«Ein Symptom der polarisierten Parteienlandschaft»

Politikwissenschaftlerin Silja Häusermann erklärt, warum die Reformen der Altersversicherung der Reihe nach scheitern – und wie es doch gehen könnte.

Silja Häusermann (47) lehrt und forscht seit 2012 als Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Sie untersucht unter anderem den soziostrukturellen Wandel und Veränderungen von Wahlverhalten und Parteiensystemen. (zvg.)

Rund um uns erhöht ein Land nach dem anderen das Rentenalter – warum schaffen wir das in der direktdemokratischen Schweiz nicht? 
Silja Häusermann: Die Erhöhung des Rentenalters ist in allen Ländern enorm umstritten. In Deutschland zum Beispiel brauchte es eine grosse Koalition dafür. Um den Widerstand zu überwinden, mussten alle grossen Parteien involviert sein. In Frankreich wird die Erhöhung gegen massiven Widerstand der Strasse durchgesetzt. Und in der Schweiz bildet die direkte Demokratie eine unglaublich hohe Hürde. Eine derart unpopuläre Massnahme in einer direktdemokratischen Abstimmung durchzubringen, ist extrem schwierig.

Vor acht Jahren ist Alain Bersets Altersvorsorge 2020 gescheitert, weil die FDP die 70 Franken AHV-Rentenzuschlag bekämpfte, die alle bekommen sollten. Die 13. AHV-Rente ist viel höher. War das ein Pyrrhussieg?
Häusermann:
Das ist sicher so. Die Hoffnungen der damaligen Reformgegner auf eine rasche, breiter akzeptierte Reform haben sich – nicht überraschend – als Illusion erwiesen. Ganz allgemein kann man sagen: Die Rentenpolitik über Volksabstimmungen zu führen ist ein Hochseilakt, unsicher und letztlich ineffizient. Es stimmt, dass damals die generell erhöhte AHV ein grosser Zankapfel war. Ich würde aber bestreiten, dass die Reform an den 70 Franken gescheitert ist.

Sondern?
Häusermann:
Ohne die Zulage hätte die Vorlage weniger Unterstützung von links bekommen, dafür mehr von rechts. Ob es damit unter dem Strich für ein Volksmehr gereicht hätte, ist aufgrund der damaligen Umfragen höchst unsicher. Die Frage ist immer, ob ein Paket als ausgewogen wahrgenommen wird, das zeigt ein Blick auf erfolgreiche Reformen der Vergangenheit. Das Königsbeispiel ist die 10. AHV-Revision von 1995, die ja auch ein Paket war.

Mit der das Frauenrentenalter auf 64 Jahre erhöht wurde?
Häusermann:
Ja, aber im Gegenzug wurden auch Erziehungs- und Betreuungsgutschriften eingeführt. Es gab eine Art Reformkoalition von Mitte links bis Mitte rechts, die dahinterstand. An der Urne hat es dann gereicht. Sehr ähnlich war es 2003 bei der ersten Reform der beruflichen Vorsorge.

Inwiefern?
Häusermann:
Diese enthielt sehr ähnliche Elemente wie die jüngste Vorlage: eine Senkung des Umwandlungssatzes und gleichzeitig eine Verbesserung für Beschäftigte in Teilzeit und mit tiefen Einkommen. Wie bei der 10. AHV-Reform gab es eine Koalition von Exponentinnen aus SP, FDP und CVP, die das Paket gemeinsam geschnürt hatte. Der Kompromiss war so austariert, dass letztlich nicht einmal ein Referendum zustande kam. Bersets Altersvorsorge 2020 war ein Versuch, an diese grossen, breit abgestützten Kompromisse anzuknüpfen. Das Paket enthielt für alle Seiten Kröten, die geschluckt werden mussten, erfüllte aber auch langjährige Forderungen von verschiedenen Anspruchsgruppen.

