«Höre nicht auf, an die Grenzen zu gehen – sie verschieben sich von selber»
Der ehemalige Olympiasieger Bernhard Russi über Glücksgefühle, Grenzerfahrungen und unerfüllte Träume – erster Teil des Gesprächs.
Der ehemalige Olympiasieger Bernhard Russi über Glücksgefühle, Grenzerfahrungen und unerfüllte Träume – erster Teil des Gesprächs.
Goldener Tag in Sapporo: Bernhard Russi auf dem Weg zu seinem Abfahrts-Olympiasieg am Mount Eniwa. (Bild: Keystone)
Weihnachten ist die Zeit der Besinnung. Wird Ihnen an diesen Tagen jeweils besonders bewusst, dass Sie in Ihrem Leben Schicksalsschläge verkraften mussten – Ihre erste Frau Michèle Rubli kam 1996 in einer Lawine ums Leben, einer Ihrer Brüder starb als junger Mann an einer bakteriellen Infektion?
Bernhard Russi: Ja, das wird mir schnell bewusst in der Weihnachtszeit – es fehlen Stimmen im Gesang. Trotzdem wollen wir das Fest geniessen, fröhlich sein und uns zurücklehnen.
Was bedeutet Weihnachten für Sie?
Geschmückter Weihnachtsbaum, Christkind und Singen im Kreis der Familie. Wir löschen das Licht; ich nehme die Handorgel hervor, wir stimmen «Stille Nacht, heilige Nacht» an. Es ist wunderschön. Seit eh und je halten wir an dieser starken Tradition fest.
Wie feiern Sie?
Ich bin glücklich, dass ich Heiligabend mit der Familie in Andermatt feiern darf. Wenn das Christkind an der Tür klingelt und Geschenke bringt, müssen sich meine beiden Kinder jeweils verstecken. Wenig später dürfen sie wieder aus ihren Verstecken hervorkommen. Sie müssen sich das vorstellen: Ian ist 35 Jahre alt und Arzt, Jenny ist 25 Jahre alt und Lehrerin. Ich könnte mir nicht vorstellen, Heiligabend in der Karibik zu verbringen. Ich würde wohl den Moralischen kriegen.
Was wünschen Sie sich?
Ich wünsche mir Frieden, für alle Menschen Gesundheit und für die Welt etwas mehr Ruhe. Ich finde es betrüblich, dass wegen jeder kleinen Unstimmigkeit sogleich Krisenherde entstehen.
Wo werden Sie den Jahreswechsel verbringen?
An einen festlich gedeckten Tisch sitzen, gut essen, Champagner bestellen und warten, bis um Mitternacht die Korken knallen – ich mag diesen künstlich erzeugten Rummel nicht. Natürlich werde ich zu Hause mit meiner Frau fein essen. Um 22 Uhr ziehen wir jedoch die Skibekleidung an, montieren die Skitourenfelle und laufen los. Auch in diesem Jahr werden wir auf der Route Nätschen-Gütsch unterwegs sein. Gegen Mitternacht geniessen wir in aller Ruhe das Feuerwerk im Tal. Im Rucksack ist auch eine Flasche Champagner verstaut.
Welche guten Vorsätze fassen Sie für das neue Jahr?
Ich fasse meine Vorsätze nicht an einem bestimmten Tag. Ich kann jeden Tag etwas in meine Wunschliste schreiben.
Sie gelten als Everybody’s Darling. Was bedeutet Ihnen Glück?
Glück bedeutet für mich, wenn mir sehr nahestehende Menschen und ich gesund sind. Mehr Glück kann man nicht haben.
Kann man Glück erzwingen?
Glück kann man nicht erzwingen, aber man kann es sich erarbeiten. Wer den Lotto-Jackpot knackt, muss nicht zwingend ein glücklicher Mensch sein. Wer jedoch hart an sich selber arbeitet, hat grosse Chancen, dem Glück ein Stück näher zu kommen.
