«In der Schweiz haben wir im Zeitlupentempo Entwicklungen vorweggenommen, die sich jetzt in Europa»

Politgeograf Michael Hermann erklärt, warum Reformen in der Schweiz immer schwieriger werden und weshalb der Wahlverlierer in Bayern sich besser bei der Schweizer FDP Rat geholt hätte.

Politgeograf Michael Hermann ist skeptisch, ob die Verknüpfung der AHV-Sanierung mit der Unternehmenssteuerreform eine gute Idee war.  (Bild: ZVG)

Wenn es um die Schweiz und ihr politisches System geht, kann er seine Faszination kaum verstecken: Michel Hermann (47). Der Politgeograf ist spätestens 2016 mit seinem hochgelobten Buch «Was die Schweiz zusammenhält» zu einem der wichtigsten Erklärer des Schweizer Politgeschehens aufgestiegen. Dennoch hat Hermann es immer wieder verstanden, auch europäische und internationale Entwicklungen einzuordnen und in den Kontext der Schweiz zu stellen.

In Italien und Österreich regieren Parteien mit faschistischen Wurzeln und Inhalten mit, in Deutschland stürzt die SPD ins Bodenlose, die AfD wird immer stärker. In Frankreich verglüht Macron wie ein Komet. Leben wir in der Schweiz eigentlich auf der Insel der Glückseeligen?
Ja natürlich. Ich finde es faszinierend, wie sich die Ausgangslage in der Schweiz und in den Nachbarländern total verändert hat. In der Phase meiner politischen Sozialisation – also in den letzten 30 Jahren – ging in der Schweiz die Post ab. Es gab nach dem EWR-Nein grosse Debatten um die Positionierung der Schweiz gegenüber der EU und um den Aufstieg der SVP. Mit dem Ja zur Minarett-Initiative fragte sich plötzlich die ganze Welt, was passiert eigentlich mit der Schweiz. Und jetzt sieht man, wie wir in der Schweiz eigentlich im Zeitlupentempo Entwicklungen vorweggenommen hatten, die sich in anderen Ländern aufgestaut haben und unter dem Deckel blieben, bis sie sich explosionsartig ihren Weg gebahnt haben.

Was sagt uns das?
Es zeigt, dass unser System offenbar sehr elastisch ist und frühzeitig auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert. Es hat die Kraft zu integrieren, was zu weniger radikalen Entwicklungen führt, als wir das jetzt im umliegenden Europa sehen. Die Kernthese von Christoph Blocher stimmt wohl schon, dass durch die SVP noch radikalere Strömungen indirekt eingebunden und so neutralisiert werden.

Dann manifestiert sich aber ein genereller Trend in Europa und in der Schweiz, der deutlich mehr konservative Forderungen auf die Traktandenliste bringt?
Genau. Ursprünglich war die Bewegung von Blocher gegen den Zeitgeist der 1990er-Jahre gerichtet, dessen dominierende Themen Öffnung, Integration, Globalisierung und Euphorie waren. Inzwischen entspricht der Zeitgeist dem Programm von Blocher und anderen Rechten. Viele Forderungen der SVP sind heute Mainstream. Schauen wir die Medien an: Kürzlich fragte der «Sonntagsblick» in der Titelstory sinngemäss, ob jetzt alle Sozialhilfeempfänger aus Europa zu uns in die Schweiz kommen. Im «Beobachter» warnt der Chefredaktor vor dem Migrationspakt der UNO. Da hat sich schon etwas verschoben. Viele ihrer Ideen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Was kommt als Nächstes?
Ich glaube, wir sollten hier das Augenmass behalten. Gerade in der Schweiz mit ihren Volksabstimmungen ist die Kraft des Zeitgeists begrenzt. Was Politiker und Gesellschaftsdeuter als Zeitgeist wahrnehmen, ist eine Überzeichnung des eigentlichen Befindens der Leute. Die Pendelbewegung, die er vorgaukelt, sind meist weniger ausgeprägt als wahrgenommen. Die 1990er-Jahre waren weniger progressiv als der damalige Zeitgeist. Auch wenn Blocher es instinktiv erkannte, dass der Wind dreht, sind die Leute in der Schweiz heute kaum so konservativ, wie es gerade erscheint. Die Schweiz war noch nie so globalisiert und so international wie heute. Wenn Firmen fusionieren oder Standortentscheide für Firmen hierzulande in Übersee fallen, so findet man das völlig normal. Die jungen Leute sind total europäisch orientiert, vielleicht nicht ideell. Aber wenn es um die Lebensrealität geht, sind sie viel internationaler und mobiler als noch vor ein paar Jahren. Klar hat Blocher die Diskurshoheit gewonnen. Gleichzeitig hat er aber irgendwie das Land verloren, in dem Sinne, als dass die nationalkonservative Haltung viel weniger stark verankert ist als früher. Und das ist vielleicht auch das, was man in Europa sehen sollte: Nur weil das Pendel in die andere Richtung schlägt, heisst das nicht, dass es beliebig weit ausschlägt. Es gibt auch Kräfte, die den Ausschlag begrenzen. Ein Kniefall vor solchen Entwicklungen lohnt sich nicht.

