«Dazu müssen wir Sorge tragen»
Ueli Stückelberger, Direktor des Verbands öffentlicher Verkehr, erklärt, warum gute Verbindungen nicht nur für die Mobilität wichtig sind. Sondern auch für die Demokratie.
Ueli Stückelberger, Direktor des Verbands öffentlicher Verkehr, erklärt, warum gute Verbindungen nicht nur für die Mobilität wichtig sind. Sondern auch für die Demokratie.
Ueli Stückelberger, was heisst für Sie Macht?
Ueli Stückelberger: Den Begriff «Macht» mag ich in einer direkten Demokratie, wie wir sie in der Schweiz zum Glück haben, nicht besonders. Ich ziehe es vor, von Einfluss zu sprechen. Das Schöne an der Schweiz ist ja: Man kann auf verschiedenen Ebenen Einfluss nehmen, aber am Ende braucht es immer eine Kette unterschiedlicher Personen und Instanzen, die entscheiden, dass etwas zustande kommt. Einfluss zu haben, ist mir aber schon wichtig: Ich möchte, dass der Verband öffentlicher Verkehr VöV die Verkehrspolitik mitgestalten kann, damit die Entscheide so ausfallen, dass die nachhaltige Mobilität und damit auch der öV gestärkt werden.
Gelingt das? Ist der VöV ein einflussreicher Verband?
Stückelberger: Sogar ein sehr einflussreicher. Wir sind der einzige Verband, der zu allen öV-Themen umfassend Stellung nimmt. Oft sind zu den Hearings des Parlaments nur die Kantone und wir eingeladen. Wobei es zu beachten gilt: Es steht nicht überall und bei allem, was wir tun, VöV drauf. Zum Beispiel verbreitet die LITRA faktisch die Positionen des VöV in den parlamentarischen Anlässen.
Wie genau übt der VöV Einfluss aus?
Stückelberger: Im Vordergrund stehen viele Gespräche. Um unsere Position frühzeitig einzubringen, führen wir enge Gespräche mit dem Bundesamt für Verkehr BAV und dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation UVEK. Ich sage nicht, das BAV und das UVEK würden stets das tun, was der VöV wolle. Aber unsere Überlegungen fliessen jeweils mit ein. Es gibt viele Arbeitsgruppen; auch mit den kantonalen Behörden und anderen Verbänden tauschen wir uns rege aus.
Weil der nächste Eisenbahn-Ausbauschritt fast doppelt so viel kostet wie geplant, stehen Projekte wie der Tiefbahnhof Luzern oder der Vollausbau des Lötschbergtunnels auf der Kippe: Verliert der VöV gerade an Einfluss?
Stückelberger: Gar nicht. Eine Überprüfung der Projekte macht Sinn. Deshalb sehe ich die laufenden Diskussionen nicht so dramatisch. Es ist immer so, dass von Regionen und Kantonen viel mehr Bauwerke gewünscht werden, als realisierbar sind. Wichtig ist, dass die richtigen Entscheide getroffen werden, um das Richtige zu realisieren.
Welches sind die richtigen Entscheide?
Stückelberger: Solche, bei denen der Nutzen für den Personen- und für den Güterverkehr im Vordergrund steht. Das künftige Angebot muss also klar sein – und eben einen Nutzen bringen. Ganz wichtig ist auch: Zuerst braucht es die Mittel für Unterhalt und Betrieb, sonst haben wir Zustände wie ein Deutschland. Die Schweiz ist da sehr gut unterwegs. Wir haben das Konstrukt des Bahninfrastrukturfonds, der sich extrem bewährt. Vielleicht braucht es gewisse Justierungen, aber alles in allem sind wir sehr erfolgreich.
Beim Sparprogramm aber hat der VöV nicht verhindern können, dass die Mittel für den Regionalverkehr gekürzt werden und die Förderung der Nachtzüge wegfallen soll.
Stückelberger: Dies sind ja erst Vorschläge des Bundesrates. Zum Lobbyieren gehört auch zu schauen, wo man Einfluss ausüben kann und wo nicht. Der Gesamtbundesrat mag in der Finanzpolitik nur auf den Spareffekt schielen. Im Parlament aber, das am Ende entscheidet, ist es dann wohl anders.
