«Die Schweiz steht an einem neuralgischen Punkt»
Kommunikationsforscher Mark Eisenegger erklärt, warum die Medien in der Schweiz der Desinformation besser trotzen als in den USA – und was ihm dennoch auch bei uns Sorgen bereitet.
Kommunikationsforscher Mark Eisenegger erklärt, warum die Medien in der Schweiz der Desinformation besser trotzen als in den USA – und was ihm dennoch auch bei uns Sorgen bereitet.
Mark Eisenegger, die Medien stehen schon lange unter ökonomischem Druck, nun steigt auch derjenige aus der Politik. US-Präsident Donald Trump verklagt die «New York Times» und sorgt dafür, dass kritische Stimmen vom Bildschirm verschwinden. Was heisst das für die Medienfreiheit?
Mark Eisenegger: Es bestätigt, was verschiedene Studien zeigen: Medienfreiheit ist eine Säule der Demokratie und muss stets aufs Neue verteidigt werden. Dass sie auch in demokratischen Gesellschaften zunehmend unter Druck gerät, ist eine Entwicklung, die mir Sorgen bereitet.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung in letzter Zeit?
Eisenegger: Die Anfeindungen gegenüber Journalistinnen und Journalisten haben in vielen Ländern zugenommen. Das hat viel mit negativen Attributen wie «Lügenpresse» oder «Mainstream-Medien» zu tun, mit denen die Medien immer öfter bedacht werden. Bei uns in der Schweiz ist es zum Glück noch nicht so ausgeprägt. Wenn man aber die Medien permanent verbal angreift und sie mit Pauschalvorwürfen à la «Ihr seid alles Fake-News-Schleudern» eindeckt, macht das auf die Dauer auch etwas mit der Bevölkerung. Dann muss man sich nicht wundern, wenn die Medien von gesellschaftlichen und politischen Akteuren stärker unter Druck gesetzt werden.
Ist der Druck dort am stärksten, wo die Negativ-Botschaften von ganz oben kommen – wie in den USA, wo sie der Präsident verbreitet?
Eisenegger: Ja, in hoch polarisierten Gesellschaften wie den USA ist der Druck auf die Medien besonders stark. Dort bewegen sich die Bürgerinnen und Bürger in zwei voneinander praktisch getrennten Kommunikationssilos – sie nehmen einander kaum noch wahr oder begegnen sich vor allem in feindlicher Haltung. Genau in einem solchen Klima fällt auch Desinformation auf besonders fruchtbaren Boden, wie die Forschung zeigt.
Warum?
Eisenegger: Weil man in hochpolarisierten Gesellschaften in seinem Kommunikationssilo oft ungestraft falsche Nachrichten verbreiten kann. Dort ist das Teilen von Desinformation häufig Ausdruck einer politischen Identität und zeigt, auf welcher Seite man steht. Weil diese Gruppen voneinander abgeschottet kommunizieren, gibt es keinen Reputationsverlust. In einer Gesellschaft wie der schweizerischen, die kommunikativ viel vernetzter ist und in der es Nachrichtenmedien gibt, die über parteipolitische Milieus hinweg genutzt werden, ist das viel schwieriger. Aber man muss es natürlich auch bei uns ganz genau verfolgen. Die gesellschaftliche Verfassung ist ganz entscheidend für die Qualität der Kommunikation in einer Gesellschaft.
In Osteuropa gibt es ähnliche Tendenzen wie in den USA – etwa in Ungarn, wo die Regierung die Medien kontrolliert und kritische Stimmen unterdrückt. Kann das auch auf westliche Demokratien überschwappen?
Eisenegger: Die Beispiele aus Ungarn und Polen zeigen, wie der öffentliche Rundfunk seine Unabhängigkeit verlieren und quasi zum Staatsmedium werden kann. Auch westliche Länder sind nicht immun – ihre Medien stehen unter massivem ökonomischem Druck. Die Zahlungsbereitschaft des Publikums sinkt, Werbegelder wandern zu Tech-Giganten und Künstliche Intelligenz bedroht zusätzlich das Geschäftsmodell des Journalismus. In einem finanziell geschwächten Mediensystem ist das Risiko politischer Einflussnahme viel grösser als in einem Mediensystem, das ökonomisch auf gesunden Beinen steht.
Der Einstieg der Tech-Giganten bei Verlagen wie der «Washington Post» wurde zuerst begrüsst. Jetzt zeigt sich, dass sie die Medien gnadenlos nutzen wollen, um ihre Meinung unter die Leute zu bringen. Droht diese Entwicklung auch in Europa?
