Die Schweiz und die Nato: «Flirten ja, heiraten nein»

Stefan Holenstein, Präsident der Landeskonferenz der militärischen Dachverbände, erklärt, welchen Beitrag unser Land jetzt zur europäischen Sicherheitsarchitektur leisten soll.

Als Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft SOG war Stefan Holenstein eine zentrale Figur in der Schweizer Sicherheitspolitik. Der Oberst im Generalstab und promovierte Jurist hat 2021 turnusgemäss das SOG-Präsidium abgegeben. Nun präsidiert er die Landeskonferenz der militärischen Dachverbände LKMD. (Foto:zvg)

Stefan Holenstein, was war Ihr erster Gedanke, als Sie vom russischen Einmarsch in der Ukraine hörten?

Stefan Holenstein: Ich war geschockt über den menschenverachtenden, skrupellosen Angriffskrieg Wladimir Putins – die Fassungslosigkeit und das Gefühl der Ohnmacht halten bis heute an. Die Schweizerische Offiziersgesellschaft und die Landeskonferenz der militärischen Dachverbände hatten immer von der Machtpolitik als eine der grössten Bedrohungen gewarnt. Dass sie von dieser Seite kam, ist nicht überraschend. Die brutale Art und Weise, wie die russischen Streitkräfte vorgehen, aber schon. Und der Westen einschliesslich der Schweiz scheint dazu verdammt, machtlos zuzuschauen.

Hatten Sie eine derart breite Offensive erwartet?

Holenstein: Nein, ich war von einer etappenweisen Verschärfung des Konflikts ausgegangen. Indem Putin mal mit einem Erstschlag beginnt und diesem dann militärische Operationen im Sinne von gezielten Nadelstichen folgen lässt, während gleichzeitig der diplomatische Weg begangen wird.

Es kam aber anders?

Holenstein: Ja, und wir wissen nicht, wie es weitergeht. Alle Optionen sind offen. Das ist es, was diesen Krieg so brandgefährlich macht. Ein Angriffskrieg in aller Brutalität, mitten in Europa, betrifft uns alle – schonungslos. Auch die Schweiz muss sich für die Zukunft wappnen.

Wie genau?

Holenstein: Es bestätigt sich jetzt der fundamentale Wert der Sicherheit, auch für die Schweiz. Darüber wurde in den letzten Jahren endlos diskutiert, als sei es ein abstrakter Begriff. Nun realisieren wir endlich, dass Sicherheit die staatspolitische Grundlage für alles ist: für Freiheit, Demokratie, unseren föderalen Rechtsstaat, die Demokratie, unsere bewaffnete Neutralität. Bleiben wir besonnen. Es geht nicht um das simple Szenario, dass der Feind morgen vor der Schweizer Grenze steht.

Sondern?

Holenstein: Es geht um einen Gesinnungswandel, darum, dass wir mit unserer Neutralität im Westen und in Europa eingebunden sind. Die Schweiz muss einerseits ihre Militärausgaben erhöhen, damit sie als unabhängiges, neutrales Land besser für den Ernstfall vorbereitet ist. Anderseits zeigt sich: Wir sind im Herzen Europas nicht allein. Die Schweiz muss ihren Beitrag zu einer europäischen Sicherheitsarchitektur leisten. Wenn wir als Land, das der bewaffneten Neutralität verpflichtet ist, ernst genommen werden wollen, müssen wir auch etwas dafür tun. Glaubwürdigkeit und Vertrauen gegenüber unseren Nachbarstaaten erreichen wir nur mit deutlich mehr Ressourcen. Jetzt müssen wir den Tatbeweis erbringen.

Sie fordern schon lange mehr Mittel für die Armee. Nun verlangen Sie eine rasche Erhöhung des Budgets um 2 auf 7 Milliarden Franken und des Bestands von 100’000 auf 120’000 Armeeangehörige. Kommt Ihnen der Krieg letztlich entgegen?

Holenstein: Jahrelang musste ich mich rechtfertigen, wenn es darum ging, wozu wir Investitionen für die Armee brauchen. Kampfjets gegen das Corona-Virus? Das Umdenken in der Bevölkerung und in der Politik setzt ein, der Groschen scheint endlich gefallen. Es geht nicht um Effekthascherei, dazu sind die Umstände zu tragisch, aber es stimmt: Der Ukraine-Krieg trägt dazu bei, den sicherheitspolitischen Dialog neu zu lancieren und in der Schweizer Bevölkerung zu verankern. Es hilft aber auch der Armee.

Inwiefern?

Holenstein: Vor lauter Kampfjet-Debatten seit nunmehr drei Jahren haben wir vergessen, dass die Armee ein komplexes Gesamtsystem ist: Sie braucht robuste Mittel in der Luft und am Boden und Fähigkeiten im virtuellen Raum, gegen die Cyber-Bedrohung. Wir haben uns schon fast nicht mehr getraut, über die Ablösung der zahlreichen schweren Bodensysteme zu sprechen, obwohl diese ab 2025 fast gleichzeitig und zwingend nötig ist. Seit einem Monat spricht man wieder über Artillerie und Panzer, auch in der Schweiz, ohne gleich als «Kriegsgurgel» tituliert zu werden.

In Deutschland wurde eine Zeitenwende eingeläutet, selbst die grüne Aussenministerin setzt Wehrhaftigkeit neuerdings ganz oben auf die politische Agenda. Warum bei uns nicht?

Holenstein: Die Schweiz ist stets gemächlicher unterwegs, auch in Rüstungsfragen. Das kann ein Vorteil sein, im Sinne des Konsenses, oft ist es aber nachteilig. Wir dürfen nicht noch mehr Zeit verlieren. Deshalb forderten wir eine rasche Erhöhung der Militärausgaben von 0,7 auf 1,0 Prozent des BIP – in Deutschland sind es 2 Prozent. Ob tatsächlich eine «Zeitenwende», der Begriff wird mir zu inflationär verwendet, eingeläutet wird, muss sich noch weisen.

Sie würden sich diese aber für die Schweiz wünschen?

Holenstein: Ich wünschte mir vor allem, dass wir angesichts dieses schrecklichen Krieges nur unweit unserer Haustüre rasch handeln und nicht unnötig zuwarten, bis wir die eklatanten Fähigkeitslücken unserer Armee füllen. Und dass er einen ernsthaften sicherheitspolitischen Dialog mit der SP ermöglicht. Die realpolitischen Geister in dieser Partei könnten endlich mithelfen, die aufgrund gekürzter Militärbudgets geschwächte Armee wieder aufzurüsten. Zumindest aber müssen Sie sich schleunigst von der laufenden Unterschriftensammlung gegen die F-35-Kampfjets öffentlich distanzieren.

Sie selber sind schon mal über Ihren Schatten gesprungen und schliessen einen Nato-Beitritt der Schweiz nicht mehr kategorisch aus?

Holenstein: Ich sage nur, dass es unter den aktuellen Umständen keine Denkverbote geben darf. Klar, die bewaffnete Neutralität gehört zur DNA der Schweiz. Wir machen aber schon seit 1996 am Nato-Programm Partnerschaft für den Frieden PfP mit, seit 1999 an der Friedensmission in Kosovo unter Nato-Kommando. Wir sollten unser Sicherheitssystem im grösseren Rahmen sehen.

Wie genau?

Holenstein: Es könnte sich die Frage einer Integration der Schweizer Luftverteidigung in das Luftverteidigungssystem der Nato und deren Befehls- und Kommunikationsstruktur stellen. Das wäre eine Annäherung an die Nato, aber noch kein Beitritt. Etwas salopp gesagt: «Flirten ja, heiraten nein!»

Viele Menschen fürchten, dass die Situation eskaliert und der rote Knopf gedrückt wird. Für wie berechtigt halten Sie die Sorge vor einem Atomkrieg?

Holenstein: Die Drohung, Atomwaffen einzusetzen, hat Putin ausgesprochen. Eine solche löst berechtigterweise Angst aus. Aber: Es ist schwer vorstellbar, dass Putin verrückt genug ist, den roten Knopf zu drücken, wenn er es denn überhaupt allein tun könnte. Nein, die Logik von Atomwaffen besteht genau darin, mit ihrem Einsatz zu drohen. Wer sie benutzt, droht nicht mehr, sondern muss sich auf einen vernichtenden Gegenschlag einstellen. Dieses «Gleichgewicht des Schreckens», Unwort aus dem Kalten Krieg, funktioniert nach wie vor. Realere Sorgen bereitet mir der mögliche Einsatz von chemischen und biologischen Waffen durch Russland. Dann wird und muss der Westen eingreifen.

Zu Ihrer Person: Nach der SOG führen Sie die LKMD, die Landeskonferenz der militärischen Dachverbände. Ist das die kleine Schwester der SOG?

Holenstein: Es ist, ohne überheblich zu sein, die grosse Schwester. In der SOG sind 24 kantonale Offiziersgesellschaften und 15 Fachgesellschaften vertreten, insgesamt rund 22’000 Offiziere. Das ist sozusagen die sicherheitspolitische Elite. Die LKMD dagegen vertritt das breite Fussvolk, im besten Sinne des Wortes. Das sind primär Soldaten, Unteroffiziere und alle Milizfachgesellschaften in der Schweiz. Derzeit gehören insgesamt 30 Verbände aller Schattierungen mit annähernd 100’000 Mitgliedern dazu, etwa der Feldweibelverband, die AVIA Luftwaffe, Pentathlon Suisse oder die Vereinigung Schweizer Armeemuseum.

In den letzten Jahren hörte man nicht viel von dieser Organisation. Das hat sich mit Ihrem Amtsantritt geändert – warum?

