«Das neue Parlament schafft Raum für kreativere Lösungen»

Politgeograf Michael Hermann zum Wahlausgang, zum Wunsch nach etwas Neuem und warum das Machtkartell der grossen Parteien geschwächt ist.

Politgeograf Michael Hermann analysiert das neue Parlament und den Wahlausgang.  (Bild: ZVG)

Michael Hermann, die Grünen haben in den nationalen Wahlen massiv Stimmen gewonnen, auch der Zuwachs bei den Grünliberalen ist substanziell: Was bedeutet das für die kommende Legislatur?
Neben den politischen Verschiebungen gibt es für mich noch einen weiteren sehr zentralen Wandel: Die grossen Gewinnerinnen sind zwei eher kleine Parteien. Verloren haben dagegen die drei grössten Parteien. Es ist dies ein Muster, das wir aus ganz Europa kennen. Die grossen Traditionsparteien verlieren, weil es diesen Wunsch nach etwas Neuem gibt, etwas, das die Etablierten unter Druck setzt. Das wird sich auf die kommende Legislatur auswirken. Obwohl sie politisch sehr unterschiedlich sind, bilden die drei Grossen ein Machtkartell. Sie suchen die Konfrontation unter sich, zusammen mit der CVP machen sie die Deals. Die markante Schwächung dieses Kartells führt zu einer Verflüssigung der Politik. Zwar ist das neue Parlament in politischer Hinsicht nicht weniger polarisiert. Dennoch gehe ich davon aus, dass es konstruktiver zusammenarbeiten und Raum für kreativere Lösungen schaffen wird.

Wie muss man sich das vorstellen?
Nur als Beispiel: Hätte die SP den linken Sieg eingefahren, dann hätte dies zu einem ganz anderen Triumph geführt, die eigene Überlegenheit wäre zelebriert worden. Doch nun sind es die Grünen, die als kleinere Partei ganz anders reagieren: Zurückhaltender, massvoller in den Forderungen. Verstärkt wird diese Verflüssigung durch den sprunghaft angestiegenen Frauenanteil. Frauen sind allgemein weniger an Machtspielen interessiert, sie wollen lieber freier ihre Meinung bilden. Auch das wird im neuen Parlament spürbar werden, die männerbündlerischen, ritualisierten Auseinandersetzungen werden weniger, die klaren Machtzentren geschwächt.

Was sind die Folgen?
Dies schafft bessere Voraussetzungen, damit es in diesem Parlament einen herrschaftsfreieren Diskurs geben kann. Damit besteht auch die Chance, dass nicht bei jeder Fragestellung gleich von Anfang an rituell ein blockmässiges Einordnen stattfindet und gleich auch Denk- und Haltungsverbote ausgegeben werden. Ich erwarte, dass die Sicht, wonach Pluralität als etwas Positives im Prozess wirken kann, wieder mehr Anhängerinnen und Anhänger gewinnen wird in diesem Parlament. Das sind jetzt nur Aussagen zum Atmosphärischen, aber die Atmosphäre ist in einem Parlament von grosser Bedeutung.

Was ist der augenscheinlichste Unterschied zur Ausgangslage von vor vier Jahren?
Damals traten die Sieger von FDP und SVP selbstbewusst vor die Kameras und verkündeten den neuen Bürgerblock, der bestimmte Anliegen durchdrücken wollte. Auch die CVP war zuerst interessiert, mitzumachen. Doch das weckte Erwartungen und Abwehrreflexe. Am letzten Sonntag fragten wir die Bürgerinnen und Bürgern, wie sie den Nationalrat wahrnehmen. Etwa 45 Prozent der Befragten war er zu rechts. Das führte zur Korrektur mit dem Wahlzettel. Aber aufgepasst: Am Wahlabend, in Kenntnis der Resultate, fanden plötzlich 45 Prozent der Befragten, der Nationalrat sei zu links geworden. Was ich damit sagen will: Die Gefahr, dass in vier Jahren wieder eine Korrektur in die gegengesetzte Richtung kommt, ist real. Wenn die Sieger ihre Mehrheit nachhaltig sicher wollen, müssen sie sorgsamer damit umgehen, sorgsamer als FDP und SVP vor vier Jahren. Gleichzeitig aber auch, ohne die eigenen Leute zu demobilisieren.