Eisenegger: Es gibt grosse Unterschiede zwischen den Ländern. Natürlich sind ökonomisch geschwächte Medien potenziell anfälliger für solche Investoren. Dennoch vertraue ich auf die Resilienz demokratischer Gesellschaften. In den meisten Ländern Europas – gerade auch in der Schweiz – ist das Bewusstsein immer noch stark, wie wichtig unabhängige Medien sind.
In der Schweiz häufen sich die Angriffe auf die nationale SRG. Welche Chancen geben Sie der Halbierungsinitiative?
Eisenegger: Es wird sicher ein härterer Kampf als 2018 bei der No-Billag-Initiative. Damals war vielen Bürgerinnen und Bürgern im Land klar: Wird sie angenommen, ist die Gefahr gross, dass meine Lieblingssendung verschwindet. Bei der Halbierungsinitiative glauben viele, die SRG komme mit der Hälfte des Budgets immer noch gut durch, und dass dann ihre Sendung vielleicht nicht betroffen wäre. Genau deshalb braucht es intensive Aufklärung – denn tatsächlich wäre es ein massiver Einschnitt, der das ganze Mediensystem schwächen würde, nicht nur die SRG.
Warum?
Eisenegger: Weil auch private Medien von einer starken SRG profitieren: Sie stärkt das Vertrauen in den Journalismus insgesamt – eine Voraussetzung dafür, dass Menschen bereit sind, Medien zu unterstützen und auch dafür zu zahlen. Es wird sicher kein Spaziergang. Aber ich glaube, dass die Initiative am Ende keine Mehrheit finden wird. Viele werden erkennen, wie wichtig ein starker öffentlicher Rundfunk für die Abwehr von Desinformation und für den Informationsjournalismus ist.
Ist das nicht zu optimistisch? Schliesslich konsumiert fast die Hälfte der Bevölkerung, aktuell 46 Prozent, keine traditionellen Medien mehr.
Eisenegger: News-Deprivation ist tatsächlich ein gravierendes Problem, das wir gesellschaftlich sehr viel ernster nehmen müssen. Unsere aktuelle Studie, die wir demnächst publizieren werden, zeigt: Wer sich kaum oder nur über Social Media informiert, verfügt über deutlich weniger politisches Wissen – aber auch über weniger Wissen bei «leichteren» Themen wie Sport oder Unterhaltung. Zudem beteiligen sich News-Deprivierte demokratisch weniger: Sie stimmen seltener ab, vertrauen weniger der Politik und den Medien und identifizieren sich auch weniger mit der demokratischen Gesellschaft.
Mit welchen Folgen?
Eisenegger: Das Risiko von Desinformation ist in der Schweiz noch vergleichsweise gering, auch wenn es mit der KI zunimmt. Viel mehr Sorgen macht mir aber, dass immer weniger verlässliche journalistische Informationen die Bürgerinnen und Bürger erreichen. Hier müssen wir dringend Lösungen finden.
Sind die Medien schuld an der Entwicklung – haben die SRG und die grossen Verlage die richtige Strategie verschlafen?
Eisenegger: Das würde ich so nicht sagen. Viele News-Deprivierte sagen, Journalismus sei zu negativ oder zu komplex – er drücke auf die Stimmung oder erschlage mit Informationsflut. Konstruktiver Journalismus kann da helfen, ist aber sicher kein Allheilmittel. Die Ursachen liegen tiefer: Der Medienwandel hat dazu geführt, dass sich die Bindung zu klassischen Marken in den sozialen Medien löst. Nutzerinnen und Nutzer unterscheiden weniger zwischen professionellem Journalismus und alternativen Angeboten. Zwar steigt die Mediennutzung insgesamt, aber nicht zugunsten des Journalismus. Es ist ein Verdrängungseffekt: News-Deprivierte benützen Medien, um sich zu vernetzen, zu chatten, sich zu unterhalten oder Filme zu streamen.
Was heisst es für die Qualität der Medien: Nimmt sie zu oder ab?
Eisenegger: Empirische Vergleiche über sehr lange Zeiträume fehlen, aber unsere Qualitätsanalysen in den letzten 15 Jahren zeigen: Unter Ressourcendruck leidet die Vielfalt und vor allem die Einordnung – dort, wo Hintergrund und Kontext gefragt sind. Genau das erfordert Zeit und Mittel, die heute immer mehr fehlen. Dennoch: Im internationalen Vergleich ist die publizistische Qualität in der Schweiz immer noch recht hoch. Das grössere Problem ist weniger die Qualität als vielmehr die Reichweite – der Journalismus erreicht immer weniger Bürgerinnen und Bürger. Positiv bleibt, dass Desinformation hierzulande von den journalistischen Medien meist rasch aufgegriffen und kritisch eingeordnet wird. Die Watchdog-Funktion funktioniert also weiterhin relativ gut.
Wie lange noch – wagen Sie eine Prognose?