Inwiefern?
Das Beispiel der CSU und von Ministerpräsident Markus Söder in Bayern zeigt das sehr deutlich: Erst hat er versucht, die AfD mit radikalen Forderungen zu übertreffen, und dann mitten im Wahlkampf wollte er sich plötzlich wieder davon abgrenzen. Solche Kehrtwenden goutieren die Wählerinnen und Wähler nie. Eine gewisse Gelassenheit wäre besser. Gerade die FDP in der Schweiz hat gezeigt, wie man solchen Entwicklungen begegnen sollte: Sie ist heute selbstbewusster und eigenständiger, wenn es um das Verhältnis mit der SVP oder die Europafrage geht. Es schadet ihr überhaupt nicht. Klar war die FDP eine Zeitlang verunsichert und desorientiert. Die Freisinnigen sind heute sogar mit einem kleineren Wähleranteil wieder unangefochtene Nummer eins unter den Bürgerlichen. Sie wurden damals von der SVP buchstäblich durch die Gasse getrieben, als Weichsinnige verhöhnt und von der Wirtschaft fallen gelassen. Inzwischen hat man bei der letzteren festgestellt, dass die FDP halt doch die viel verlässlichere Partnerin ist als die SVP.

Wir haben von der Pendelbewegung gesprochen. Sind die konservativen oder populistischen Parteien einfach besser mit ihrer Position zu Migrationsfragen oder sprechen sie die Bedürfnisse der Menschen viel besser an?
Sehen Sie, ob berechtigt oder nicht, die Migrationsfrage trifft einfach einen Nerv. Schon immer gab es in den Wohlstandsinseln dieser Welt die Furcht vor Völkerwanderungen. Die Globalisierung und der rasche gesellschaftliche Wandel machen die Migration heute erst recht zu einem hochemotionalen Thema. Die Zuwanderer sind für viele ein Sinnbild für ihr eigenes Gefühl der Entwurzelung und sie werden als Angriff auf die eigene Identität angesehen. Und mit Fragen der Identität lässt es sich bekanntlich wunderbar politisieren. Das Übergewicht dieser Frage ist mitunter auch eine Folge davon, dass wirtschaftlichen Fragen oder die Diskussion, wie ein guter Staat zu bauen ist und was er zu leisten hat, an Brisanz verloren haben. Unser Wahlbarometer zeigt etwa, dass Steuern bis weit ins bürgerliche Lager als kaum problematisch wahrgenommen werden. Auf der anderen Seite hat die Logik des Marktes fast alle Gesellschaftsbereiche erfasst.