Die Sparvorschläge im öffentlichen Verkehr werden spätestens dort scheitern?
Stückelberger: Man muss nicht bei jedem Vorschlag glauben, er werde eins zu eins so umgesetzt. Manchmal braucht es Gelassenheit. Im Budget für das laufende Jahr haben wir zum Beispiel die Mittel für die Förderung der Elektromobilität von Bussen zugesprochen bekommen, obwohl die eingespart werden sollten.
Wie ist das zustande gekommen?
Stückelberger: Es ist eine Stärke des VöV, dass wir versuchen, äusserst glaubwürdig zu argumentieren. Wenn uns etwas wichtig ist, zeigen wir mit erhärteten Zahlen auf, warum die Kürzung keinen Sinn macht. So versuchen wir, Mehrheiten zu finden, was uns in der Regel auch gelingt. Schliesslich hat ein gutes öV-System für viele Mitglieder unseres Parlaments einen hohen Stellenwert.
Gemäss den Bilateralen III sollen ausländische Bahnunternehmen neu selbstständig Angebote in die Schweiz fahren können. Macht Ihnen das keine Sorgen
Stückelberger: Nein, gar nicht. Das Verhandlungsergebnis ist eben ein Beispiel guter Zusammenarbeit. Bevor der Bund verhandelt hat, haben wir im Gespräch mit Bundesrat Rösti die Eckwerte formuliert, die uns für die Verhandlungen wichtig waren: dass unser Taktfahrplan Vorrang hat, dass wir in der Schweiz entscheiden können, wie die Trassen vergeben werden, dass ausländische Unternehmen in unser Tarifsystem integriert sein müssen und dass die SBB weiterhin ein Kooperationsmodell mit den umliegenden Bahnunternehmungen machen kann. Diese Punkte waren dann Teil des Verhandlungsmandates der Schweiz und führten dazu, dass die teilweise Öffnung, wie sie jetzt die Verträge mit der EU vorsehen, die schweizerischen Errungenschaften nicht gefährdet. Dahinter stehen wir.
Das Fahren mit Zug, Bus und Tram wird immer teurer, das GA kostet rund 4000 Franken. Gleichzeitig sind die Züge auf gewissen Strecken randvoll – und die Gefahr droht, dass die Leute wieder das Auto nehmen. Ist das etwas, was Ihnen Sorgen macht?
Stückelberger: Ehrlich gesagt auch nicht. Entscheidend ist ein gutes Angebot, und das wird weiterhin ausgebaut. Die Preise sind in den letzten zehn Jahren nicht stärker gestiegen als die Teuerung, der Gegenwert jedoch ist enorm gewachsen.
Wo denn?
Stückelberger: Der GA-Bereich zum Beispiel wächst ständig, und auf der Strecke Genf – Bern – Zürich – St.Gallen gibt es mit dem neuen Doppelstockzug wesentlich mehr Sitzplätze als zuvor, weshalb man fast nie mehr stehen muss. Weil die Flexibilität im öV-Bereich unendlich gross ist, kommt man überall hin. Deshalb haben wir so viele Leute wie noch nie – wegen des guten Angebots.
Kommen Sie damit Ihrem Ziel näher, dass der öV-Anteil am Gesamtverkehr trotz steigender Preise wächst?
Stückelberger: Die öV-Preise steigen nicht ständig! Und ja, das ist in der Tat unser übergeordnetes Ziel. 2023 war diesbezüglich ein Rekordjahr. Wir erhöhen die Preise nicht einfach so und wir wollen auch die Teuerung nicht anheizen. Wenn es aber grosse Teuerungssprünge gibt, müssen wir dies schrittweise ausgleichen.
Das UVEK war lange in SP-Hand, jetzt ist ein SVP-Bundesrat am Ruder. Mag Albert Rösti den öV auch so wie Simonetta Sommaruga und Moritz Leuenberger?
