Wenn ukrainische Bürgerinnen und Bürger Truppenbewegungen der russischen Armee feststellen, können sie da über ein App den eigenen Streitkräften (im Bild) melden. Die Frage, was solche Handlungen aus Zivilisten in einem bewaffneten Konflikt gemäss Kriegsvölkerrecht macht, ist ungeklärt. (Foto: Shutterstock)

Journalisten haben den Einmarsch in die Ukraine schon als den «ersten TikTok-Krieg der Welt», den «am besten über das Internet zugänglichen Krieg der Geschichte» und den bisher «viralsten» Social-Media-Krieg bezeichnet. Trotz aller Tech-Labels: Diese Art von Hype sagt uns nur wenig über die tatsächlichen Auswirkungen der digitalen Technologie auf den aktuellen Konflikt.

Bislang hat der Krieg in der Ukraine zwei wichtige digitale Trends hervorgebracht. Erstens haben technologische Innovationen der Ukraine geholfen, Russlands konventionellen militärischen Vorteil auszugleichen, vor allem durch eine stärkere Beteiligung der einfachen Bürgerinnen und Bürger.

Aber: Damit haben sich die Grenzen zwischen zivilen und militärischen Akteuren verwischt, da die Bevölkerung in einzigartiger Weise in die digitale Kriegsführung einbezogen wurde. Leider konnte das humanitäre Völkerrecht nicht mit dieser Entwicklung Schritt halten, was zu wachsenden Bedenken hinsichtlich der Anwendung der Kriegsregeln in einem digitalen Konflikt geführt hat.

Regierungen und zivilgesellschaftliche Organisationen, denen die Einhaltung des Kriegsrechts am Herzen liegt, sollten diese neuen Herausforderungen zur Kenntnis nehmen. Steven Feldstein, Senior Fellow im Demokratie-, Konflikt- und Regierungsprogramm der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden, führt in einem Essay dazu Folgendes aus: «Die digitale Technologie ist heute ein zentrales Merkmal der Kriegsführung. Je früher neue politische und rechtliche Leitlinien formuliert werden können, desto wirksamer werden internationale Institutionen in der Lage sein, in künftigen Konflikten Zivilisten zu schützen und solche zu verfolgen, die das Kriegsvölkerrecht verletzen.»

Den Spiess umdrehen 

Die Ukraine hat neue Technologien eingesetzt, um den Spiess gegen Russland umzudrehen. Als einer der ersten Konflikte, in dem beide Konfliktparteien über eine fortschrittliche technische Infrastruktur verfügen, ist dieser Krieg zu einem Labor für neue technologische Konzepte geworden. Bisher konzentrierte sich die Berichterstattung vor allem auf den Einsatz neuer Waffen wie die türkische Bayraktar-Drohne TB2 oder neuer Kommunikationsmittel wie den satellitengestützten Internetdienst Starlink. Doch die digitale Technologie hat noch einen weiteren, ebenso bedeutenden, aber weniger offensichtlichen Einfluss auf die Art und Weise, wie der Krieg geführt wird.

Entscheidend ist, dass Starlink einen weiteren Zweck erfüllt. Die Bereitstellung eines zuverlässigen Internetzugangs hat den ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht, sich aktiv an der Zurückdrängung der russischen Streitkräfte zu beteiligen. Damit haben sie die Kriegsführung über die Grenzen der traditionellen militärischen und staatlichen Akteure hinaus erweitert. Eine wichtige Neuerung war der Einsatz von Crowdsourcing-Apps in der Ukraine, die es Einzelpersonen ermöglichen, wichtige Informationen über russische Militärbewegungen und -anlagen zu liefern. Diese Daten werden dann auf einer Karte zusammengefasst und von Geheimdienstmitarbeitenden entsprechend eingesetzt.

Beteiligt sich die Zivilbevölkerung damit an den Kämpfen? 

Da die Ukrainerinnen und Ukrainer dank digitaler Technologien in einzigartiger Weise in die Kriegsführung einbezogen werden können, sind die Grenzen zwischen zivilen und militärischen Akteuren unscharf geworden. Diese Unschärfe wirft schwierige Fragen zum Schutz der Zivilbevölkerung nach humanitärem Völkerrecht auf. Ein grundlegendes Rechtskonzept ist der Grundsatz der Unterscheidung: Von Konfliktparteien wird erwartet, dass sie zwischen der Zivilbevölkerung und militärischen Kämpfern unterscheiden und ihre Operationen nur gegen militärische Ziele richten. Aber gelten diese Regeln auch dann, wenn Zivilisten eine der Kriegsparteien direkt unterstützen – etwa indem sie ukrainische Artillerieeinheiten mit Drohnenaufnahmen von russischen Panzern versorgen, die anschliessend Präzisionsschläge ausführen? Im humanitären Völkerrecht ist fest verankert, dass Zivilisten Schutz vor direkten Angriffen geniessen, «sofern und solange sie nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen». Die Auslegung dessen, was genau mit «direkter Beteiligung an Feindseligkeiten» gemeint ist, ist jedoch nicht geklärt.

Wo liegen die Grenzen des humanitären Völkerrechts? 

Andere Handlungen bringen noch mehr Unsicherheit mit sich. Wie sollte man beispielsweise Zivilisten behandeln, die regelmässig Überwachungsmaterial auf Diia hochladen, das später von den ukrainischen Streitkräften für Raketenangriffe verwendet wird? Wenn es sich bei den übermittelten Informationen um taktische Informationen handelt, die an eine angreifende Luftwaffe weitergegeben werden, würde dies im Allgemeinen als direkte Teilnahme an Feindseligkeiten betrachtet werden. Wenn die gesammelten Informationen jedoch nicht taktischer Natur sind – oder wenn die Aktivität zwar militärisch zu sein scheint, aber nicht direkt mit einem Schaden verbunden ist, wie z. B. der Kauf, die Herstellung oder die Wartung von Waffen oder anderen Ausrüstungsgegenständen ausserhalb spezifischer militärischer Operationen – dann würden diese Handlungen nicht die Schwelle der «direkten Teilnahme an Feindseligkeiten» erfüllen. Die sich aus der neuen digitalen Dimension von Konflikten ergebenden Unsicherheiten bringen erhöhte Risiken für die Zivilbevölkerung mit sich und machen deutlich, wie wichtig es ist, für mehr Klarheit hinsichtlich der Kriegsregeln zu sorgen.

Die Invasion in der Ukraine zeigt die einzigartige Wirkung neuer Technologien auf dem Schlachtfeld und die wachsende Rolle der Zivilbevölkerung bei der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologie. Dies wirft komplizierte Fragen zu den Grenzen des humanitären Völkerrechts und zu den Gefahren auf, die entstehen, wenn man sich bei der Rechtsprechung und der Rechenschaftspflicht zu sehr auf Informationen aus offenen Quellen ohne einheitliche Verfahren verlässt.

Die politischen Entscheidungstragenden sollten mehr tun, um diese neuen Probleme anzugehen.

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