Das bedeutet, dass gerade die ideologischen Begriffe, die früher politische Lager teilten, gar nicht mehr so wichtig sind?
Genau. Früher, als Staaten gegründet und politische Systeme entworfen wurden, gab es noch einen Wettstreit zwischen Ideologien. Die einen wollten einen Nachtwächterstaat, die anderen träumten vom Kommunismus. Inzwischen hat man vieles ausprobiert. Gewisse Sachen funktionieren, andere nicht.  In einer Demokratie weiss man mit der Zeit, was bei den Leuten zieht und was nicht. Empirische Erfahrung nimmt den Ideologen ihre Strahlkraft. Vielleicht glänzen diese noch im Debattierklub, im politischen Alltag sind sie hoffnungslos verloren. Das Verblassen der grossen Ideologien verändert auch die Möglichkeiten der Parteien, ihre Angebote zu Markte zu tragen: Die Institutionen sind gebaut. Gefordert sind vor allem pingelige Renovationsarbeiten. Wer heute noch vom Bau einer erhabenen Kathedrale auf der grünen Wiese schwärmt, ist nicht mehr wirklich glaubwürdig. Wer jedoch nur Prozessoptimierungen im Angebot hat, nicht wirklich attraktiv.

Was bleibt den Parteien dann, wenn sie nicht auf emotionale Themen setzen?
Dann wird es sehr anspruchsvoll und man verliert schnell an Profil.

Anspruchsvoll ist es auch, Reformen durchzuführen. In der Schweiz gibt es einen Stau, wenn man an die Altersvorsorge, das Gesundheitswesen oder an die Steuervorlagen denkt. Wie steht es hier um die Bilanz der Schweiz?
Bis weit in die 1990er-Jahren gab es Reformen, die den Leuten immerhin noch einen Mehrwert brachten. Es gab zwar den Sparaspekt, aber es wurden gleichzeitig auch noch Lücken eliminiert. Man konnte neue gesellschaftliche Realitäten abbilden, weil eine Mehrheit das notwendig fand. Was jetzt folgt, ist nur noch das Unangenehme. Man muss den Leuten Geld wegnehmen, das sie schon auf sicher hatten, wenn wir an die Altersvorsorge denken. Die geänderten Rahmenbedingungen führen letztlich auch dazu, dass es immer schwieriger wird, alle Bedürfnisse abzuholen. Mehrheiten zu finden, ist fast unmöglich. Und in der Schweiz ist das besonders schwierig, weil hierzulande die Bevölkerung selbst darüber entscheidet, wie sie ihren Sozialstaat ausgestaltet. Die direkte Demokratie half der Schweiz, als sie ihren Sozialstaat anders als etwa in Skandinavien nur mit Augenmass und sehr moderat ausbaute. Jetzt macht er die Aufgabe unendlich schwierig, wie die Abstimmung über die Reform der Altersvorsorge zeigte.

Jetzt soll es eine Kombination von zwei Vorlagen richten. Die AHV-Sanierung wird mit der Unternehmenssteuerreform verknüpft. Eine gute Idee?
Ich bin skeptisch. Positiv ist, dass das Parlament hier zumindest Handlungsfähigkeit beweisen und nun erstmals seit langem zu einem immer schon geforderten breiten Kompromiss zusammengefunden hat. Doch der Preis ist hoch. Um die Steuerreform zu retten, war man bereit, die sehr wichtige Altersreform auf die lange Bank zu schieben. Wirklich schwierig wird es jedoch, wenn das Projekt an der Urne scheitert. Nach jeder gescheiterten Reform hat man bisher einfach den Einsatz erhöht, man hat noch mehr in die Vorlage gepackt. Scheitert die so genannte STAF an der Urne, dann wüsste ich nicht, wie man den Einsatz am Pokertisch nochmals erhöhen könnte. So oder so ist auffällig, dass harte Reformschritte in der Schweiz fast nur noch unter dem Druck vom Ausland geschehen. Beispiel ist etwa das Bankgeheiminis oder nun eben die Unternehmenssteuern. Auch beim Rahmenabkommen mit der EU wird es erst dann plötzlich sehr schnell gehen, wenn die EU die Daumenschrauben anlegt. Wenn es der wirtschaftlichen Vernunft entspricht, geben die Schweizer und Schweizerinnen sehr rasch nach, sonst rühmen sie sich gerne ihre Unabhängigkeit.

