Wie irreführend die Medien über Schwedens Lockdown berichteten
Sechs falsche Behauptungen – und vier Lehren.
«Das erste Opfer eines jeden Krieges ist die Wahrheit.» Was verschiedene Politiker und Intellektuelle im Laufe des 20. Jahrhunderts wiederholt festgestellt haben, wurde in zahlreichen wissenschaftlichen Studien erhärtet. Die Medien unterstützen und stützen in einer Krisen- oder Kriegssituation die eigene Regierung und nehmen es mit dem Nachprüfen der Fakten und Quellen sowie der nüchternen, unvoreingenommenen Analyse nicht immer ganz genau. Gilt das auch für die Covid-19-Pandemie?
Zu wenig kritische Distanz zu Behörden und Regierung
Das Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich hat die Berichterstattung der Medien während der Coronavirus-Pandemie untersucht. Während die Studie der Medienberichterstattung in Bezug auf Vielfalt und Relevanz insgesamt eine hohe Qualität zuschreibt, hätten die Medien in der sensiblen Phase vor dem Lockdown zu wenig kritische Distanz zu Regierung und Behörden gehabt. Auch für den Umgang mit Zahlen und Statistiken gibt es Kritik: Beiträge dazu blieben «häufig ohne Einordnung».
Fake News über den schwedischen Lockdown
Diese Einschätzung deckt sich mit einer Untersuchung der Zeitschrift «Globalization and Health». Die schwedische Forscherin Rachel Irwin wollte wissen, wie die nationalen und internationalen Medien – The Guardian, BBC, CNN, AFP, Reuters, Bloomberg, Al-Jazeera, Euronews, New York Times, Politico, Deutsche Welle, Reuters, Irish Times, Sky News, Vox und Twitter – über den schwedischen Lockdown-Ansatz berichteten.
Zur Erinnerung: Die schwedischen Behörden verfolgten während der Pandemie einen freiwilligen, auf Selbstverantwortung beruhenden Ansatz. Dieser stand im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern, die primär auf rechtliche Zwänge und Durchsetzung setzten. Die Beschreibung des schwedischen Wegs habe in den Medien oft einer ideologischen Darstellung geglichen, hält Irwin fest und schreibt von einer irreführenden Berichterstattung. Die analysierten Medien suggerierten, dass Stockholm als Reaktion auf Covid-19 auf die Karte Untätigkeit setze, was unter anderem den Aussenminister gezwungen habe, diese These auf CNN zu kontern.
Die Untersuchung analysiert die sechs grössten Missverständnisse und falschen Annahmen, die von den Medien übernommen wurden:
1. Falschbehauptung: Das Alltagsleben ist normal
Die internationale Presse beschränkte ihren Blick meist auf die Einkaufsstrassen der Stockholmer Innenstadt und nicht auf das Land als Ganzes. Als von der Fortsetzung der Inlandflüge die Rede war, blendeten die Medien aus, dass diese Flüge nicht für den Tourismus, sondern primär für den Warentransport zu verschiedenen Inseln und abgelegenen Polarregionen bestimmt waren. Das Leben in Schweden war nicht normal. Die wichtigste Kinokette schloss am 17. März mangels Publikum. Ski Star, Schwedens führendes Wintersportunternehmen, schloss am 6. April.
2. Falschbehauptung: Schweden wählt die Strategie der kollektiven Immunität
Die Regierung und die Gesundheitsbehörde haben wiederholt erklärt, dass sie über keine Strategie zur Herdenimmunität verfügten. Der Epidemiologe der Regierung, Anders Tegnell, sagte, er hoffe, die Infektionskurve ohne drastische Massnahmen glätten zu können. Denn es sei unrealistisch und ungesund, Menschen vier bis fünf Monate lang zu Hause zu behalten. Die Schulen blieben offen, um die negativen Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit zu verringern und wegen der Kinderbetreuungsprobleme für die Beschäftigten.
3. Falschbehauptung: Schweden folgt den Empfehlungen der Experten nicht
Eine Petition mit 2000 Unterschriften forderte härtere Massnahmen von den Behörden. Der «Guardian» sprach von «Ärzten, Wissenschaftlern und Professoren» als Absender. Die sechs Hauptautoren sind jedoch nicht im Bereich der öffentlichen Gesundheit tätig, und viele der Unterzeichner sind Studierende. Die einzige Medienstelle, die den gesamten Brief veröffentlichte, war die kanadische Website «Vice». Ein zweiter interessanter Fall ist ein Artikel, der als Studie betrachtet wurde, obwohl es sich um die Meinung des Herausgebers der Zeitschrift «The Lancet» handelte.
4. Falschbehauptung Schweden folgt den WHO-Empfehlungen nicht
Diese Behauptung wurde häufig wiederholt. Doch sie drückt ein Missverständnis bezüglich der Bedeutung der Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation aus. Ratschläge, fachliche Anleitungen und Empfehlungen der WHO sind äusserst wichtig, nicht zuletzt in einer Pandemiesituation. Die Länder sollten die von der WHO herausgegebenen Dokumente ernst nehmen. Es ist wichtig zu verstehen, dass die meisten «Empfehlungen» nicht allgemeingültig, sondern so verfasst sind, dass die Länder sie an ihren eigenen Kontext anpassen können. Ob Schwedens Interpretation der WHO-Empfehlungen in diesem Fall wirksam oder angemessen war, ist eine andere Frage. Aber Schweden folgte den WHO-Empfehlungen in Bezug auf Massnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit.
5. Falschbehauptung: Der schwedische Ansatz ist gescheitert, deshalb muss die Regierung ihre Strategie ändern
Im Verlauf der Pandemie wurde klar, dass die bestehende Gesetzgebung der Regierung nicht erlaubte, schnell zu handeln und zusätzliche Lockdown-Massnahmen zu ergreifen. Aber es gab auch keine unmittelbaren Pläne, die bestehenden Massnahmen durch neue zu ersetzen. In einer Medienkonferenz bezeichnete der Premierminister die neuen Massnahmen lediglich als «Werkzeuge in einem Werkzeugkasten». Der Gedanke war nicht, dass Schweden seinen Kurs ändern würde, sondern dass es auf künftige Unsicherheiten, die durch COVID-19 verursacht werden, vorbereitet sein wollte.
6. Falschbehauptung: Die Schweden vertrauen der Regierung
Ein Grossteil der frühen internationalen, das heisst Vor-Corona-Berichterstattung konzentrierte sich auf das hohe Mass an Vertrauen der Schweden in ihre öffentlichen Institutionen und in die Regierung. Die Regierung vertraue darauf, dass die Menschen das Richtige täten. Allerdings lässt sich ein Land nicht auf einige kulturelle Stereotype, Merkmale und Werte reduzieren. Die Fokussierung auf die «Kultur» eines Landes lässt die Komplexität ausser Acht.
Fazit und vier Lehren für die Medien
Für die Forscherin Rachel Irwin steht fest: «Wenn es um Informationen geht, muss man diese in einen Kontext stellen, um sich der Wahrheit anzunähern.» Die Wahrheit über den schwedischen Weg sei noch nicht geschrieben; dies dürfte erst der Fall sein, wenn ein Impfstoff vorhanden sei und ein Fazit über die Covid-19-Massnahmen gezogen werden könne. Ein Schluss folgt indes schon jetzt: In der Berichterstattung über Schweden haben sich die untersuchten internationalen Qualitätsmedien punkto Wahrheit und Sorgfaltspflicht nicht mit Ruhm bekleckert.
Welche Folgen dies für die Medien und ihre Berichterstattung über Krisensituationen haben sollte: