«Die Lage ist noch etwas schlimmer geworden» 

Der scheidende Armeechef Thomas Süssli erklärt, wie es um die Schweizer Armee steht – und was ihm am meisten Sorgen bereitet.  

Thomas Süssli (59), Chef der Armee seit 2020, gibt Ende 2025 das Amt ab. Er ist der fünfte CdA, seit diese Funktion geschaffen wurde. Und der erste, der seit Ende des 2. Weltkriegs wieder eine Mobilmachung befehlen musste – 2020, als die Armee zum Assistenzdienst im Rahmen der Covid-Pandemie aufgeboten wurde. (Bild: VBS-DDPS)

Sie sind der fünfte Chef der Schweizer Armee – aber der erste, der nicht ständig erklären muss, wozu die Schweiz eine Armee braucht. Erfüllt Sie das mit Genugtuung?  

Thomas Süssli: Es begann schon zwei Monate nach meinem Amtsantritt, als die Covid-Pandemie losging und wir in kurzer Zeit fast 6000 Armeeangehörige mobilisierten. Die Armee bekam damals sehr viel Visibilität, aber auch sehr viel Goodwill. Eine Woche nach Beendigung der Covid-Einsätze ging der Krieg in der Ukraine los. Der führte dazu, dass unsere Armeeangehörigen wissen, warum das, was sie lernen, wichtig ist. Wenn ich zu Besuch bin, zum Beispiel in einer Infanterie-RS, frage ich jeweils danach. Seit in Europa Krieg herrscht, antworten die Rekrutinnen und Rekruten: «Ja, wir wissen es.» Das gibt ihnen viel Sinnhaftigkeit. 

Kommen die Rekruten motivierter in die RS und die Soldaten motivierter in den WK? 

Süssli: Das würde ich nicht sagen, die Motivation hängt von anderen Faktoren ab. Ich sage: Sie verstehen den Sinn besser. In der Bevölkerung scheint das aber noch nicht überall angekommen zu sein. Manchmal habe ich das Gefühl, dass der Zusammenhang zwischen der sich verschlechternden Sicherheitslage in Gesamteuropa und der Armee noch nicht allen klar geworden ist.  

Treten Sie dagegen an, indem Sie der Bevölkerung den Zusammenhang erklären? Vergangenes Jahr hatten Sie, wie Sie in einem Interview sagten, über 100 Auftritte vor insgesamt 14’000 Menschen. 

Süssli: Selbstverständlich ist es meine Aufgabe, zu erklären. Zu meiner Rolle gehört das Gespräch mit ausländischen Armeechefs, ich habe auch Zugang zu nachrichtendienstlichen Informationen. Das gibt eine Lageeinschätzung aus Sicht der Armee, und die erkläre ich. Ich zeige auf, wo unsere Armee heute steht und was das Delta zu dem ist, was sie in der neuen Lage eigentlich können müsste. Wobei ich betonen möchte: Ich lade mich nicht selber ein, sondern bin über 100-mal eingeladen worden. Das zeugt von einem grossen Interesse. 

Wie verstehen Sie Ihre Aufgabe als Chef der Armee respektive CdA – wie ein CEO von Novartis oder von der UBS?  

Süssli: Es hat zwei Seiten: Der Chef der Armee ist zum einen der Chef der Militärverwaltung. Das sind knapp 10’000 Mitarbeitende, die in der Gruppe Verteidigung arbeiten. Da hat der Chef der Armee tatsächlich die Rolle eines CEO, da führt er eine Unternehmung. Es geht um Personal, um Finanzprozesse, um Immobilien, um Informatik und um Projekte. Auf der anderen Seite ist der CdA auch Chef der Milizarmee mit 140’000 eingeteilten Armeeangehörigen. 

Was verbindet die Armee mit der Privatwirtschaft? 

