Herr Lotter, Sie haben ein Buch über Zusammenhänge und fehlende Zusammenhänge geschrieben. Warum müssen wir lernen, diese wieder herzustellen?
Wolf Lotter: Weil Mündigkeit und die Fähigkeit, mehr zu sein als bloss Konsument, Grundwissen voraussetzen. Wir müssen wieder wissen wollen, was wir bereits wissen – das klingt vielleicht paradox, ist aber eigentlich ganz einfach. Die meisten Menschen leben in einer komplexen Umwelt, deren wesentlichen Pfeiler sie nicht verstanden haben. Eine neue Allgemeinbildung, eine humanistische Bildung, tut not gegen das Gefühl der Entfremdung, der Ohnmacht und der unausweichlichen Folge, dass sich viele in Bubbles und Identitäten verlieren. Wir müssen mit der alten Vorstellung brechen, dass Komplexität immer nur reduziert werden kann. Wir müssen lernen, sie zu erschliessen – um Wissen produktiv zu machen, zugänglich und barrierefrei.
Ist die Welt heute tatsächlich komplexer als vor 10 oder 20 Jahren? Oder haben wir nur das Gefühl, die Welt sei komplexer geworden?
Die gefühlte Komplexität wäre erst recht ein Beweis dafür, dass uns die Zusammenhänge fehlen. Man meint mit Komplexität, dass wir das Komplizierte nicht verstehen. Viele fühlen sich angesichts der «Systeme», die sie umgeben, ohnmächtig. Das ist sehr schlecht, denn diese Systeme sollen ihnen dienen. Man kann also nicht handlungsfähig bleiben, ein Citoyen im besten Sinne, wenn man sich vor dem fürchtet, in dem man lebt. Dazu müssen Spezialisten wieder verständlich und zugänglich reden, Geschichten erzählen und keine Fachidioten sein wollen.
Worin zeigt sich, dass uns fehlende Zusammenhänge überfordern?
Durch das Extreme auf allen Kanälen. Eine intolerante, mittelalterliche Haltung, die unerbittlich zwischen Faktenlosigkeit und Aberglauben hin und her wechselt.
Das ist extrem gefährlich. Im Alltag zeigt sie sich dergestalt, dass Verschwörungstheorien gerne geglaubt werden. Wenn man von Ökonomie nichts versteht, glaubt man natürlich, dass die Vertreterinnen und Vertreter des Weltwirtschaftsforums in Davos oder der Bilderberg-Konferenz die Welt regieren, also einflussreiche Personen aus Wirtschaft, Politik, Militär, Medien und Hochschulen. Oder die Leute glauben, dass alte antisemitische Ressentiments irgendwie schon stimmen. Der Dummheit sind keine Grenzen gesetzt. Und diese Unwissenheit oder Dummheit wird politisch links und rechts radikal ausgeschlachtet. Das tötet die Demokratie und die Freiheit.
Sind das Fehlen von Zusammenhängen und die zunehmende Komplexität ein Grund für die zunehmende Gereiztheit in den Diskussionen? Das sehen wir besonders in den Sozialen Medien.
Ja. Dabei ist das nur die sichtbare Seite, die sich ja auf anderen Ebenen täglich auch ereignet.
Sind die Sozialen Medien Meinungstreiber?
Sie zeigen mir den Grad an Radikalisierung an. Zudem erscheinen sie mir als Hort für eine alte, fürsorgeorientierte Politik, die den Bürgerinnen und Bürgern die Komplexität der Welt nicht zumuten will. Wenn Politiker sagen: «Das verstehen die Leute nicht», dann treiben sie immer einen weiteren Nagel in den Sarg der offenen Gesellschaft. Sie müssen es erklären. Und zwar als ehrliche Makler. Das gilt auch für Unternehmer. Die wursteln vor sich hin und wundern sich dann, wenn die Leute Shitstorms organisieren oder ganze Branchen für unzumutbar halten. Die Atomindustrie ist ein Beispiel dafür, die alte Autoindustrie ein weiteres. Ohne zu reden, Zusammenhänge herzustellen oder Wissen zu teilen, gibt es keine Chance weiterzukommen.