Wie lautet Ihr Lebensmotto?
Höre nicht auf, an die Grenzen zu gehen – sie verschieben sich von selber.
Wie gehen Sie mit dem Älterwerden um?
Für mich ändert sich nicht viel zwischen gestern, heute und morgen. Auch nicht, ob ich nun 69 Jahre alt bin oder 70. Vor den biologischen Veränderungen habe ich keine Angst. Ich halte mich fit, damit ich jeden Tag mit einer hohen Lebensqualität geniessen kann.
Was machen Sie für Ihre Gesundheit?
Ich habe das Glück, dass ich vom Sport getrieben werde. Als passionierter Kletterer ist es mir ein Anliegen, ein- bis zweimal pro Woche in die Berge zu gehen. Schaffe ich das nicht, werde ich unzufrieden. Es zieht mich dann automatisch hinaus. Ich kompensiere die fehlenden Trainingseinheiten mit Extra-Schichten im Kraftraum oder mit einer zügigen Wanderung am späten Abend zu meiner Hochgebirgshütte Wildenmatten. Sie liegt auf 2286 Metern. Schaffe ich den Aufstieg vom Parkplatz bis zur Hütte unter 20 Minuten, finde ich das eine super Leistung. Am nächsten Morgen stehe ich auf und geniesse das wunderbare Panorama. Wenn ich um 8 Uhr wieder in Andermatt eintreffe, bin ich so richtig zufrieden.
Bewegen Sie sich gerne am Limit – holen Sie so Ihren Adrenalinkick?
Ich bin früher Skirennen gefahren. Da bewegte ich mich ständig am Limit. Nur so konnte ich schnell den Berg runterfahren. Diese Adrenalinstösse haben mich süchtig gemacht. Heute bewege ich mich beim Klettern ab und zu am Limit. Es kann vorkommen, dass mich in der Wand ein beklemmendes Gefühl überkommt. In solchen Situationen muss ich das Risiko abschätzen; darf nicht leichtsinnig handeln, auch wenn mir bewusst ist, dass es ein risikoloses Leben nicht gibt. In Extremsituationen – wenn ich mich beispielsweise soweit über dem Felshaken befinde, dass die Rettung nur noch nach oben möglich ist – verschieben sich die Grenzen von selber. Ich habe gelernt, dass man solche Prüfungen meistern kann, indem man einen Zacken zulegt.
Was macht Ihnen Angst?
Angst habe ich nur davor, dass meinen Liebsten etwas zustossen könnte.
Worauf in Ihrem Leben sind Sie besonders stolz?
Ich mag das Wort stolz nicht. Man muss aufpassen, dass man die eigenen Fähigkeiten nicht überschätzt. Egal, was man leistet, egal, wie gut es einem geht – man ist nie nur selber verantwortlich für das, was man tut. Wenn ich jetzt sagen würde: Ich bin stolz, 1972 Abfahrts-Olympiasieger geworden zu sein, würde das heissen, ich wäre allein verantwortlich gewesen für diesen Triumph. Und das bin ich ja nicht. Meine Konkurrenten sind in Sapporo langsamer gefahren als ich. Ihre Frage könnte ich mit dem Wort Freude besser beantworten.
Also, was in Ihrem Leben hat Ihnen besonders viel Freude bereitet?
Meine sportlichen Leistungen. Es macht mich glücklich, dass ich überhaupt in die Situation gekommen bin, um einen Olympiasieg fahren zu können. Gleich viel Freude bereitet es mir, wenn ich in die Augen meiner zufriedenen Kinder blicke. Mit ihnen pflege ich eine glückliche Beziehung.
Welchen Traum wollen Sie sich unbedingt erfüllen?
