«Wer weiss, woher er kommt, kann mit Erfolg umgehen»

Der zweimalige Ski-Weltmeister Michael von Grünigen spricht über Corinne Suters Sternstunde an der WM in Are (Sd), die Probleme in der Schweizer Nachwuchsförderung und die Folgen des Klimawandels.

Der Glarner Landrat bei einer seiner Sitzungen. (Bild: Kanton Glarus)

Corinne Suter gehört zu den Lichtblicken der alpinen Ski-WM in Are. Obwohl die Schwyzerin noch nie auf einem Weltcup-Podest gestanden hatte, hat sie nun Silber in der Abfahrt und Bronze im Super-G gewonnen. Hebt sie nun ab oder stürzt sie ab?
Michael von Grünigen: Weder noch. Corinne Suter wird ihre Bodenhaftung behalten. Ihre Medaillen kamen ja nicht aus dem Nichts. Sie hat ihr grosses Potenzial im Weltcup mit zahlreichen Top-10-Klassierungen angedeutet und ist es von kompetitiven Trainingseinheiten her gewohnt, um Podestplätze zu kämpfen. An der Ski-WM in Are hatte sie das Hundertstel-Glück auf ihrer Seite. Die beiden Medaillen sind Corinne Suters Lohn für ihre harte Arbeit.

Erfolg ist also nicht gefährlich?
Skifahren ist ein Einzelsport. In die Rolle eines Skirennfahrers wächst man hinein. Die Gefahr des Abhebens im Erfolgsfall ist daher weniger gross als beispielsweise in Mannschaftssportarten, wo ein Spieler auch mit einer 70-Prozent-Leistung gewinnen kann. Im Skirennsport ist der Zimmerkollege der erste Gegner – da gibt es im Wettkampf kein Teamwork wie zum Beispiel im Fussball oder Eishockey.

Worauf müssen Newcomer achten, wenn sie plötzlich im Rampenlicht stehen?
Wer plötzlich im Rampenlicht steht, muss nicht gleich alles auf den Kopf stellen, sondern kontinuierlich an der Seite eines eingespielten Betreuerteams weiterarbeiten. Das wird sich auszahlen. Wer weiss, woher er kommt, kann mit Erfolg umgehen.

Im Rampenlicht stand heuer auch die Lauberhorn-Abfahrt. 37’000 Zuschauer besuchten den Klassiker. Das Publikumsinteresse an der Ski-WM in Are hat sich in Grenzen gehalten – nur 13’000 Fans haben zum Beispiel bei der Männer-Abfahrt vor Ort zugeschaut. Hat der Skisport an Popularität eingebüsst?
Das würde ich nicht sagen. In Skandinavien steht der alpine Skirennsport im Schatten des Langlaufs und Skispringens. In der Schweiz und in Österreich dagegen ist der Skirennsport weitaus beliebter. Die Abfahrtsklassiker in Wengen und Kitzbühel ziehen das Publikum nach wie vor in Scharen an – sowohl vor Ort als auch am Fernsehen, wo jeweils über eine Million Menschen die Lauberhorn-Abfahrt mitverfolgen. Aber klar: Mit den heutigen technischen Möglichkeiten, wie zum Beispiel einer Replay-Funktion am Fernseher, müssen die Skirennen nicht mehr unbedingt live geschaut werden. Früher waren die Termine am Samstagmittag, 12.30 Uhr, jeweils fix in der Familienagenda eingetragen. Heute können wir zu jeder Tages- und Nachtzeit Sportsendungen schauen. Das führt zu einer Übersättigung.

Sollte man den alpinen Skirennsport nicht modernisieren und neue Renn-Formate einführen?
Die gibt es in Form der Parallel-Rennen und der City Events in Oslo, Stockholm und weiteren Stationen bereits. Ich finde das Format Mann-gegen-Mann oder Frau-gegen-Frau, das jeweils im Minutentakt unter Flutlicht ausgetragen wird, äusserst attraktiv. Es ist wichtig, mit neuen Renn-Formaten mehr Skisportfans anzulocken. Neu erfinden können wir den Skisport aber nicht.

Der Slogan «Alles fährt Ski» hat längst ausgedient. Immer weniger Kinder fahren Ski. Ist der Skirennsport noch nahe genug beim Breitensportler?
Das Freizeitangebot hat sich in den letzten 30 Jahren komplett verändert. Früher gab es für die Menschen in den Bergregionen im Winter nur den Skisport. Inzwischen können sie aus einem breiten Schneesportangebot auswählen oder Eishockey, Hallenfussball, Tennis und vieles mehr spielen. Ich möchte aber festhalten, dass über 6500 Kinder und Jugendliche im vergangenen Jahr an einem der 13 Ausscheidungsrennen des Grand Prix Migros (grösstes Skirennen für Jugendliche zwischen 8 und 16 Jahren, die Red.) teilgenommen haben. Wir haben im alpinen Breitensport also immer noch grosses Potenzial.

