Stadtzürcherin, die nun im Kanton Uri heimisch ist: Die Historikerin Rebekka Wyler leitet seit 2018 als Co-Generalsekretärin die Geschicke der Schweizerischen Sozialdemokratischen Partei in Bern. (Foto: zvg.)
Rebekka Wyler, was heisst für Sie Macht*?
Rebekka Wyler: Es gibt verschiedene Arten von Macht. Menschen, die kraft ihrer Position von oben nach unten entscheiden, haben formale Macht. Wie im Militär, wo einem gehorcht wird, weil man Oberstleutnant ist. Und es gibt die Macht beziehungsweise Autorität, die auf langjähriger Erfahrung beruht. Über formale Macht verfüge ich kaum. Wir haben kürzlich das Sekretariat umorganisiert und arbeiten mit selbstverwalteten Strukturen. Die Entscheide fallen dort, wo die Arbeit geleistet wird.
Sie setzen auf Basisdemokratie, nachdem der allmächtige SP-Präsident Christian Levrat das Zepter dem Duo Mattea Meyer und Cédric Wermuth übergeben hat?
Wyler: Damit hatte das nichts zu tun. Wir beschlossen Anfang Jahr, die Hierarchien abzuschaffen, weil zahlreiche Angestellte im Generalsekretariat nicht zufrieden waren mit den Umständen ihrer Arbeit. Es sind 45 Personen, von denen die meisten selber auch politisch tätig sind, sei es in einem Amt oder in einem Sektionsvorstand, und selber ebenfalls den Anspruch erheben, zu gestalten. Sie arbeiten ja bei uns, weil sie etwas bewirken möchten. Weil sie, etwas pathetisch ausgedrückt, einen Beitrag leisten wollen zu einer besseren Welt. Das führte zu Friktionen.
Levrat galt während seiner zwölfjährigen Präsidentschaft als Alleinherrscher. Was ändert jetzt mit dem Duo?
Wyler: Ich habe nur die späte Phase seines Präsidiums erlebt, da ich erst 2018 dazugestossen bin. Christian Levrat machte sein Ding, wir machten unseres. Das hatte seine Vor- und Nachteile. Er mischte sich nicht in die Organisation des Sekretariats ein. Umgekehrt war er dadurch aber auch relativ weit weg.
Mit dem neuen Co-Präsidium ist das anders?
Wyler: Mir ist einfach aufgefallen, dass Cédric und Mattea gleich am Anfang gesagt haben, sie möchten alle Leute im Sekretariat kennenlernen. Es gab dann Treffen in den Teams, bei denen sie klar gesagt haben, es gehe überhaupt nicht darum, dass sie irgendwelche Anweisungen erteilen möchten, sondern wissen möchten, was das für Leute sind, die da arbeiten. Wobei ich nicht weiss, ob das Christan bei seinem Start als SP-Präsident ebenfalls getan hatte.
Weil Sie da nicht dabei waren?
Wyler: Ja. Aber es hat wie gesagt zwei Seiten: Uns gab es teilweise mehr Freiräume. Umgekehrt wird die Nähe geschätzt. Auf den Sekretariaten gibt es ja sehr viele Wechsel. Da arbeiten viele junge Leute, die Arbeitslast ist recht hoch, die wenigsten bleiben 10, 15 Jahre lang. Heute sind nur noch wenige dabei, die schon den Antritt von Christian Levrat erlebt haben.
Der Job auf dem Generalsekretariat einer Partei ist streng und nicht besonders gut bezahlt, dafür gilt er als Sprungbrett für höhere Weihen.
Wyler: Die Löhne sind nicht so schlecht und die Karrieremöglichkeiten sind bei uns nicht so ausgeprägt wie bei den bürgerlichen Parteien. Wobei man immer diskutieren kann, was höhere Weihen genau sind.
Das Generalsekretariat wird schon seit Jahren im Doppel geführt. Welche Erfahrungen haben Sie mit der geteilten Macht gemacht?
Wyler: Auch da gibt es Vor- und Nachteile: mehr Man- und Womanpower und gleichzeitig mehr Schnittstellen. Manchmal ist die Frage auch, wie die Arbeit aufgeteilt wird. Bei Cédric und Mattea war das ein grosses Thema, weil es Befürchtungen gab, der Mann dränge sich in den Vordergrund und die Frau gerate dadurch in den Hintergrund. Sie gingen das aber proaktiv an. Man merkt, dass sie gut eingespielt sind. Dass sie füreinander sprechen können, macht die Zusammenarbeit einfach.
