«Geschämt habe ich mich für die Uniform nie»

Die höchste Schweizer Offizierin, Frau Divisionär Germaine Seewer, spürt am eigenen Leib, wie die Armee und ihre Angehörigen wegen des Ukrainekriegs stärker geschätzt werden. Für sie gibt es aber noch Luft nach oben.

Frau Divisionär Germaine J.F. Seewer führt die Höhere Kaderausbildung der Armee. Sie ist verantwortlich für die Führungs- und Stabsausbildung der Milizkader ab Stufe Einheit, die Aus- und Weiterbildung der Berufskader sowie für die militärwissenschaftliche Lehre und Forschung. (Foto: zvg)

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist der Stellenwert der Armee gestiegen. Merken Sie das in der Ausbildung der Armeekader?

Germaine Seewer: Ich merke es vor allem an den Reaktionen der Leute, die mir jetzt auch mal spontan für den Einsatz danken. Es scheint tatsächlich so: Das Auftreten in Uniform und das sicherheitspolitische Instrument Armee haben einen anderen Stellenwert in der Gesellschaft erhalten. In der Ausbildung ist uns wichtig, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aufzuzeigen, dass Krieg eine Realität ist. Persönlich finde ich sehr traurig, was im Osten Europas geschieht. Auf beiden Seiten ist es die Bevölkerung, die leidet. Dass das im 21. Jahrhundert geschieht, gibt mir zu denken.

Können Sie jetzt stolz sein auf die Uniform, während Sie sich früher fast schämen mussten?

Seewer: Geschämt habe ich mich für die Uniform nie. Sie wurde aber nicht gleich wahrgenommen. Die Armee war völlig selbstverständlich, jetzt hat man ihre Bedeutung erkannt. Die Kriege waren ja «ganz weit weg», und jetzt sind sie ganz nah. Nun realisiert man, was das eigentlich heisst.

Jahrzehntelang hiess es, ein konventioneller Krieg in Europa sei kein realistisches Szenario. Gibt es schon Erkenntnisse für die Ausbildung – schaffen Sie zum Beispiel neue Ausbildungsgänge?

Seewer: Das drängt sich bis jetzt nicht auf. Wenn wir aber eine Übung machen, so sind sich alle Teilnehmenden bewusst, dass dahinter eine Realität ist. Aus den Mitteln und der Art und Weise, wie sie eingesetzt werden, ergeben sich Hinweise, die in die Ausbildung einfliessen. Das wird laufend berücksichtigt.

In der Ukraine kämpfen viele Frauen mit. Freut Sie das als ranghöchste Schweizer Offizierin, die kürzlich von der ETH für ihre Rolle als Vorbild der Frauen geehrt wurde?

Seewer: Freuen kann einen ein Krieg nie. Ich möchte nicht die Ukraine werten, sondern über die Schweiz sprechen. Die Frauen nehmen ihre Rolle in der Gesellschaft zunehmend wahr. Sie versuchen mit den Mitteln, die sie haben, zu unterstützen. Die Gesellschaft ist bunt gemischt, es gibt verschiedene Aufgaben, jeder und jede hat da eine Verantwortung. Was es braucht, ist ein gemeinsames Verständnis und gegenseitigen Respekt. Mich freut immer, wenn Frauen ihre Rolle in der Gesellschaft wahrnehmen.

Besonders, wenn sie es in der Armee tun?

Seewer: Wir haben unseren Platz in der Armee, genau gleich, wie wir unseren Platz in der Gesellschaft haben. Es ist dasselbe, wenn Männer sogenannte Frauenberufe ausüben. Um diese Entwicklung der Gesellschaft bin ich froh.

Weniger als ein Prozent der Armeeangehörigen sind weiblichen Geschlechts. Wie hoch ist der Anteil bei den jährlich mehr als 8000 Teilnehmenden der Kurse und Lehrgänge der Höheren Kaderausbildung der Armee (HKA)?

Seewer: Die Grössenordnung dürfte ähnlich oder etwas grösser sein. Gut zwei Drittel der Frauen, die sich entscheiden, eine militärische Grundausbildung zu absolvieren, machen weiter.

Weil sie nicht mussten, sondern wollten?

Seewer: Unsere Bundesverfassung hat es so festgelegt, und ich sage den Jungen immer: «Wenn ihr etwas freiwillig macht, dann ist die Motivation eine andere.»

Macht sich das auch in der Ausbildung bemerkbar?