Warum ist es dennoch gescheitert?
Häusermann:
Aus der vorparlamentarischen Phase kam das Paket recht gut heraus, mit einer breiten Unterstützung von Arbeitgebenden- und Arbeitnehmendenseite. Der Bundesrat, in dem ja notabene alle grösseren Parteien von SP bis SVP vertreten sind, stand ebenfalls dahinter. Erst im Parlament wurde die Reform stark politisiert. Der Ständerat verschob das Paket mit dem 70-Franken-Zustupf nach links, und von da an begannen beide Seiten rote Linien zu ziehen. Die Linke sagte: Hinter die 70 Franken gehen wir nicht mehr zurück. Die Rechte sagte: 70 Franken mit der Giesskanne? Nie im Leben!

War das der Anfang vom Ende?
Häusermann:
Es war eine Ernüchterung, weil das alte Erfolgsrezept nicht mehr funktionierte. Es gab keine genügend grosse Schnittmenge mehr, damit am Ende eine Allianz von Mitte links bis Mitte rechts hinter der Reform hätten stehen können – und wollen. Daran ist es dann in der Volksabstimmung gescheitert. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger rechnen ja eine Vorlage nicht bis ins Detail durch, das kann man auch nicht von ihnen erwarten. Sondern sie sind für einen vernünftigen, breit abgestützten Kompromiss. Und den bringt das Parlament im Moment einfach nicht zustande.

Also liegt es am Parlament?
Häusermann:
Ja, auf jeden Fall. Die Positionen im Parlament wurden stark polarisiert. Inhaltlich, indem die Parteien klare rote Linien ziehen und enger eingrenzen, worüber sie überhaupt zu diskutieren bereit sind. Aber auch politisch: Dass die FDP die Berset-Reform so intensiv bekämpft hat, lag auch daran, dass die bürgerlichen Parteien zwei Jahre zuvor die Wahlen gewonnen hatten. Also wollten sie im Parlament Erfolge erzielen und keiner links geprägten Vorlage zustimmen. Jetzt ist es in der anderen Richtung ähnlich: Mit den gewonnenen Abstimmungen hat die Linke Rückenwind und ist weniger kompromissbereit.

War dies das Problem bei der gescheiterten Pensionskassenreform?
Häusermann:
In der vorparlamentarischen Phase gab es ja ebenfalls den Sozialpartnerkompromiss. Dieser hätte für tiefe Einkommen und für Teilzeitarbeitende eine Art Rentenzuschlag vorgesehen, im Gegenzug zur Senkung des Umwandlungssatzes. Im Parlament wurde dieses Paket aufgeschnürt, weil die rechten Parteien auf keinen Fall eine umlagefinanzierte Komponente in der zweiten Säule wollten. Die Linken waren aber nicht bereit, hinter den vorparlamentarisch errungenen Kompromiss zurückzugehen. Das waren wieder die berühmten roten Linien auf beiden Seiten.

Obwohl die Situation, namentlich der Frauen, auch ohne den Zuschlag verbessert worden wäre?
Häusermann:
Ja, deshalb war die Frauenbewegung in dieser Frage gespalten. Aber ein politischer Akteur überlegt sich immer, mit welcher Strategie er längerfristig näher an seine Wunschvorstellung kommt. Und die Linke hat im Moment die Einschätzung, dass sie mit dem Rückenwind aus den gewonnenen Volksabstimmungen die Möglichkeit hat, mehr Konzessionen herauszuholen als das, was im Parlament mehrheitsfähig war.

Was insofern zutrifft, als bei der Abstimmung über die 13. AHV-Rente die bürgerliche Basis ihren Parteien nicht gefolgt ist.
Häusermann:
Dass die Linke in sozialpolitischen Volksabstimmungen weit über das eigene Lager hinaus Unterstützung gewinnen kann, ist sicher korrekt. Aber man kann nur dann mehr Konzessionen verhandeln, wenn die Gegenseite auch wirklich eine Reform will. Und in der zweiten Säule sehe ich im Moment, dass die Reihen der Bürgerlichen und der Arbeitgebenden auch nicht geschlossen sind. Es ist nicht mehr klar, wie sehr sie eine Senkung des Umwandlungssatzes wirklich brauchen, weil die Bedürfnislagen unterschiedlich sind.