Welche Mehrheiten sind in diesem neuen Parlament überhaupt möglich?
Grundsätzlich sind in einem Parlament immer mehrere Mehrheiten möglich. Es gab auch in der vergangenen Legislatur unterschiedliche Allianzen. Was anders sein wird, ist die Verortung der politischen Mitte. In der vergangenen Legislatur lag die Mitte des Nationalrats beim rechtesten Flügel der CVP. Nun liegt sie wieder bei der CVP, dort jedoch am linken Flügel. Gleichzeitig können Leute vom progressiveren Pol der FDP eine ähnliche Rolle übernehmen. Die beiden Mehrheiten eignen sich aber nicht für die gleichen Geschäfte. Aber die Linke hat in diesem Parlament mehr als eine Option. Sie wird in Fragen der sozialen Sicherheit, Altersvorsorge oder Krankenkassen eine eher sozial-konservative Mitte-Links-Allianz mit der CVP Mehrheiten bilden können. Dagegen kann eine progressive Allianz aus Liberalen, Grünen und Linken wohl Mehrheiten schaffen in gesellschaftspolitischen Fragen, Aussenpolitik oder wenn es etwa um die Individualbesteuerung geht.

Was empfehlen Sie den Gewinnern?
Sich genau zu überlegen, welche Projekte sie angehen wollen. Am Anfang haben Gewinner einer so klaren Richtungswahl eine Diskursmacht. Es öffnet sich ein «window of opportunity». Jetzt haben gewisse Themen Konjunktur. Selbst Freisinnige finden plötzlich, dass man jetzt etwas gegen den Klimawandel unternehmen müsse. Dieses Fenster wird aber nicht die ganze Legislatur offenbleiben. Zur Erinnerung: Das letzte Parlament war vom Anfang bis zum Schluss genau gleich zusammengesetzt, trotzdem gab es am Anfang andere Entscheide als am Schluss. Die erste Hälfte der Legislatur stand unter dem Eindruck des massiven Rechtsrutsches. In der zweiten Hälfte führte der Stimmungswandel in der Bevölkerung zu einer Anpassungsreaktion im Bundeshaus. Wer etwas durchbringen will, muss das möglichst früh in einer Legislatur schaffen.

Was bedeutet das Resultat für die SVP? Christoph Blocher spricht von einer Riesenleistung, er habe mit Verlusten von 10 Prozent und mehr gerechnet. Trotzdem sind die Verluste von 12 Sitzen ja nicht so einfach wegzustecken?
Es ist interessant zu sehen, wie Christoph Blocher sich schnell an neue Realitäten anzupassen vermag. Im Frühling griff er nach einem ähnlichen Resultat in Zürich durch und setzte die kantonale Parteiführung ab, jetzt hat er offenbar gemerkt, dass das Problem tiefer liegt. Jetzt setzt er im Nachhinein seine schlimmsten Erwartungen künstlich hinauf, um dann sagen zu können, dass die massiven Verluste tiefer ausgefallen seien. Mit dieser Rechnung kann er sich gleich zum Gewinner ausrufen. Aber im Ernst: Eine Entzauberung ist Tatsache. Die Normalisierung der Partei nimmt neue Ausmasse an. Die Zauberwirkung der alten Garde ist verpufft. Es interessiert sich im Grunde niemand mehr, was Blocher genau zum Wahlausgang zu sagen hat.

Wie hat sich die heutige Führung geschlagen?
Ich finde, Albert Rösti macht seine Sache gut und er hat in der letzten Zeit an Format gewonnen. Mit der Gegenposition beim Klimathema hatte die Partei am Schluss wieder etwas Tritt gefasst. Doch die Partei hat nicht nur die aktuelle Niederlage im Rücken. Bereits zuvor reihte sie bei ihren Kerngeschäften Niederlage an Niederlage. Darum ist die Niederlage vom letzten Sonntag viel weitreichender im Vergleich zum Jahr 2011. Insbesondere weil mit dem grünen, linken, femininen Sieg eine starke Gegenerzählung entstanden ist.