Seewer: Die angehenden Berufsoffiziere und Milizkader bringen sich alle ein, die Frauen wie die Männer, und versuchen, möglichst viel für die eigene Funktion herauszuholen. Da kann und will ich keine Rangliste machen, wer jetzt besser ist. Sicher gibt es Themen, zu denen Frauen eine höhere Affinität haben, und andere, die Männern eher liegen. Es gibt aber kein «Damenklübli». Die Frauen sind in den Lehrgängen vollständig integriert.

Würden Sie es begrüssen, wenn beide Geschlechter in der Schweizer Armee gleich gut vertreten wären?

Seewer: Sie sind bereits in der ganzen Bandbreite vertreten und das wirkt sich positiv aus. Diverse Teams sind kreativer, erfolgreicher. Sicher sollen die Frauen keine Lückenbüsserinnen sein. Wie die Armee ausgestaltet sein soll, ist letztlich politisch auszudiskutieren.

Milizoffiziere beklagen, sie könnten wegen der mangelnden Bestände keine Übungen mehr durchführen. Spüren Sie das Bestandesproblem der Armee ebenfalls?

Seewer: Jein, denn in der Ausbildung sind die Kurse und deren Teilnehmende klar definiert. Was hier eine Übung erschweren kann, ist, wenn gerade eine nötige Funktion fehlt und man zum Beispiel keinen vollständigen Stab bilden kann.

Die militärische Ausbildung wird neuerdings von den Universitäten anerkannt. Wird es dadurch einfacher, die Leute zum Weitermachen zu bewegen?

Seewer: Wir haben einerseits Ausbildungsgutschriften, von der Rekrutenschule bis hinauf zum Kompaniekommandant. Das hat sicher den einen oder die andere motiviert, die Ausbildung in Angriff zu nehmen, weil er oder sie für die Zeit, in der er oder sie dabei ist, eine finanzielle Entschädigung bekommt, die er oder sie danach investieren kann. Anderseits gibt es verschiedene Vereinbarungen zwischen Hochschulen und der HKA, wonach aufgrund militärischer Ausbildung ECTS-Punkte angerechnet werden. Seit neustem anerkennt zudem die Universität Luzern als erste Hochschule die militärische Führungsausbildung.

Wie genau?

Seewer: Angehende Kompaniekommandanten können den CAS in Decisive Leadership erwerben und das Zertifikat auch für ihre zivile Karriere nutzen. Das ist ein wunderschönes Zeichen. Falls sie später den Masterlehrgang machen möchten, wird ihnen das angerechnet. Gerade ist der erste angepasste Lehrgang mit 49 Teilnehmenden zu Ende gegangen, von denen 18 diese Möglichkeit genutzt haben.

Leidet die Armee auch unter einem Fachkräftemangel?

Seewer: Der Beruf des Kochs ist ein klassisches Beispiel dafür, dass ein Problem, das die Gesellschaft hat, automatisch auch die Armee betrifft. Dem versuchen wir mit verschiedenen Massnahmen entgegenzuwirken. Um die Küchen trotzdem bestücken zu können, bilden wir kochaffine Leute weiter.

Was heisst das?

Seewer: Bisher hatten wir die Funktion Truppenkoch auf Leute beschränkt, welche die Regeln im Umgang mit Lebensmitteln schon kannten. Das weiten wir jetzt aus. Es gibt Männer, die gerne kochen. Wenn ein angehender Banker das im Militär tun will, befähigen wir ihn dazu. Damit können wir ihm etwas mitgeben, was er von Haus aus nicht hatte, und erweitern das Gefäss. Die Armee profitiert ungemein vom breiten Wissen, das die Miliz mitbringt. Das ist ein Beispiel dafür, dass sie auch etwas zurückgibt.

Gibt es noch andere Berufe, die Sie so fördern?

Seewer: Ein anderes Beispiel ist der Cyber-Lehrgang, den wir anbieten. Um daran teilzunehmen und sich zum Crack ausbilden zu lassen, muss jemand nicht Informatik studiert haben, aber in einem Selektionsverfahren beweisen, dass er oder sie über ein gutes Grundwissen verfügt. Das kann auch ein Maturand sein, der das Feeling dafür hat. Am Ende ist das auch eine Win-Win-Situation, weil er oder sie danach zurück in die Wirtschaft geht und das Wissen dort einbringen kann.

Wie sieht Ihr typischer Arbeitstag aus?