Wie ist die Arbeitsteilung im Generalsekretariat – stimmt der Eindruck, dass Michael Sorg eher im Vordergrund steht?
Wyler: Er war vorher Pressesprecher und hatte da schon sehr eng mit dem Präsidenten zusammengearbeitet. Mit mir hat das nichts zu tun.
Kann eine Frau im Jobsharing überhaupt Macht ausüben, oder ist sie einfach eine bessere Sekretärin im Hintergrund?
Wyler: Wie gesagt: Unsere formale Macht ist gering. Generalsekretariate sind ausführende Organe. Im Prinzip entscheidet die Parteileitung, was gemacht wird, und das Generalsekretariat ist im Sandwich zwischen der Belegschaft und dem Präsidium. Das gilt allgemein, zumindest für die grösseren Parteien. Was auch nicht einfach ist, da das gesamte Präsidium dauernd drückt und voller Ideen ist, was man noch alles machen könnte. Michael und ich müssen manchmal auch hinstehen und erklären, das gehe nicht, die Leute könnten nicht Tag und Nacht arbeiten.
Sie sind auf den Goodwill des Präsidiums angewiesen?
Wyler: Es ist eine klassische Geschäftsführung, aber an der Schnittstelle zwischen Angestellten und Ehrenamtlichen, was die Arbeit nicht einfacher macht. Das Präsidium ist ja nicht angestellt und hat dadurch eine völlig andere Arbeitsweise. Mit diesem feintarierten Gleichgewicht muss man sich auskennen. Ich weiss es aus eigener Erfahrung, nachdem ich 25 Jahre lang für die Partei nur in der Miliz tätig war. Die Ehrenamtlichen können gewisse Sachen einfach nicht machen, weil sie daneben noch andere Verpflichtungen haben und arbeiten müssen. Umgekehrt arbeiten sie auch viel, was logisch ist, schliesslich haben sie noch einen Job. Ich erledige meine Aufgaben für den Gemeinderat auch erst am Sonntag. Sonst komme ich gar nicht dazu, weil mir die Zeit fehlt.
Hat die geballte Macht von Parteipräsidium und Generalsekretariat als Schnittstelle zwischen Legislative und Exekutive zugenommen?
Wyler: Das stimmt. Aber es ist keine formale Macht im Sinn einer militärischen Hierarchie.
Sie haben aber Einfluss?
Wyler: Ja, den bringt das Amt mit sich. Deshalb halte ich Erfahrung für so wichtig. Denn sie verleiht eine Art Autorität, gerade gegenüber Mitgliedern. Oft müssen wir Konflikte lösen – unter Mitgliedern, in Sektionen, oder Personalprobleme. Die Leute zur Vernunft rufen kann nur, wer selber die Erfahrung mitbringt.
Sind Sie an der Spitze des Generalsekretariats eher Politikerin, oder müssen Sie abstrahieren können und fragen, was für die Partei gut ist?
Wyler: Beides. Die grossen Dossiers wie das Rahmenabkommen mit der EU werden nicht vom Generalsekretariat entschieden. Selbstverständlich können wir mitreden und werden angehört. Es sind aber klassische politische Entscheide, bei denen vor allem die Bundeshausfraktion stark mitredet. Wir haben aber die Möglichkeit, zusätzliche Themen einzubringen. Oder wir können Signale aussenden, welche Themen politisch wichtig sind. Es ist immer auch eine Imagefrage: Wie nehmen die Leute die Partei wahr, wie breit ist sie abgestützt? In diesen Bereichen kann das Sekretariat sehr viel machen.
Die SP ist seit Jahren auf Sinkflug. Können Sie Rezepte gegen den zunehmenden Bedeutungsverlust entwickeln?
Wyler: Schon, aber nicht allein. In dieser Frage bilden das Präsidium und das Generalsekretariat eine Einheit. Das erklärte Ziel des neuen Co-Präsidiums ist es, einen Prozess anzustossen, um darüber zu sprechen, auch mit Fachleuten. Wir sind dabei genauso involviert wie die Mitglieder des Präsidiums.