Süssli: In beiden geht es darum, Mitarbeitende in der Organisation auf ein gemeinsames Ziel auszurichten. Dies möglichst mit einer gemeinsamen Vision, wohin man will – ich verstehe das als ein Ziel, das auch Herzen bewegt. Und es geht darum, eine Strategie zu entwickeln, einen Weg, wie man an das Ziel kommt, und diesen Weg dann jeden Tag umzusetzen.  

Und was unterscheidet die Armee von der Privatwirtschaft?  

Süssli: Die Wirtschaft ist viel kurzlebiger, in der Regel geht es um Quartalszahlen. In der Gruppe Verteidigung haben wir ein langfristiges Ziel. Unsere Prozesse dauern teilweise über mehrere Jahre, wenn es etwa darum geht, ein neues System oder eine neue Fähigkeit einzuführen. Zudem verbindet alle unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Uniform und in Zivil, dass sie einen Sinn darin sehen, jeden Tag etwas für die Sicherheit der Schweiz zu tun. Die Sinnhaftigkeit ist bei uns oft grösser als in Wirtschaftsbetrieben.  

Ist Ihre Aufgabe einfacher geworden, seit die Welt um uns herum nicht mehr so friedlich ist, wie sie lange schien? 

Süssli: Meine Aufgabe ist nicht einfacher geworden, so würde ich es nicht sagen. Die Aufgabe ist die gleiche. Auch wenn der Sinn wieder besser verstanden wird, muss man trotzdem überzeugen und erklären.   

Welcher der globalen Konfliktherde bereitet Ihnen die grössten Sorgen? 

Süssli: Basierend auf vielen Gesprächen mit ausländischen Armeechefs – ich war in Estland, in Litauen und in Polen, um mir selber ein Bild zu verschaffen, wie gefährlich Russland ist – muss ich sagen: Das macht mir schon am meisten Sorgen. Ich zitiere den deutschen Bundeskanzler Friedrich Merz: Wir sind zwar nicht in einem Krieg, aber wir sind auch nicht mehr im Frieden. Der Direktor unseres Nachrichtendienstes, Christian Dussey, hat es ebenfalls gut gesagt: Europa ist bereits in einem hybriden Konflikt mit Russland. Das ist es, was mir am meisten Sorgen macht.  

Welcher General beziehungsweise Armeechef hat Sie am meisten beeindruckt? 

Süssli: Es waren mehrere. Aber General Martin Herem, der ehemalige Armeechef von Estland, hat etwas gesagt, was mir geblieben ist. Als ich in Estland war, sagte er: «Weisst du, Thomas, wenn ihr aus Zentraleuropa Richtung Osten schaut, dann seht Ihr am Horizont etwas Rauch. Bei uns in Estland sehen wir das Feuer.»  

Nach Russlands Angriff auf die Ukraine haben Sie gewarnt, die Schweizer Armee könne im Kriegsfall höchstens einen Monat durchhalten. Wie sieht es heute, dreieinhalb Jahre später, aus? 

Süssli: Die Frage damals lautete, wie es bei einem vergleichbaren Angriff wie auf die Ukraine wäre. Bei einem umfassenden Angriff auf die Schweiz könnte die Armee das Land nur kurze Zeit verteidigen. Die Lage ist unverändert oder sogar noch etwas schlimmer geworden. Denn unsere Systeme altern, sie werden teurer im Unterhalt, fallen häufiger aus, und wir haben seitdem keine Möglichkeit gehabt, Munition für einen Kriegsvorrat zu beschaffen.  

Wo ist die Lücke am grössten? 

Süssli: In der Luftverteidigung. Die Schweiz hat aktuell keine Abwehr gegen Bedrohungen aus der Distanz. Wir können heute weder Marschflugkörper noch ballistische Lenkwaffen oder Drohnen abwehren.  

Der Kampfjet F-35 ist umstrittener als auch schon. Fürchten Sie nicht, dass er angesichts der verbreiteten Skepsis gegenüber den USA und des steigenden Preises abgeschossen wird? 

