Mit solchen Schiffen gelangt Flüssigerdgas (LNG) etwa aus den USA oder den Golfstaaten nach Europa, was russisches Gas wohl bald überflüssig macht. (Foto: Shutterstock)

Seit einem Grossteil des vergangenen Jahres und seit seinem Einmarsch in die Ukraine im vergangenen Februar hat sich der russische Präsident Wladimir Putin auf seine vermeintliche Allmacht im Energiebereich berufen und die Weltwirtschaft als Geisel seiner Launen genommen. Im letzten Sommer hat Putin die Erdgaslieferungen nach Europa gedrosselt, in der Hoffnung, dass die Europäer, die im Winter fröstelnd und ohne Heizung dastehen, sich gegen ihre Führer wenden und eine weitere Unterstützung der Ukraine politisch unmöglich machen würden. Mit dieser Zusammenfassung beginnt eine spannende Analyse, die Jeffrey Sonnenfeld, Lester-Crown-Professor für Managementpraxis und stellvertretender Dekan an der Yale School of Management, und Steven Tian, Forschungsdirektor des Yale Chief Executive Leadership Institute, jüngst zusammen bei Foreign Policy veröffentlicht haben.

Laut Sonnenfeld und Tian war die Drohung zu Beginn wirksam: Im Jahr 2021 wurden satte 83 Prozent des russischen Gases nach Europa exportiert. Russlands Gesamtexporte von 7 Millionen Barrel Öl pro Tag und 200 Milliarden Kubikmetern Pipelinegas pro Jahr machten etwa die Hälfte der russischen Staatseinnahmen aus. Noch wichtiger war, dass Russlands Rohstoffexporte eine entscheidende Rolle in den globalen Lieferketten spielten: Europa war bei 46 Prozent seiner gesamten Gasversorgung auf Russland angewiesen, und die Abhängigkeit von anderen russischen Produkten wie Metallen und Düngemitteln war ähnlich gross.

Doch Sonnenfeld und Tian sind sicher: «Nun, da wir uns dem einjährigen Jahrestag von Putins Invasion nähern, ist es offensichtlich, dass Russland seine frühere wirtschaftliche Macht auf dem Weltmarkt endgültig eingebüsst hat.» Die beiden Yale-Vordenker liefern dafür auch ziemlich überzeugende Argumente.

Gasspeicher in Europa werden sogar für den Winter 2024 reichen 

Dank eines für diese Jahreszeit ungewöhnlich warmen Winters in Europa ist Putins Zeit der grössten Hebelwirkung ereignislos verstrichen, das grösste Opfer von Putins Gas-Schach war Russland selbst. Putins Druckmittel Erdgas ist weg, da die Welt – und vor allem Europa – russisches Gas nicht mehr benötigt.

Europa war weit davon entfernt, zu erfrieren, und sicherte sich schnell alternative Gaslieferungen, indem es auf globales Flüssigerdgas (LNG) umstieg. Dazu gehörten schätzungsweise 55 Mrd. Kubikmeter aus den Vereinigten Staaten, zweieinhalb Mal mehr als die US-Exporte von LNG nach Europa vor dem Krieg. Zusammen mit dem Anstieg der Lieferungen aus erneuerbaren Quellen, der Kernenergie und zwischenzeitlich auch aus Kohle, haben diese alternativen Lieferungen die Abhängigkeit Europas von russischem Gas auf 9 Prozent seiner gesamten Gasimporte reduziert. Tatsächlich bezieht Europa heute mehr LNG als es jemals russisches Gas gekauft hat.

Darüber hinaus führt der ungewöhnlich warme Winter in Europa dazu, dass nicht nur die schlimmsten Szenarien vermieden werden können, sondern dass Europas volle Speichertanks kaum geleert werden und bis zum nächsten Winter reichen sollten. Diesen Januar sind die deutschen Speichertanks zu 91 Prozent gefüllt, gegenüber 54 Prozent im letzten Jahr. Das bedeutet, dass Europa im Jahr 2023 deutlich weniger Gas kaufen muss als im Jahr 2022.

Die Auswirkungen sind gewaltig. Europa habe nun die Gewissheit, bis mindestens 2024 ausreichend mit Energie versorgt zu sein, so dass genügend Zeit zur Verfügung stehe, um billigere alternative Energiequellen – sowohl erneuerbare Energien als auch Brückenkraftstoffe – in Europa vollständig in Betrieb zu nehmen, schreiben die beiden Yale-Professoren. Dazu gehört auch die Fertigstellung zusätzlicher LNG-Exportkapazitäten in Höhe von 200 Mrd. Kubikmeter pro Jahr bis 2024 – genug, um die russischen Gasexporte von 200 Mrd. Kubikmeter pro Jahr ein für alle Mal vollständig und dauerhaft zu ersetzen.

Für Verbraucher ist es einfacher, Lieferanten zu ersetzen, als für diese neue Märkte zu erschliessen 

Darüber hinaus seien die Tage der weltweit teuren Energie aufgrund «russischer Lieferengpässe» endgültig vorbei, schreiben Sonnenfeld und Tian. Neben der erwarteten geringeren Nachfrage Europas nach LNG wendet sich China vom globalen LNG ab und nutzt stattdessen heimische Quellen. In Verbindung mit dem rasch zunehmenden LNG-Angebot sei es wenig überraschend, wenn man erwarte, dass die Preise für Gas auf dem Gas-Terminmarkt auf Jahre hinaus unter dem Vorkriegsniveau liegen werden.

Putin hingegen habe keinerlei Einfluss mehr und keine Möglichkeit, seinen einstigen Hauptkunden zu ersetzen. Vielmehr müsse er auf die harte Tour lernen, dass es für die Verbrauchenden viel einfacher sei, unzuverlässige Rohstofflieferanten zu ersetzen, als für die Lieferanten, neue Märkte zu finden, meinen die Autoren. Schon jetzt macht Putin praktisch keinen Gewinn mehr aus dem Gasverkauf, da seine früheren 150 Mrd. Kubikmeter Pipeline-Gasverkäufe nach Europa durch mickrige 16 Mrd. Kubikmeter nach China und einen weltweiten LNG-Absatz ersetzt wurden. Dieser reicht aber kaum zur Deckung der Kosten aus.

Putins Einfluss auf das Ölgeschäft nimmt ebenfalls ab. Sonnenfeld und Tian schreiben: «Vorbei sind die Zeiten, in denen die Angst, Putin könnte die russischen Öllieferungen vom Markt nehmen, die Ölpreise innerhalb von zwei Wochen um 40 Prozent in die Höhe schnellen liessen. Als Putin als Reaktion auf die Einführung der von uns mitentwickelten G-7-Ölpreisobergrenze im letzten Monat ein Verbot von Ölexporten in Länder ankündigte, die die Preisobergrenze akzeptierten, fielen die Ölpreise sogar.» Und warum? Weil es nun offensichtlich sei, dass die Welt nicht mehr auf Putins Öl angewiesen sei. Der Erdölmarkt sei auf der Suche nach Käufern, nicht nach Verkäufern, und das Angebot nehme zu – mehr als genug, um einen möglichen Rückgang der russischen Erdölproduktion auszugleichen.
Russisches Powerplay hat Investitionen in Bergbauprojekte in Südamerika und Afrika begünstigt 

Putin hat auch seine anderen Rohstoffkarten bereits ausgespielt. Der Plan, Lebensmittel zu Waffen zu machen, ist gescheitert. Dies, als sich sogar seine nominellen Verbündeten gegen ihn wandten. Und auf bestimmten Metallmärkten, die Russland in der Vergangenheit dominiert hatte, wie Nickel, Palladium und Titan, haben erpresserische Käufer mittels höherer Preise die Verlagerung von Rohstoffen beschleunigt. Das hat schlummernde öffentliche und private Investitionen in wichtige Mineralienlieferketten und Bergbauprojekte wiederbelebt. Diese befinden sich vor allem in Nord- und Südamerika sowie in Afrika, wo es viele ungenutzte Mineralienreserven gibt. Auf mehreren wichtigen Metallmärkten wie Kobalt und Nickel beläuft sich die Gesamtproduktion der neuen Minen, die in den nächsten zwei Jahren eröffnet werden können, auf mehr als genug, um russische Metalle in den globalen Lieferketten dauerhaft zu ersetzen.

Natürlich ist Putins gescheiterter Wirtschafts- und Energiekrieg nicht ohne Folgen geblieben. Die Auswirkungen haben Versorgungsketten und Handelsströme verändert, und die Verbraucherinnen und Verbraucher spüren immer noch den Druck höherer Preise. Bis sich das niedrigere Preiseniveau in der Wirtschaft durchsetzen wird, braucht es noch etwas Zeit

Wichtig ist jedoch, dass ein Ende in Sicht ist: Nie wieder wird Putin in der Lage sein, ein solches Chaos und eine solche Störung in der Weltwirtschaft zu verursachen, denn er hat Russlands mächtigstes Druckmittel – die Energie- und Rohstoffmacht – dauerhaft geschwächt. Diese ist nicht mehr zu retten. Sonnenfeld und Tian sind sich sicher: «Der Krieg auf dem Schlachtfeld dauert an, aber zumindest an der wirtschaftlichen Front ist der Sieg in Sicht.»

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