Stückelberger: In der Schweiz ist sich jeder Bundesrat der grossen Bedeutung des öffentlichen Verkehrs bewusst. Das ist ganz sicher auch bei Albert Rösti so, das weiss ich. Er setzt sich dafür ein. Ich habe im UVEK schon viele Bundesräte erlebt und muss sagen: In der Verkehrspolitik ist die persönliche Mentalität wichtiger als das Parteibuch. Bei manchen Themen wie dem Wolf mag das anders sein. In unserem Bereich aber sind sich alle bewusst: Die Bevölkerung erwartet einen guten öV, also will kein Bundesrat und keine Bundesrätin dem öV schaden.
Bevor Sie zum VöV gingen, haben Sie die Abteilung Politik des BAV geleitet, sie kennen die Bundesverwaltung von innen. Hat sich da etwas geändert?
Stückelberger: Ich war gerade in Deutschland und muss sagen: Wir haben eine gute Verwaltung, die pragmatische Lösungen zustande bringt. Kein Vergleich mit Deutschland, wo die Bewilligung für eine Perronverlängerung elf Jahre braucht. Dennoch gibt es Optimierungsbedarf in der Zusammenarbeit zwischen der Branche und dem BAV. Das gehen wir, typisch Schweiz, gemeinsam mit dem BAV in einer Arbeitsgruppe an.
Was beschäftigt Sie als VöV-Direktor am meisten?
Stückelberger: Was mir Sorgen bereitet, sind die Schwierigkeiten, die unsere Nachbarländer haben, namentlich Deutschland. Dies gefährdet unsere Verlagerungspolitik, weil die Infrastruktur dort in einem schlechten Zustand ist. Wir können diesen Zustand kaum beeinflussen, haben jedoch dazu in der Schweiz alle die gleiche Haltung. Auch in Deutschland ist man sich zumindest des Problems bewusst. Ich habe bei meinem Besuch gesehen, dass die Problematik weit über den öV hinausgeht.
Inwiefern?
Stückelberger: In Deutschland stellen sie einen direkten Zusammenhang fest zwischen dem Abbau und der Unzuverlässigkeit des öffentlichen Verkehrs im Land und dem Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Demokratie. Deshalb sollte man in der Schweiz ebenfalls nicht einfach beim Regionalverkehr sparen, denn das hat auch eine staatspolitische Komponente. Man hat dann nicht nur eine Postautoverbindung weniger. Sondern die Leute bekommen das Gefühl, die Demokratie, «der Staat», bringe ihnen nichts mehr. Das Vertrauen der Bevölkerungen in die Institutionen wieder herzustellen, ist in Deutschland das Ziel.
Anders als in der Schweiz?
Stückelberger: Bei uns haben wir zum Glück keine vergleichbare Situation. Das Parlament ist sich der grossen Bedeutung des öffentlichen Verkehrs bewusst und auch der Tatsache, dass das etwas kostet. Dazu müssen wir Sorge tragen. Bei den Urhebern des Sparpaketes des Bundesrates bin ich mir nicht so sicher. Eine «schwarze Null» ist nicht das wichtigste Ziel der Schweiz.
Könnten autoritäre Kräfte an Einfluss gewinnen, wenn es keine öV-Verbindungen auf dem Land mehr gibt?
Stückelberger: Ja, in Deutschland ist dies klar so. Auch wenn wir von solchen Verhältnissen weit entfernt sind, gilt auch bei uns: Was bringt der Staat den Randregionen Positives? Der öffentliche Verkehr ist da sichtbar präsent. In vielen anderen Bereichen baut man ab und zentralisiert, im öV baut man im Gegenteil auch im ländlichen Raum aus. Deshalb finde ich es wichtig, dass man das macht. Der Kostendeckungsgrad des Postautos ins Safiental ist immer tiefer als jener der S-Bahn in Zürich. Für das Gesamtsystem aber haben diese Verbindungen einen enorm hohen Wert. Nicht nur, damit man überall hinkommt, sondern auch für den Zusammenhalt zwischen Stadt und Land.
Wie sieht es in den anderen Nachbarländern aus?