Holenstein: Die LKMD ist in den letzten Jahren tatsächlich etwas eingeschlafen, zu Unrecht. Mein Ziel ist, sie sicherheitspolitisch klar zu positionieren und zu einer starken Stimme aller Milizgesellschaften zu formen. Wichtig ist aber auch die Unterstützung der Verbände in ihren ausserdienstlichen Aktivitäten. Als überzeugter Verfechter des Milizprinzips bin ich überzeugt, dass wir zu unseren Verbänden und Organisationen Sorge tragen müssen.

Damit sie sich nicht auflösen, wie kürzlich der Verband der Militär-Küchenchefs?

Holenstein: Viele Milizorganisationen kämpfen zwar gegen Überalterung oder sind in Auflösung begriffen. Anderseits hat es viele Junge, die sich engagieren wollen. Diese müssen wir gewinnen. Das Milizwesen in der Schweiz ist noch lange nicht am Ende, auch wenn es oft herbeigeschrieben wird. Es ist Teil des Schweizer Selbstverständnisses.

Verfügen Sie über ausreichend Mittel?

Holenstein: Die LKMD hat klar weniger finanzielle Polster als etwa die SOG, aber wir arbeiten daran. Die ersten 100 Tage als Präsident habe ich nun hinter mir. Es ist einiges gelaufen seither. So haben wir kürzlich an einem Strategie-Workshop den Kurs neu definiert. Auch die Statuten aus dem Jahr 1995 müssen komplett modernisiert werden, in diesem Zusammenhang auch der etwas altbacken klingende Name «Landeskonferenz», ein Relikt aus dem Gründungsjahr 1971. Wir wollen politisch Einfluss nehmen und initiativfähig werden.

Wie militärisch ist Ihr Privatleben: Schiessen Sie in der Freizeit oder absolvieren Sie Waffenläufe?  

Holenstein: Nicht ganz, auch wenn sich vieles um Sicherheitspolitik und Militär dreht. Ich bin seit jeher ein begeisterter Sportler und betrieb früher Laufen als Leistungssport. Ausserdem bin ich kulturell sehr interessiert und schreibe gerne und publiziere immer mal wieder, zum Beispiel militärhistorische Bücher oder armeepolitische Abhandlungen. Es ist aber überhaupt nicht so, dass mein ganzes Privatleben militarisiert und ich ständig nur in Uniform zu sehen wäre, im Gegenteil. Die Balance muss stimmen.

Stefan Holenstein (60) hat in Zürich Rechtswissenschaft studiert. Nach dem Doktorat erwarb er das Anwaltspatent und wechselte in die Privatwirtschaft, wo er in Managementfunktionen unter anderem beim Reisekonzern Kuoni, bei der Erb-Gruppe, bei Santésuisse sowie beim ACS arbeitete. Seit fünf Jahren ist er Partner bei einer Interim-Management-Provider-Firma. Der Generalstabsoberst präsidierte ab 2016 die Schweizerische Offiziersgesellschaft (SOG) und übernahm im November 2021 das Präsidium der Landeskonferenz der militärischen Dachverbände (LKMD). Holenstein ist ledig und wohnt in Zürich.

«Alle Menschen haben Werte, aber nicht alle dieselben»

Kirchenratspräsident Gottfried Locher über ethisches Handeln in Wirtschaft und Politik.

«Das neue Parlament schafft Raum für kreativere Lösungen»

Politgeograf Michael Hermann zum Wahlausgang, zum Wunsch nach etwas Neuem und warum das Machtkartell der grossen Parteien geschwächt ist.

«Neutralität ist ein beliebiger, ein bequemer Begriff»

Ständeratspräsident Hans Stöckli über sein Präsidialjahr der anderen Art, über seine Liebe zu Freiheit und Macht – und über die Rolle der Schweiz in einer unsicher gewordenen Welt.

Als Separatisten in der Schweiz Bomben zündeten

Das neue Buch «Der Jurakonflikt» von Christian Moser ist nicht nur präzis recherchiert, es enthält auch Tröstliches für unsere Zeit.

«Das Virus zirkuliert weiterhin»

Sarah Tschudin Sutter erforscht die raffinierten Wege, die Bakterien suchen und finden, um sich gegen Antibiotika zu wappnen.

Die 10 wichtigsten Technologien

Einige werden Sie wiedererkennen, andere könnten Sie überraschen.

«Es ist extrem kompetitiv»

Weltraumforscherin Salome Gruchola erklärt, wie sie ein Instrument baut, um Leben im All nachzuweisen.

China steht bedeutender Entscheid bevor

Politikprofessor Hu Wei prognostiziert langwierige Probleme für die asiatische Supermacht und ein Ende der Schweizer Neutralität

«Polizei und Behörden müssen wissen, wer da ist»

Florian Düblin, Generalsekretär der Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz, erklärt, wie die Ukraine-Krise die Sicherheitsbehörden in den Kantonen fordert – und warum ein Nein zu Frontex katastrophal wäre.