Seewer: Einen richtig typischen gibt es nicht – ausser dem Montag. Das ist ein Tag, an dem ich genau weiss, wie er beginnt und was bis zum Mittag abläuft. Sonst sind meine Tage von vielen Besprechungen geprägt. Daneben gibt es Papiere zu behandeln und zu schreiben. Mindestens einmal im Monat besuche ich jedes meiner vier Kommandi, tausche mich mit den Kommandanten aus, gehe in die Lehrgänge. Ich schätze den persönlichen Austausch sehr und bin eine glückliche Person, weil ich ihn mit einer Vielzahl von Menschen pflegen kann. Es ist nicht wie eine Schulklasse, die über Jahre im Schulhaus bleibt. Dazu kommt zum Beispiel auch das Jubilaren-Kafi, wie ich es nenne: Wenn jemand einen runden Geburtstag oder ein Dienstjubiläum hat, lade ich ihn zum Kaffee ein.

Was gefällt Ihnen besonders an Ihrem Job?

Seewer: Der Austausch mit den Menschen. Denn wir tragen wohl eine Uniform, aber drinnen stecken Menschen. Das ergibt wunderschöne Gespräche, bei denen man plötzlich feststellt, dass man einen gemeinsamen Hintergrund, ähnliche Hobbys oder ähnliche Erfahrungen gemacht hat. In meinem Tätigkeitsfeld sind ja alle freiwillig da. Die stehen bis Freitagabend im Beruf und rücken am Montag bei uns ein – und sind voll bei der Sache. Als Kommandant der Höheren Kaderausbildung bin ich wirklich in einer privilegierten Situation.

Zuvor waren Sie unter anderem Chefin Operationen am Kompetenzzentrum für Friedensförderung Swissint und Personalchefin der Armee. War es da anders?

Seewer: Ich möchte keine Position ausgelassen haben. An jeder bin ich auch selber gewachsen und habe auf verschiedenster Stufe meine Erfahrungen sammeln dürfen. Ich bin froh über meinen Werdegang, einschliesslich der akademischen Ausbildung als Naturwissenschafterin.

Sie haben Chemie studiert, was Sie mit Angela Merkel und Margaret Thatcher verbindet.

Seewer: Das ist purer Zufall. Ich sage immer: Es ist das naturwissenschaftliche Gen, das verbindet, unabhängig davon, ob wir Chemikerinnen, Biologen oder was auch immer sind.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten für die Armee, was würden Sie ihr wünschen?

Seewer: Dass die Armee wieder den Stellenwert bekommt, der ihr zusteht. Und dass man nicht nur das Negative sieht, sondern auch das Positive, und das als alltäglich und selbstverständlich annimmt.

Hat der Ukrainekrieg das schon bewirkt?

Seewer: Der Stellenwert der Armee ist gestiegen, es hat aber sicher noch Luft nach oben. Und es sollte nicht nur auf einem Krieg basieren, sondern auf all dem, was die Armee im Alltag für die Gesellschaft leistet. Man sollte auch den Mehrwert der Führungsausbildung wieder erkennen und anerkennen. Dass es nicht nur eine Abwesenheit ist, sondern eine gewinnbringende Abwesenheit, in der die Leute wertvolle Erfahrungen sammeln, die sie dann wieder in ihre Unternehmen zurückbringen. Da fehlt noch oft das Verständnis, nach dem Motto: Jetzt ist der wieder ein paar Wochen lang weg.

Was tun Sie, wenn Sie die Uniform ablegen: Zieht es Sie als Naturwissenschafterin in die Natur?

Seewer: Wenn ich kann, gehe ich in die Berge. Meine grosse Liebe gilt im Winter den Skitouren. In geraden Jahren nehme ich an der Patrouille des Glaciers teil. Dabei kann ich mich gut erholen und mein Umfeld pflegen. Für mich gehört aber auch dazu, dass ich mich auch ausserhalb der Armee in den Dienst der Gesellschaft stellen kann, zum Beispiel als Stiftungsrätin in der Schweizerischen Nationalspende.

Germaine Seewer (58) ist die erste Berufssoldatin der Schweiz im Rang eines Divisionärs. Die Walliserin studierte Chemie an der ETH Zürich, forschte als Post-Doktorandin in Dänemark und arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsanstalt für Nutztiere in Posieux, bevor sie als zivile Angestellte ins damalige EMD wechselte. 2007 wurde sie Berufsoffizier bei der Luftwaffe, 2013 ernannte sie der Bundesrat zur Chefin Personelles der Armee. Seit 2020 führt Germaine Seewer als Kommandantin die Höhere Kaderausbildung der Armee. Sie lebt als Wochenaufenthalterin im Grossraum Bern.

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