Stückelberger: Frankreich und Italien haben extrem leistungsfähige Hochgeschwindigkeitsnetze. Von Mailand ist man ohne Halt in drei Stunden in Rom. Aber mit dem Regionalverkehr hat das nichts zu tun. Wir in der Schweiz haben eine durchgängige öV-Kette, wir haben attraktive, fahrplanmässig aufeinander abgestimmte Umsteigemöglichkeiten, wir haben Verbindungen bis in die hintersten Dörfer und Täler. In der Schweiz hat man nicht das Gefühl, es profitierten nur die Städte, sondern das ganze Land, wenn man Geld in den öV gibt. Land. Zu diesem Grundgedanken müssen wir Sorge tragen, das halte ich für demokratie- und staatspolitisch sehr wichtig. In Italien profitiert, wer in Rom oder in Mailand lebt. Alle anderen sehen nur, wie die Frecciarossa durchfährt.
Wie sieht Ihr typischer Arbeitstag aus?
Stückelberger: Den gibt es nicht, meine Arbeitstage sind sehr unterschiedlich. Sie bestehen aus vielen Gesprächen, Teilnahmen an Sitzungen, aber auch Referaten vor allen möglichen Gruppierungen oder Besuchen bei Transportunternehmungen. Man muss ja hören, was die Branche will. Was sind die Probleme, die an der Basis drücken? Das können auch Bildungsthemen sein – das Spektrum ist sehr breit.
Ihr Arbeitstag ist eher lang?
Stückelberger: Ja, aber meistens auch sehr schön. Wenn es zum Beispiel darum geht, etwas einzuweihen oder «150 Jahre Appenzeller Bahn» zu feiern: Da frage ich nicht, ob das jetzt Job oder Freizeit sei. Man muss intrinsisch motiviert sein für die Branche, die man vertritt. Dann wirkt man auch glaubwürdig.
Das sind Sie?
Stückelberger: Ja, sehr. Es liegt in meinen Genen, sich für eine nachhaltige Mobilität einzusetzen.
Wer darf Ihnen privat widersprechen?
Stückelberger: Das ehrlichste Echo bekomme ich sicher von den eigenen Kindern – und das ist auch gut so.
Und das führt dann zu Diskussionen?
Stückelberger: Ja, und manchmal auch zu Anregungen, was man im öV besser machen könnte. Und auch zu Hinweisen, was beim Nutzer ankommt, etwa wenn ich frage: Kennt man in eurem Kollegenkreis das GA Night? Oder was die Probleme der Velomitnahme in den Zügen betrifft: Da bekomme ich von meinen beiden Söhnen eine Eins-zu-eins-Kundenrückmeldung.
Was machen Sie in Ihrer Freizeit: Fahren Sie mit Zug, Schiff und Postauto durchs Land?
Stückelberger: Ich mache extrem gerne Ausflüge mit dem öV, um zu wandern oder um Pilze zu suchen. Und ich versuche bewusst, auch in Gegenden der Schweiz zu fahren, in denen ich noch nie gewesen bin.
Ueli Stückelberger (56) ist in Bern aufgewachsen, hat Rechtswissenschaften studiert und mit dem Fürsprecherexamen abgeschlossen. Ins Berufsleben eingestiegen ist er in der Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion des Kantons Bern. Von da wechselte er ins Bundesamt für Verkehr, wo er den Rechtsdienst und die Abteilung Politik leitete. Von 1996 bis 2008 sass er für die Grüne Freie Liste im Stadtrat von Bern, wo er unter anderem eine PUK präsidierte. Seit 2011 ist Stückelberger Direktor des VöV. Der Vater von drei Kindern im Alter von 18 bis 23 Jahren lebt in Bern.
*In der Schaltzentrale der Macht
Sie sitzen auf entscheidenden Positionen, aber selten im Rampenlicht: Generalsekretäre von Parteien oder eidgenössischen Departementen, Geschäftsführerinnen von Verbänden oder Direktoren von Nichtregierungsorganisationen. Braucht die Schweiz politische Lösungen, helfen sie diese zu entwickeln. In regelmässigen Abständen wollen wir im Gespräch die Schaltzentralen der Macht ausleuchten.