Es ist aber auch von Reformmüdigkeit die Rede. Wie sehen Sie das?
Ich kann schon nachvollziehen, wenn die Bevölkerung skeptisch auf Reformen reagiert. Trotz wiederkehrender Warnungen vor Reformstau, geht es uns immer noch sehr gut. Doch wir leben eben zu einem gewissen Grad von den Zinsen, von Investments in ein gut funktionierendes Gemeinwesen, die unsere Grossväter und Grossmütter getätigt haben. Dazu passt, dass uns Deutschland in wichtigen Wirtschaftskennzahlen überholt und die Schweiz als digitales Land nicht an der Spitze ist. Die direkte Demokratie ist zwar ein ausgezeichnetes Sensorium für Stimmungen, sie untergräbt jedoch auch zu einem gewissen Grad das Verantwortungsprinzip: Wenn jemand ein Nein zu einer Reform auf seinen Stimmzettel schreibt, ist das Risiko, das er auf sich nimmt, sehr überschaubar. Das Risiko aus einem Volksentscheid wird somit kollektiviert. Erst wenn wir wirklich in einen Hammer laufen, wird sich daran etwas ändern.

Dabei haben die letzten Wahlen doch ein sehr klares Votum gebracht. Im Nationalrat haben SVP und FDP seither erstmals überhaupt eine Mehrheit.
Man muss den Wahlerfolg der SVP von 2015 auch noch in den Kontext stellen: Die grossen Themen damals in Europa haben ihre Agenda perfekt ergänzt: Migration, Flüchtlinge und die Eurokrise. Aber anders als in anderen Ländern ergab sich in der Schweiz nur eine knappe Mehrheit, die dann auch noch vom Ständerat, der anders tickt, beeinflusst wurde. Wenn wir die bisherige Legislatur anschauen, so sind die beiden Parteien FDP und SVP gerade bei den grossen Fragen Migration und EU tief gespalten. Die SVP ist isoliert, was zur Blockade führt. In der Finanz- und Sozialpolitik reicht die Mehrheit nur ausnahmsweise. Und gesellschaftliche Entwicklungen haben sogar dazu geführt, dass in gesellschaftspolitischen Fragen Weichenstelllungen – wenn es etwa um die Gleichberechtigung der Geschlechter geht – trotz dieser Mehrheit getroffen worden sind. Was man eigentlich nicht mehr erwartet hatte. Inzwischen zeigen die kantonalen Wahlen und unsere Umfrage eher in Richtung einer Stärkung der Linken.

Was könnte der Grund sein?
Ich glaube, dass die Schweizer Stimmenden immer gewisse Korrekturen wollen. In 2015 war es wohl das Votum, dass etwas im Migrationsdossier ändern sollte. Das heisst aber nicht, dass die Leute sonst alles korrigiert haben wollen. Darum schlägt das Pendel bald eher wieder in die andere Richtung. Die Bevölkerung hat die Auswirkungen der Wahlen 2015 eher als ein Überschiessen wahrgenommen. Die Stimmenden geben hierzulande ohnehin gerne einen Impuls in die eine Richtung und beim nächsten Mal gerne in eine andere. Und generell ist es halt schon so: Wenn die Politik nicht mehr so brillante Lösungen liefern kann, sind die Enttäuschungen fast programmiert. Vielfach ist es ja fast überall auf der Welt so: Wenn man regiert, glänzt man nicht mehr so. Auch weil man entweder Resultate liefern oder unpopuläre Entscheide treffen muss.

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