Süssli: Der Kampfjet ist ja nicht für mich oder für die Luftwaffe da, sondern für den Schutz der Bevölkerung. Wir sind in der Armee nach wie vor überzeugt davon, dass der F-35 die beste Wahl für die Schweiz ist. Und unsere Erwartung ist schon, dass wir in den nächsten Jahren ein neues Kampfflugzeug einführen können. Denn das heutige, der F/A-18, hat ein Ablaufdatum. Ich vertraue trotz allem darauf, dass Politik und Bevölkerung die Dringlichkeit und Notwendigkeit der Beschaffung sehen.  

Nicht nur die Munition wird weltweit knapp, seit die meisten Länder aufrüsten, sondern auch die Industrie kommt mit der Produktion von Panzern, Raketen oder Drohnen nicht nach. Bekommt die Schweiz überhaupt innert nützlicher Frist, was sie benötigt? 

Süssli: Das ist eine enorme Herausforderung. Denn bei den wenigen Firmen, die produzieren, gehen immer mehr Bestellungen ein. Das heisst, die Lieferfristen werden immer länger, und wenn man nicht rechtzeitig bestellt, kann es sehr lange dauern, bis man beliefert wird.  

Macht der langwierige politische Prozess der Schweiz die Herausforderung noch grösser? 

Süssli: Wer früher bestellt, bekommt früher. Und ja, wenn man erst später bestellen kann, aus welchen Gründen auch immer, dauert es nochmals länger. Nicht nur, dass man das Bestellte später erhält, sondern die Lieferfristen verlängern sich zusätzlich. 

Wie sieht es mit dem Personal aus: Ist die Armee ausreichend alimentiert? 

Süssli: Wir haben zwar genügend Leute, die in die Rekrutenschule kommen, und es sind gute Leute. Die Schwierigkeit ist aber, dass zu viele nach der RS in den Zivildienst wechseln. Aktuell haben wir genug Armeeangehörige. Ende des Jahrzehnts läuft aber die Übergangslösung aus der letzten Armeereform aus, der Weiterentwicklung der Armee WEA. Dann wird man sehen, dass der Armee etwa 15’000 Leute fehlen, also etwa zehn Prozent. Das ist nicht gut, denn wenn die Spezialisten in den Wiederholungskursen fehlen, wird es schwieriger, Übungen zu machen und zu trainieren.  

Sie haben intern komplett auf Verteidigung umgestellt, wie Sie kürzlich in einem Interview sagten. Was heisst das für die Armeeangehörigen? 

Süssli: Mit der vom Volk angenommenen Armeereform XXI haben wir ab 2004 die Armee auf die wahrscheinlichsten Einsätze ausgerichtet, nämlich auf die Unterstützung der zivilen Behörden. In diesem Bereich wurde auch viel getan. Man hat für Schutzaufgaben bei Katastrophen und Notlagen ausgebildet, die Kampftruppen nahmen ebenfalls viele Schutzaufgaben wahr. Jetzt wird in den Rekrutenschulen und Wiederholungskursen wieder primär Verteidigung trainiert. Das Abwehren eines bewaffneten Angriffs steht im Vordergrund, nicht mehr der Schutz kritischer Infrastrukturen.  

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was würden Sie der Schweizer Armee wünschen? 

Süssli: Ich würde mir wünschen, dass die Milizangehörigen unserer Armee von der Bevölkerung und der Wirtschaft jene Wertschätzung erhalten, die sie verdient haben. Denn unsere Armee ist nichts anderes als Bürgerinnen und Bürger in Uniform, die einen besonderen Dienst für die Sicherheit von uns allen leisten.  

Wenn Sie Ende Jahr die Uniform abgeben, werden Sie sechs Jahre lang CdA gewesen sein. Nur Ihr Vorvorgänger André Blattmann hat es länger geschafft. Sind Sie stolz darauf? 

Süssli: Nein, solche Gefühle hege ich nicht. Ich wusste am Anfang nicht, dass ich sechs Jahre lang bleiben würde. Bei meiner Wahl hatte ich Frau Bundesrätin Amherd gesagt, ich würde fünf Jahre machen. