Lincoln
USA 2012, von Steven Spielberg, mit Daniel Day-Lewis, Sally Field, David Strathairn, Joseph Gordon-Levitt und Tommy Lee Jones

Spoiler-Alert 
Abraham Lincoln, soeben als Präsident wiedergewählt, will die Monate bis zum Beginn der neuen Legislatur nutzen, um den 13. Verfassungszusatz durch den Kongress zu bringen und die Abschaffung der Sklaverei damit über die Bürgerkriegszeit hinaus rechtlich verbindlich zu verankern.

Die Ausgangslage ist schwierig: Ein halbes Jahr zuvor war die nötige Zweidrittelmehrheit im Repräsentantenhaus im ersten Anlauf verfehlt worden, weil zwar alle Republikaner zugestimmt, aber praktisch alle Demokraten abgelehnt hatten. Auch viele konservative Republikaner waren skeptisch und argumentierten, der Verfassungszusatz würde den Widerstandsgeist der Südstaaten stärken und den Krieg verlängern.

Lincoln hat deshalb lange gezögert, sein politisches Kapital auf ein chancenlos erscheinendes Projekt zu verwenden. Nun sieht er aber das passende Zeitfenster gekommen: Die Niederlage der abtrünnigen Südstaaten im Bürgerkrieg scheint absehbar, und in Washington kommt der «lame duck congress» mit zahlreichen abgewählten demokratischen Parlamentariern zusammen, die politisch nichts mehr zu verlieren haben und umgekehrt für ihre berufliche Zukunft für Patronage dankbar sind.

Zuerst über seinen Staatssekretär und Mittelsmänner, später auch persönlich überzeugt Lincoln die nötigen rund 20 Demokraten, dem Verfassungszusatz zuzustimmen oder sich zumindest zu enthalten. Auf Stimmenkauf im engeren Sinn verzichtet die Administration zwar, vergibt aber grosszügig Posten in der Bundesverwaltung, um die abgewählten Demokraten zu überzeugen.

In einer chaotischen Parlamentssitzung kommt das nötige Quorum zustande. Als Schlüsselelement erweist sich, dass Lincoln schriftlich verneinen kann, dass Abgesandte des Südens für Friedensverhandlungen in Washington seien. Zwar gibt es diese Abgesandten durchaus – Lincolns Staatssekretär hat sich bereits mit ihnen getroffen und ein Treffen mit dem Präsidenten ist vorbereitet. Lincoln hat sie aber ausserhalb der Hauptstadt «zwischengelagert», um dieses Dementi abgeben zu können. Bei mehr Hoffnung auf eine Verhandlungslösung hätten die konservativen Republikaner den Verfassungszusatz nicht unterstützt. Das Projekt wäre gescheitert und die Sklaverei in den Südstaaten nach deren Wiederzulassung in die Union möglicherweise weitergeführt worden.

Die Friedensverhandlungen platzen nach dem Entscheid des Repräsentantenhauses, weil Lincoln den südlichen Emissären klar macht, dass die Sklaverei in den ganzen USA definitiv abgeschafft wird. Die letzten Minuten des Films gelten der Kapitulation der Südstaaten und der Ermordung Lincolns ein Vierteljahr später.

Sehenswert für
Ein Aufgebot von Charakterdarstellern, das seinesgleichen sucht, und ein bewegendes Gemälde einer Demokratie in Kriegszeiten, in welcher der menschenrechtliche Fortschritt Stimme für Stimme nicht nur durch Argumente, sondern auch durch Geschenke gesichert werden muss.

Siegreiche Strategie
Über die Strahlkraft eines Menschenrechts und blanke Korruption hinaus gewinnt Lincoln seine letzte politische Schlacht dank seines überlegenen Sinns für das richtige Timing. Indem er seinen Einfluss auf die Abfolge der Ereignisse nutzt, stärkt er seine Position entscheidend. Namentlich bringt er die Vorlage in die letzte Session des alten Parlaments und nutzt die Erwerbssituation abgewählter Parlamentarier aus. Zudem sorgt er durch die Verhinderung der Weiterreise der südlichen Abgesandten nach Washington dafür, dass das Vertrauen in eine baldige Verhandlungslösung schwindet.

Erfolglose Strategie
Die Demokraten im Repräsentantenhaus führen ins Feld, was sie haben: den Föderalismus; unverhüllten Rassismus und anti-monarchistische Reflexe («King Abraham Africanus the first»); prozedurale Verzögerungsversuche; Bemühungen, aus damaliger Sicht radikalere Bürgerrechtler zu provozieren, über Stimmrechte für Schwarze und die Umverteilung von Land zu sprechen und damit moderatere Gegner der Sklaverei zu erschrecken. Sie scheitern an dem, was die Historikerin Doris Kearns Goodwin «the political genius of Abraham Lincoln» genannt hat. Auf ein paar wenige Seiten ihres Klassikers «Team of Rivals» stützen sich die zweieinhalb Stunden Film ab.

Wie wird Politik dargestellt?
Politik ist grosses Kino. In der Öffentlichkeit des Parlaments toben heftige rhetorische Schlachten – in einer heute undenkbaren Tonalität – vor vollen Tribünen und mit Foto-Finish bezüglich Mehrheitsverhältnissen. Im Kabinett werden die Zusammenhänge im Stil eines juristischen Seminars erörtert, ergänzt um Anekdoten und Witze, zu denen Präsident Lincoln immer greift, wenn er Andersdenkende, die er bewusst in seine Regierung aufgenommen hat, nicht mit Argumenten überzeugen kann. Und im nicht-öffentlichen und inoffiziellen Hintergrund ist Politik ein partiell unappetitlicher Handel von Stimmen gegen Posten: «You need our help – what do we get?» Auch die Auswirkungen politischer Verantwortung auf das Familienleben werden beleuchtet: Der Sohn des Oberbefehlshabers will in die Armee einrücken, seine Frau drängt deshalb auf die sofortige Beendigung des Krieges. Lincoln muss in seiner Entscheidfindung von der persönlichen Betroffenheit abstrahieren, um für die ganze Gesellschaft und künftige Generationen das Richtige zu tun.

Zitat
«Abolishing slavery by constitutional provision settles the fate, for all coming time, not only of the millions now in bondage but of unborn millions to come. Two votes stand in its way, and these votes must be procured. (…) I am the President of the United States of America, clothed in immense power. You will procure me these votes!»

Themen
Präsidentschaft, Gesetzgebung, Krieg

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