Was ist für die Zukunft der SP wichtig?
Wyler: Unsere Situation ist am ehesten vergleichbar mit derjenigen der CVP, der Volkspartei, die fast alle ansprechen möchte. Der Freisinn hat es etwas einfacher, denn er spricht die wirtschaftsliberale Elite an. Bei uns ist das Publikum sehr breit. Das macht es umso schwieriger zu sagen, welche Themen alle ansprechen. Sicher gilt das für die Krankenkassenprämien, die breite Schichten der Bevölkerung wirklich belasten. Teilweise auch für das Wohnen, aber das ist mehr ein städtisches Thema, das auf dem Land weniger interessiert. Es ist wirklich schwierig. Deshalb sind für uns Wortmeldungen von Externen so wichtig. Wenn man selber immer im eigenen Saft schmort, sieht man nicht, wie andere einen wahrnehmen.
Können Sie sich vorstellen, zu den Grünliberalen zu wechseln wie Ihre ehemalige Zürcher Genossin Chantal Galladé, oder zu den Grünen?
Wyler: Nein, das kann ich nicht. Die SP hat eine lange Geschichte der gleichen Rechte und gleichen Chancen, und ich finde die soziale Frage neben dem Klima weltweit zentral. Die Grünliberalen sind marktgläubiger und finden, der Preis werde es dann schon regeln. Und die Grünen sind stark städtisch geprägt, thematisch eingeschränkter als wir und vertreten eher besser gebildete Leute. Ich sehe es in meiner Sektion in Erstfeld: Es sind keine Akademiker, die in der SP sind, sondern Lokführer, Krankenschwestern und Hausfrauen. Wir sind breiter abgestützt als die Grünen.
Was es für die SP umso schwieriger macht…
Wyler: Ja, weil eben nicht alle Schichten die gleichen Interessen und Einstellungen haben. Das ist unser Problem. Die Grünen können recht einfach sagen: Wir essen alle vegetarisch. Wir können das nicht. Es wäre unmöglich, dass die SP zum Vegetarismus aufriefe. Da würde die Hälfte der Mitglieder davonlaufen.
Ihre Vorgänger André Daguet und Flavia Wasserfallen wurden aus dem SP-Generalsekretariat in den Nationalrat gewählt. Wann kandidieren Sie für den einzigen Urner Sitz?
Wyler: (lacht) Nie! Das wäre völlig hoffnungslos. Es ist auch nicht mein Ziel. Die Gemeindeexekutive ist wirklich das Ende der Fahnenstange.
Was möchten Sie an Ihrem Job nicht missen?
Wyler: Den Kontakt mit den vielen Menschen. Wenn man will, hat man sehr oft mit Mitgliedern zu tun, die einem zum Teil völlig unverblümt Feedback geben, wie sie die Partei wahrnehmen. Das finde ich interessant. Was ich auch schätze, ist die Geschäftsführung – das Personal, die Finanzen. Letztlich ist es de facto ein KMU mit gegen 50 Mitarbeitenden.
Jedes zweite Generalsekretariat einer Schweizer Partei wird aktuell von einer Frau geführt. Pflegen Sie gesellige Runden, auch über politische Gräben hinweg?
Wyler: Ja, vor Corona hatten wir Apéros, an denen sich die Generalsekretärinnen und Pressesprecher beiderlei Geschlechts trafen. Im Moment ist das nicht möglich. Mir bleibt aber der Austausch, nicht nur mit den Grünen, die uns politisch nahe stehen, sondern auch mit FDP und CVP, und manchmal auch der SVP. Und ich muss sagen: Es sind alle sehr hilfsbereit, etwa wenn es darum geht, untereinander Informationen oder Unterlagen auszutauschen. Die Umstände sind halt für alle nicht ganz einfach. Wir leiden unter dem Gleichen: knappe Ressourcen, unendliche Aufgaben, Druck von oben.
Wer darf Ihnen privat widersprechen?
Wyler: Alle. Es wird mir auch viel widersprochen.
Wo suchen Sie den Ausgleich zur tagespolitischen Hektik – als ehemalige Archivarin im Archiv?
Wyler: In einem Archiv war ich schon lange nicht mehr. Wenn man noch ein öffentliches Amt ausübt, ist die Freizeit knapp.