Was bedeutet das Resultat für die SP? Es ist schon die zweite Niederlage von Parteipräsident Christian Levrat.
Unter seiner Führung war die SP parlamentarisch extrem erfolgreich – gerade vor dem Hintergrund, dass die Partei aus einer Minderheitsposition heraus agieren muss. Im Gegensatz etwa zur SVP, die viel grösser ist, parlamentarisch aber kaum etwa durchsetzen konnte. Was Levrat aber nicht gelang, war Wärme und elektorale Heimat auszustrahlen, um Leute auch aufzubauen. Vielleicht auch gerade deswegen, weil er möglicherweise ein zu mechanistisches Bild von der Politik hat, zu stark wie ein Schachspieler in Figuren und Zügen denkt. Unsere Nachwahlbefragungen haben gezeigt, dass viele Wähler zu den Grünen abgewandert sind, weil sie andere Themen anders gewichten wollen. Diese Leute können in Zukunft wieder zurückkommen. Ein viel grösseres Problem für die SP sind die Jungen: Eine ganze Generation wird anders sozialisiert, indem die Grünen und die Grünliberalen dort auftrumpfen konnten. Diese Leute wieder anzusprechen, wird der SP viel schwerer fallen. Diese Generation könnte für immer verloren sein.

Die FDP musste Federn lassen: Wo soll sich die Partei im neuen Parlament positionieren? Hat sich der Richtungswechsel in der Klimapolitik ausgezahlt?
Die FDP musste in der Klimapolitik reagieren, weil auch an ihrer Basis ein Umdenken stattgefunden hat. Der Klimawandel ist zum Mainstream-Thema geworden. So wie die Umweltpolitik in den 1980er-Jahren zum Mainstream wurde. Trotzdem bleibt es für die FDP ein schwieriges Thema. In allen anderen Parteien ist die Unterstützung für eine griffig Klimapolitik entweder grösser, oder die Basis ist wie bei der SVP klar ablehnend. In der FDP geht hier ein Riss durch die Partei. Das hat zur Folge, dass so schnell kein Frieden einkehren wird. Die SVP kann für Gegner von Klimaschutzmassnahmen in der FDP durchaus zu einer Alternative werden.

Ist die CVP wirklich die heimliche Siegerin? Den Krebsgang konnte Präsident Pfister ja nicht aufhalten. Oder wird sie als Mehrheitsbeschafferin wieder wichtiger?
Die CVP hat schon einen Bundesratssitz eingebüsst, sie ist jetzt gar nicht so stark im Fokus und unter Druck wie andere. Die CVP wird in vielen Bereichen im Zentrum stehen – ausser es spielt die Liberal-Linksgrüne-Allianz und sie bleibt aussen vor. Darum sind sie nicht per se viel einflussreicher. Vorher brauchte es für eine Mehrheit die CVP zwingend. Und innerhalb der CVP sind es andere Exponenten, die einflussreicher werden. Also eher der linke als der rechte Flügel. Wenn sie nun nicht mitmachen, den Kräften links der CVP einen zusätzlichen Sitz im Bundesrat zu verschaffen, bleiben sie dort in der Minderheit und nur in zwei von drei Gremien zentral: Sie sind im Ständerat das Zünglein an der Waage, gleiches im Nationalrat. Im Bundesrat bleiben sie aber aussen vor. Gerhard Pfister könnte mit der Unterstützung eines grünen Bundesratssitzes Viola Amherd zur mächtigsten Frau in der Schweiz machen. Die CVP opferte 1959 einen Sitz, um im Bundesrat noch einflussreicher zu werden. Diesen Zustand könnte die Partei wieder erreichen, bloss dass es bei der Einführung der Zauberformel 1959 um den Rückgang von drei auf zwei Sitze ging.

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