Eisenegger: Eine konkrete Prognose möchte ich nicht abgeben, das wäre unseriös. Aber das Mediensystem in der Schweiz steht an einem neuralgischen Punkt: Jahrzehntelanger Ressourcenverlust trifft jetzt auf die disruptiven Effekte von KI. Chatbots wie ChatGPT verringern die Reichweite des Journalismus zusätzlich. Im Zero-Klick-Web klicken die Nutzerinnen und Nutzer nur selten auf die Originalquellen und geben sich mit den Antworten der KI-Chatbots zufrieden. Darunter leidet der Traffic auf journalistische Webseiten. In naher Zukunft werden KI-Chatbots auch selber Werbung ausspielen. Das wird das Geschäftsmodell des Journalismus weiter unter Druck setzen. In Kombination mit der Halbierungsinitiative könnten die nächsten drei bis vier Jahre entscheidend dafür sein, wie es mit dem Schweizer Journalismus weitergehen wird.
Und damit auch mit der direkten Demokratie schweizerischer Prägung, die nur mit unabhängigen, starken Medien funktionieren kann?
Eisenegger: Ja, genau. Journalismus ist systemrelevant: Unsere Studie zeigt, dass die direkte Nutzung journalistischer Angebote mit demokratischem Wissen, mit demokratischer Partizipation und dem Vertrauen in die Institutionen korreliert. Und wir sehen auch, dass es eben nicht reicht, wenn man sich praktisch nur noch über soziale Medien wie Facebook, Instagram oder TikTok informiert. Wer das tut – eben die News-Deprivierten –, hat deutlich geringeres Wissen, weniger Vertrauen und eine schwächere Identifikation mit der Demokratie. Deshalb bleibt der direkte, aktive Kontakt zum Journalismus absolut zentral.
Welche Medien konsumieren Sie im Laufe des Tages – morgens, mittags, abends?
Eisenegger: Nach dem Aufwachen checke ich zuerst auf dem Handy die Push-Meldungen der Nacht und sehe, was auf den sozialen Medien passiert. Im Badezimmer höre ich die SRF-Nachrichten, im Büro lese ich die «NZZ», den «Tages-Anzeiger» und ein Populärmedium wie den «Blick». Tagsüber schaue ich bewusst auch in Medien aus dem rechtskonservativen Spektrum.
…wie «Weltwoche» oder «Nebelspalter»?
Eisenegger: Ja, genau. Ich finde es wichtig, sich auch mit Positionen auseinanderzusetzen, die nicht der eigenen Meinung entsprechen. Mittags nutze ich, wenn möglich, internationale Medien online – «Economist», «New York Times», «Wall Street Journal». Auf dem Heimweg gehört für mich immer das «Echo der Zeit» dazu, und abends die «Tagesschau». Ich bin schon ein News-Junkie, auch auf sozialen Medien, und verfolge auch Influencer wie beispielsweise den verstorbenen Charlie Kirk oder Bernie Sanders – das ist für mich spannend.
Was halten Sie von den Reaktionen auf Charlie Kirks Tod?
Eisenegger: Die Reaktionen in sozialen Medien auf die Ermordung Kirks haben mich erschüttert. In gewissen Kreisen wurde sein Tod regelrecht abgefeiert. Solche Reaktionen zeugen von einer bedenklichen Verrohung des politischen Diskurses auf beiden Seiten des politischen Spektrums in Amerika.
Bleibt Ihnen auch noch Zeit für anderes, oder sind Sie Tag und Nacht mit Medien beschäftigt?
Eisenegger: Medien sind mein Beruf, ihr Konsum gehört zu meinem Selbstverständnis als Kommunikationswissenschaftler. Natürlich habe ich auch ein Leben neben dem Job, das ich mit Hobbies und Familie fülle.
Welche Hobbies haben Sie?
Eisenegger: Ich bin gern in der Natur, gehe viel wandern, führe Gespräche mit guten Freunden über Gott und die Welt. Viel Kraft schöpfe ich aus meiner Familie, den Töchtern und Gesprächen mit meinem Freundes- und Bekanntenkreis. Gut essen bei einem Glas Wein gehört ebenfalls dazu.
Mark Eisenegger (59) ist in Zürich aufgewachsen und hat an der Universität Zürich Soziologie, Publizistik- und Kommunikationswissenschaft sowie Informatik studiert. Er ist Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung IKMZ in Zürich. Zudem leitet er deren Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft fög, das er mit dem Mediensoziologen Kurt Imhof gegründet hat und das seit 15 Jahren das «Jahrbuch Qualität der Medien» herausgibt. Mark Eisenegger lebt mit seiner Frau und zwei erwachsenen Töchtern in Neerach (ZH).