Noch eine generelle Frage zur Politik: Welchen Einfluss hat diese gestiegene Komplexität auf die politische Kommunikation?
Sie reagiert falsch, nämlich vereinfachend. Weil sie Angst hat vor den eigenen Regeln. Dabei bräuchte es mutige Leute, die sagen, was Sache ist. Und keine Angst haben, dass man ihnen das übelnimmt. Dem Publikum sage ich immer, was Ingeborg Bachmann geschrieben hat: «Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar.» Und Wahrheit, wenn überhaupt, gibt es nur mit Durchblick.
Was hat eigentlich zu dieser Zunahme der Komplexität geführt, die uns unsere Welt nicht mehr verstehen lässt?
Von einer Entfremdung hat schon der alte Marx geredet. Und noch viel früher haben Luther und Zwingli ihr Leben dafür eingesetzt, damit die Bibel verständlich – auf Deutsch – gelesen und verstanden werden konnte. Dieser Konflikt ist also nichts Neues, nur dass man eben in einer Welt, in der es keine Untertanen mehr geben soll, sich mit Unwissenheit und Ohnmacht nicht zufriedengeben kann. Das führt, wie im Mittelalter, nämlich zu Angst vor einem schlechten, bevormundeten Leben und vor Machthabern, denen dieser Zustand nützt. Das ist die Umkehrung von Francis Bacons Überzeugung «Wissen ist Macht – Unwissen ist Ohnmacht».
Wie kam es zu dieser Entfremdung?
Die Arbeitsteiligkeit, die mit der Industrialisierung richtig Fahrt aufgenommen hat, war natürlich der Zeitpunkt, an dem viele nicht mehr verstanden haben, woran der Nachbar genau arbeitet. Insofern liegt der historische Zeitpunkt dort, wo sich die Unverständlichkeit und die Zusammenhanglosigkeit beschleunigen: der Industrialismus, also die Industriegesellschaft.
Wir leben aber nicht mehr in der Industriegesellschaft.
Wir machen den Schritt ins Wissenszeitalter, in die Wissensökonomie und Wissensgesellschaft. Ich zitiere gerne Peter Drucker, den grossen Vordenker der Wissensgesellschaft: «Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, den Wald und die Bäume zu sehen. Wir müssen lernen, Zusammenhänge herzustellen.»
Wolf Lotter, 1962 geboren in Mürzzuschlag, Österreich, ist Essayist mit Schwerpunkt Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft.
Er ist Gründungsmitglied von brand eins und gehörte zuvor mehreren Redaktionen an, z.B. Cash Flow, profil (Wien) und Econy (Hamburg) Er gehört zu den gefragtesten Keynotern zum Thema Transformation in den deutschsprachigen Ländern. Seine Arbeit versucht die langsamen und umso bedeutenderen kulturellen Veränderungen in dieser Veränderung zu beleuchten.
Er gilt zudem als „scharfzüngigster Wirtschaftsessayist Deutschlands“ (Der Journalist).
Wolf Lotter – Zusammenhänge
Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen
Die Welt ist so kompliziert, dass wir uns daran gewöhnt haben, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Aber diese Blindheit können wir uns nicht mehr leisten, argumentiert Wolf Lotter. Sein Buch zeigt, wie wir die Welt in ihren Zusammenhängen neu verstehen können.
Wir leben in einer Wissensgesellschaft, über die wir nur wenig wissen. Wir reden zwar viel darüber, aber was mit den Netzwerken der Technik, der Ökonomie und des Klimas, mit Zivilgesellschaft und mehr Mitbestimmung, mit weniger Hierarchien oder einer zeitgemäßen Bildung wirklich gemeint ist, durchschaut keiner so richtig. Es fehlt uns aber nicht nur an Durchblick, wir trauen ihn uns auch kaum noch zu.
ISBN: 978-3-89684-281-7
Körber Stiftung