Träume sind Etappenziele, ich habe nicht den Anspruch, dass sich jeder Traum erfüllen muss. Ich führe eine Wunschliste. So möchte ich zum Beispiel auf meinem Piano einmal Beethovens Mondscheinsonate spielen. Dieses Klavierstück habe ich schon ein paar hundert Mal geübt. Ich mache Fortschritte.
Möchten Sie einen bestimmten Gipfel erklimmen?
Ich möchte nochmals einen hohen Berg besteigen und dabei das Limit suchen. Es muss keine 8000er-Besteigung sein, ein Gipfel zwischen 6500 und 7000 Metern würde mir genügen. Mein bisher höchster Punkt war der Gipfel des Kilimandscharo (5895 Meter, die Red.).
Gespräch: Thomas Wälti
Im zweiten Teil des Gesprächs mit Bernhard Russi geht es um Olympia: Den Pistenbau der Strecke in Südkorea, seinen Sieg 1972, die Schweizer Kandidatur, seine stressigen Tage als Pensionär und um den Klimawandel: «Irgendwann ist das Matterhorn nur noch ein Steinhaufen».
Seinen grössten Erfolg als Skirennfahrer feierte Bernhard Russi 1972 in Sapporo (Japan) – er wurde Olympiasieger in der Abfahrt. Vier Jahre später gewann der Urner an den Winterspielen in Innsbruck hinter Franz Klammer Olympia-Silber. 1970 war Russi in Val Gardena (Italien) Abfahrts-Weltmeister und im gleichen Jahr zum Schweizer Sportler des Jahres gewählt worden. Diese Auszeichnung wurde ihm auch 1972 verliehen. Russi bestritt insgesamt 100 Weltcuprennen (10 Siege: 9 Abfahrten/1 Riesenslalom, 28 Podestplätze). 1970/1971 und 1971/1972 holte der Schweizer Speed-Spezialist die kleine Kristallkugel in der Abfahrt. Nach der Ski-WM 1978 in Garmisch-Partenkirchen (Platz 14) erklärte Russi seinen sofortigen Rücktritt vom Spitzensport.
Nach seinem Rücktritt betätigte sich Russi als erfolgreicher Co-Kommentator und Rennanalyst beim Schweizer Fernsehen sowie als Kolumnist von Blick und SonntagsBlick. Für den Weltskiverband FIS ist er als technischer Berater und Pistenbauer unterwegs. Der gelernte Hochbauzeichner konzipierte seit 1988 mit Ausnahme von Vancouver 2010 sämtliche Olympia-Abfahrten – zuletzt jene von Pyeongchang (Südkorea), wo er von Didier Défago, dem Abfahrts-Olympiasieger von 2010, unterstützt wurde.
Bernhard Russi ist Markenbotschafter von Subaru und Visilab sowie Berater bei Völkl. Er sitzt im Verwaltungsrat von Andermatt Swiss Alps, Andermatt Sedrun Sportbahnen und Bogner. Russi wohnt mit seiner zweiten Frau, der Schwedin Mari Bergström, in Andermatt.
Anfang 1969 trat Russi als Stuntman bei den Dreharbeiten zum James-Bond-Film «Im Geheimdienst Ihrer Majestät» auf. 1982 nahm Russi an der Wüstenrallye Paris-Dakar teil. Die Besteigung des grössten Granit-Monoliths El Capitan im Yosemite-Nationalpark (USA) und der New-York-Marathon 1983 (3:26:52 Stunden) sind weitere Eckpunkte im Leben des Abenteurers.
Die Urner Regierung würdigte den prominentesten Andermatter mit zwei aussergewöhnlichen Geschenken: Seit seinem WM-Titel 1970 fährt Bernhard Russi mit dem Kontrollschild «UR 5000» umher. Russi besitzt seit seinem Triumph vor 47 Jahren auch ein 1000 Quadratmeter grosses Landstück zuhinterst im Unteralptal. Auf dieser Alp hat Russi seine Hochgebirgshütte Wildenmatten gebaut.