Inwiefern?
Häusermann:
Einige Pensionskassen können den zu hohen Umwandlungssatz selber ausgleichen, indem sie im überobligatorischen Bereich darunter gehen. Nur Kassen mit wenig Überobligatorium haben ein grösseres Problem. Es ist also nicht sicher, ob die Linke in einem nächsten BVG-Anlauf mehr aushandeln kann, weil es auf der rechten Seite keine eindeutige Position gibt, dass man die Reform wirklich braucht, und deshalb auch bereit wäre, grosse Konzessionen einzugehen. Deshalb habe ich den Eindruck, dass sich bei der beruflichen Vorsorge nicht so schnell etwas bewegen wird.

Unabhängig von der sich verändernden Alterspyramide und den nicht immer rosigen Anlagemöglichkeiten für die Pensionskassenvermögen?
Häusermann:
Wenn ich mir anschaue, wie die Debatten laufen, sehe ich im Moment nicht, wie ein Reformvorschlag zustande kommen sollte. Ich sage jeweils: Wenn Samira Marti und Regine Sauter gemeinsam einen Reformvorschlag vorstellen, ist der Moment gekommen, dass dieser wahrscheinlich durch eine Volksabstimmung kommt.

Das klingt utopisch.
Häusermann:
Aus heutiger Sicht ja. Aber vor 20 Jahren hat genau eine solche Koalition von SP bis FDP die BVG-Reform durchgebracht. Zentral waren dabei kompromiss- und lösungsorientierte Figuren wie etwa Rudolf Rechsteiner und Christiane Brunner von der SP, Eugen David von der damaligen CVP und Christine Egerszegi und Christine Beerli von der FDP, die eng zusammengearbeitet haben. Wenn wir das heute für unmöglich halten, so ist es ein Symptom der polarisierten Parteienlandschaft.

War die BVG-Reform nicht ganz einfach zu kompliziert?
Häusermann:
Das bestreite ich. Die 10. AHV-Reform, die STAF-Reform oder die erste BVG-Reform waren nicht weniger kompliziert. Umwandlungssatz, Koordinationsabzug, Mindestzinssatz – all das ist immer viel zu kompliziert für den durchschnittlichen Stimmbürger und die durchschnittliche Stimmbürgerin. Es ist aber auch nicht deren Aufgabe, die Reform technisch zu durchdringen.

Sondern?
Häusermann:
Sie müssen die Materie nur soweit verstehen, um zu sehen, dass bei steigender Lebenserwartung und sinkenden Kapitalerträgen die Renten unter Druck geraten, und dass es ein Problem ist, wenn weit verbreitete Arbeitsmodelle wie Teilzeitarbeit oder Mehrfachbeschäftigung ungenügend versichert sind. Das ist nicht so kompliziert. Es ist die Aufgabe der politischen Elite, eine Lösung für diese Probleme vorzuschlagen, die einleuchtend und ausgewogen ist.

Sehen Sie bei der ersten Säule eine mehrheitsfähige Lösung?
Häusermann:
Da steht unmittelbar die Finanzierung der 13. AHV-Rente an, und da scheinen wir auch noch weit weg zu sein von einem breit abgestützten Paket. Aber insgesamt ist natürlich die grosse nächste Frage das Rentenalter.

Wie würden Sie das lösen?
Häusermann:
Das ist sehr schwierig. Dem Volk eine Erhöhung vorzulegen, ist nicht mehrheitsfähig. Der einzige Weg, den ich sehe, ist der Versuch, einen Schritt zurückzutreten und zu überlegen, ob es irgendwelche Varianten gäbe, die neu gedacht werden könnten. Modelle der Lebensarbeitszeit oder eine nach Einkommen oder Bildungsstand abgestufte Erhöhung des Rentenalters gehen in diese Richtung, weil sie auch der je nach sozialer Schicht unterschiedlichen Lebenserwartung Rechnung tragen.