Wie könnte Kindern mit Migrationshintergrund und Kindern aus den Städten der Zugang zum Schneesport erleichtert werden?
Ich wünschte mir, dass mehr Gemeinden und Schulen bereit wären, Skilager zu veranstalten oder wenigstens einen Skitag pro Jahr zu organisieren. Lehrer müssten dahingehend gestärkt werden, dass sie bereit wären, diese Verantwortung auf sich zu nehmen. Als weitere Massnahme könnte man Schulkindern zum Beispiel einen kostenlosen Skipass anbieten. So bestünde die Möglichkeit, dass auch Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus den Städten den Skisport kennenlernen würden. Die Skiklubs und die Politik sollten ebenfalls vermehrt in die Pflicht genommen werden, etwas für den Skisport zu tun.

Wie sieht es mit der Nachwuchsförderung in der Schweiz aus?
Bis und mit Altersstufe U14 machen sehr viele Kinder mit. Im Bereich U16 nimmt die Begeisterung für den Skisport etwas ab, da diese Kinder andere Sachen entdecken. Im Bereich U18 verlieren wir am meisten Jugendliche, weil in der Schweiz die Ausbildung einen höheren Stellenwert geniesst als der Beruf des Skirennfahrers. In anderen Ländern, beispielsweise in Russland oder Slowenien, sehen vielversprechende Talente den Beruf des Skirennfahrers als Chance, ein besseres Leben zu führen. Bereits in unseren Nachbarländern ist die Begeisterung für den Spitzensport grösser und die Bereitschaft, eine solche Karriere einzuschlagen, eher gegeben.

Sie wurden 1997 und 2001 Riesenslalom-Weltmeister. Wie haben sich seither der Skisport und der Rennzirkus verändert? 
Zwischen 1997 und 2001 fand eine Revolution im Materialbereich statt. Ich musste mich an eine neue Taillierung gewöhnen und auf die Carving-Technik umstellen. Im Vergleich zu meinen Aktivzeiten ist der Skirennsport technischer und athletischer geworden, die heutigen Fahrer strotzen vor Kraft.

Ist heute mehr Geld im Spiel (Sponsoren, TV-Rechte)?
Der Skirennsport hat heute einen ganz anderen Stellenwert. Er wird professionell vermarktet. Den Spitzenathleten wird eine Plattform geboten, die es ihnen ermöglicht, richtig gut zu verdienen. Früher gingen viele Skisportfans an ein Weltcuprennen, weil sie den Fahrern einmal live zuschauen wollten. Heute ist das Rahmenprogramm eines Skirennens mindestens ebenso wichtig.

Wie sind Sie persönlich mit dem Rummel um Ihre Person umgegangen? Inwiefern hat er Sie geprägt und verändert?
Der Skizirkus war meine Lebensschule. Ich konnte eine Menge aus dem Spitzensport in meine heutigen Tätigkeiten im Berufsleben mitnehmen. Als scheuer Bauernbub musste ich lernen, mehr aus mir herauszugehen. Heute habe ich sogar Spass daran, vor vielen Leuten aufzutreten (schmunzelt).

Heute stehen Sie bei Ihrem langjährigen Ausrüster Fischer als Rennsportkoordinator und Entwickler unter Vertrag. Welches sind Ihre wichtigsten Aufgaben?
Ich bin Rennsport-Koordinator für Fischer Schweiz. In dieser Funktion kümmere ich mich um die Nachwuchsförderung und rüste junge Athleten mit entsprechendem Material aus. Im Bereich Marketing und Verkaufsförderung kann ich meine grosse Erfahrung ebenfalls weitergeben. Als gelernter Landmaschinenmechaniker kann ich mich wertvoll in die Entwicklung neuer Skimodelle einbringen. Es bereitet mir grosse Freude, Prototypen zu bauen und diese im Schnee zu testen.

Viele Profisportler haben nach ihrem Rücktritt Mühe, wieder ins Berufsleben einzusteigen. Wie haben Sie es geschafft?
Als ich im Jahr 2000 die Skimarke wechselte – von Rossignol zu Fischer – war mir bereits klar, dass ich nach dem Rücktritt bei meinem neuen Ausrüster arbeiten würde. Er eröffnete mir längerfristige Perspektiven. Ich habe meine Fühler also schon während meiner Profikarriere ausgestreckt.

Worauf muss ein Profisportler beim Wiedereinstieg in die Arbeitswelt achten?
Ein Skirennfahrer sollte sich zu Aktivzeiten laufend weiterbilden und ein gutes Netzwerk aufbauen. Ein Sturz oder stagnierende Leistungen können dazu führen, dass die Profikarriere abrupt zu Ende geht.

