, immer an jemand anderen abgeben können, ist gefährlich. Deshalb braucht es aktive Bürgerinnen und Bürger, die in einer Kommentarspalte zum Ausdruck bringen können: «Ich bin absolut nicht einverstanden mit dieser Äusserung.» Wir müssen in der Onlinewelt genau gleich viel Rückgrat zeigen wie beim Jass-Abend mit unseren Freunden oder im Bus, wenn jemand ausfällig wird. Wenn da jemand rassistisch angegangen wird, rufe ich auch nicht die Polizei. Sondern ich stehe auf und biete der Person Schutz oder versuche, etwas einzuwenden.

Untersuchungen zeigen aber, dass es die meisten Leute eben gerade nicht tun.
Achermann:
Das stimmt. Online ist es viel einfacher, Zivilcourage zu zeigen.

Wie denn?
Achermann:
Eigentlich ist es ganz einfach. Jede Person in der Schweiz müsste wissen: Ich sehe Hass, also mache ich x, y und z. So, wie ich weiss, welche Nummer ich anrufen muss, damit die Polizei kommt. Deshalb versuchen wir mit dem Projekt «Stop Hate Speech», betroffenen Organisationen, Firmen oder Einzelpersonen Informationen zum Selbstschutz und zur Gegenrede mitzugeben, samt einfachen Beispielsätzen. Damit sie merken: Es ist gar keine Hexerei.

Welche Beispielsätze geben Sie mit?
Achermann:
Etwa die Aussage: «Kannst du dir vorstellen, dass dieser Kommentar extrem verletzend ist?» Das kann schon reichen. Nicht nur für die Person, die den Hasskommentar geschrieben hat, sondern auch für alle anderen, um zu sehen: «Ah, da schaltet sich jemand in die Diskussion ein.» Das kann sehr motivierend wirken.

Wie sieht Ihr Alltag aus: Ackern Sie die Kommentarspalten durch?
Achermann:
Zum Glück nicht. Das machen die Datenanalystinnen der ETH Zürich, mit der wir zusammenarbeiten. Wir sind mit den Medienhäusern in Kontakt und versuchen bei der Verwaltung, der Wirtschaft und bei zivilgesellschaftlichen Akteuren ein Problemverständnis für unseren öffentlichen Diskurs herzustellen. Wir schauen mit betroffenen Personen und Organisationen, wie sie sich gegen Hassrede wappnen können. Ein grosser Teil meines Alltags besteht darin, Projekte zu entwickeln und die nötigen Mittel dafür aufzutreiben.

Was posten Sie privat?
Achermann:
Extrem wenig, fast nichts.

Keine Gegenrede?
Achermann:
Immer wieder. Aber ich bin nicht unbedingt auf den Kanälen, wo der Hass passiert, denn in meiner Freizeit lese ich kaum Kommentarspalten. Meine Zeitung lese ich auf Papier, und ich höre Radio. Wenn ich aber über Hass stolpere, setze ich mich dagegen ein.

Wie gestalten Sie Ihre Freizeit?
Achermann:
Ich habe zwei Kinder, meine Zeit ist also limitiert. Aber wenn irgend möglich mache ich Sport oder treffe Freunde und diskutiere mit ihnen. Offline.

Sophie Achermann (31) ist in Bern geboren und aufgewachsen, wo sie das Jugendparlament mit aufgebaut und den Jugendrat präsidiert hat. Bei den Parlamentsdiensten absolvierte sie eine Lehre zur Kauffrau und arbeitete anschliessend dort. Ab 2018 war sie Geschäftsführerin des Frauen-Dachverbandes Alliance F, wo sie das Projekt «Stop Hate Speech» mitinitiierte. Seit Februar 2023 leitet sie die «Public Discourse Foundation», die erste Schweizer Stiftung für öffentlichen Diskurs im Internet. Sophie Achermann lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern im Alter von neun und fünf Jahren in Bern.

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