Wie hat es Dänemark geschafft, unter Führung einer sozialdemokratischen Ministerpräsidentin das Rentenalter auf 70 zu erhöhen?
Häusermann:
Das dänische Modell beruht auf der Idee, dass man genügend Einnahmen generieren muss, um grosszügige, gute Leistungen für alle zu finanzieren. Das ist der gesamtgesellschaftliche Kompromiss, auf dem das nordische Sozialstaatsmodell basiert: Alle Männer und Frauen müssen erwerbstätig und bereit sein, hohe Steuern zu zahlen. Im Gegenzug bekommen alle gute, faire und stabile Leistungen: in der Schule, in der Gesundheit, in der Rente. Gerade in Dänemark ist eine hohe und lange Erwerbstätigkeit Dreh- und Angelpunkt dieses Gleichgewichts.

Warum kriegen wir das nicht hin?
Häusermann:
Unsere Rentensysteme sind viel fragmentierter und sozial ungleicher als jene in den nordischen Ländern, insbesondere durch die individualisierte berufliche Vorsorge. Je höher das Einkommen, desto besser die Leistungen der Pensionskasse. In der AHV ist es umgekehrt, da wird von oben nach unten umverteilt. Das führt zu einer zusätzlichen politischen Bruchlinie: Die Linke sucht Lösungen immer primär über die erste Säule, die Rechte über die zweite Säule.

Eine Schattenseite unseres vielgerühmten Mehrsäulensystems?
Häusermann:
Ja, welches natürlich auch seine Vorteile hat, etwa in der Diversifizierung der Risiken. Aber es ist ein System, das Ungleichheiten schafft und zementiert, und welches die Gesellschaft und die Politik in unterschiedliche Interessengruppen teilt.

Sie betreiben vergleichende Politikwissenschaft. Was heisst das genau?
Häusermann:
Es geht um den Vergleich zwischen verschiedenen politischen Systemen und um die Erklärung, warum sie unterschiedliche Entscheidungen und Verteilungen generieren, insbesondere in der Sozialpolitik. Ich untersuche Fragen wie: Warum investieren westeuropäische Länder mehr in Bildung als südeuropäische? Warum sind die Arbeitslosenleistungen grosszügiger in Kontinentaleuropa als im angelsächsischen Raum? Warum besuchen in Nordeuropa alle Kinder die Kita und in Kontinentaleuropa vor allem Kinder aus der Mittelschicht? Die Antworten auf diese Fragen liegen fast immer in gesellschaftlichen Machtverhältnissen, welche von Strukturen und Institutionen geprägt sind.

Wie sind Sie darauf gekommen?
Häusermann:
Ich habe das Studium aus Interesse für Politik und Wirtschaft gewählt, dachte aber, dass ich praktisch arbeiten würde. Zu Universität und Forschung hatte ich von meiner Herkunft her keinen Bezug. Dann nahm es mir aber sehr schnell den Ärmel rein, weil ich es faszinierend fand, welch enorme und ungleiche Auswirkungen die Politik – und vor allem die Sozialpolitik – auf die Lebensperspektiven und Chancen der Menschen hat. Und dass es innerhalb Europas zwischen diesen eigentlich sehr ähnlichen, hoch entwickelten, reichen Demokratien so grosse Unterschiede gibt im Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt, in den Armutsrisiken oder in der sozialen Sicherheit. Ich wollte verstehen, warum das so ist.

Was machen Sie, wenn Sie sich nicht mit Politik befassen?
Häusermann:
Dann koche ich gerne und bekoche Leute, das ist mein tägliches Hobby. Ich lese auch gerne Zeitungen, am liebsten auf Papier.

Silja Häusermann (47) ist in Luzern geboren und aufgewachsen und hat in Genf, Lausanne und Zürich Politikwissenschaften studiert. Seit 2012 lehrt und forscht sie als Professorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Sie untersucht unter anderem den soziostrukturellen Wandel und Veränderungen von Wahlverhalten und Parteiensystemen. Zudem ist sie stellvertretende Direktorin des universitären Forschungsschwerpunktes «Chancengleichheit» der Universität Zürich. Silja Häusermann lebt mit ihrem Mann und ihren 14-jährigen Zwillingen in Zürich.

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