Kurz vor der Ski-WM hat FIS-Präsident Gian Franco Kasper mit einem Interview für Aufsehen gesorgt. Er stellte den Klimawandel in Frage und meinte, in Diktaturen sei es einfacher, Wettkämpfe zu veranstalten. Was sagen Sie dazu? 
Den Klimawandel gibt es zweifellos, da muss ich Gian Franco Kasper widersprechen. Vor 35 Jahren trainierten wir im Sommer in Saas Fee auf einer Piste, die bis zur Zwischenstation «Maste 4» der Luftseilbahn Felskinn führte. Heute befindet sich dort eine Steinwüste. Bei der anderen Aussage hat Kasper womöglich an die Olympischen Winterspiele 2014 im russischen Sotschi, 2018 im südkoreanischen Pyeongchang und 2022 in Chinas Hauptstadt Peking gedacht. Dort wurde und wird etwas Neues von nur wenigen Personen auf die Beine gestellt. In der Schweiz dagegen scheitern Olympiakandidaturen regelmässig an unterschiedlichen Partikularinteressen. Im Vordergrund der Diskussionen stehen bei uns nur die 14 Tage Sport. Wir denken gar nicht daran, dass der Wintertourismus in der Schweiz 20 bis 30 Jahre nachhaltig von Olympischen Winterspielen profitieren könnte. Lillehammer 1994 ist das beste Beispiel dafür. Die norwegische Skistation geniesst noch heute weltweit einen ausgezeichneten Ruf.

Inwiefern tangiert der Klimawandel den Skisport und die Bergwelt? Und wie gehen Sie mit diesem Thema um?
Im Winter wären die meisten Skigebiete ohne Schneekanonen während der Saison nur noch teilweise befahrbar. Im Sommer ziehen sich die Gletscher immer weiter zurück, wie das Beispiel Saas Fee zeigt. Ich bin mir bewusst, dass ich nicht gerade viel zum Klimaschutz beitrage. Ohne Auto könnte ich meinen zahlreichen beruflichen Verpflichtungen nicht nachkommen.

Der 49 Jahre alte Schönrieder Michael «Mike» von Grünigen, kurz MvG, ist einer der erfolgreichsten Schweizer Skirennfahrer. Der Gewinner von 23 Weltcuprennen wurde 1997 in Sestriere (It) und 2001 in St. Anton (Ö) Weltmeister im Riesenslalom.

Bereits 1996 hatte der filigrane Techniker an der WM in Sierra Nevada (Sp) je eine Bronzemedaille im Riesenslalom und im Slalom gewonnen. An den Olympischen Winterspielen 1998 in Nagano (Japan) schaffte es der Berner Oberländer im Riesenslalom als Dritter ebenfalls aufs Podest.

Herausragende Leistungen während seiner 14-jährigen Profikarriere bescherten dem gelernten Landmaschinenmechaniker 1996, 1997, 1999 und 2003 vier Kristallkugeln für den Gewinn der Riesenslalom-Disziplinenwertung.

Am 16. März 2003 bestritt MvG im norwegischen Hafjell sein 223. und letztes Weltcuprennen: Im Sonntagsanzug seines allzu früh verstorbenen Vaters, auf Holzski und mit Nagelschuhen, Gamaschen und Tornister, kurvte MvG zur Freude der Zuschauer und Konkurrenz durch die Slalomtore. 3:27,28 Minuten dauerte seine Abschiedsfahrt. Einen Tag zuvor hatte von Grünigen als Dritter des Riesenslaloms seinen insgesamt 48. Karriere-Podestplatz im Weltcup herausgefahren. Zweimal stand MvG dabei auch auf einem Slalom-Podest – jeweils in Wengen.

Michael von Grünigen ist seit 1994 mit Anna Wyss verheiratet und Vater dreier Söhne: Noel (Jahrgang 1995), Elio (1998) und Lian (2001). Der älteste Sprössling der bescheiden gebliebenen Skilegende feierte im vergangenen November im Slalom im finnischen Levi sein Weltcup-Debüt.

Von Grünigen ist dem Skisport treu geblieben. Seit seinem Rücktritt arbeitet er für seinen ehemaligen Ausrüster Fischer in verschiedenen Funktionen: So unter anderem als Rennsportkoordinator, Materialtester, Skientwickler und Fachkraft im Marketing und in der Verkaufsförderung sowie bei Kunden-Events. Daneben übt er verschiedene Mandate aus wie beispielsweise als Berater der Trainingsgeräte-Hersteller Eisenhorn und Skier’s Edge Schweiz sowie des Erfrischungsgetränke-Produzenten headstart focus plus Schweiz. MvG ist auch Markenbotschafter von Audi und der beiden Bekleidungsfirmen Löffler und Goldwin. Als Schneesportlehrer gibt er sein immenses Wissen an Skisportbegeisterte weiter.

Mehr zu Michael von Grünigen finden Sie hier.

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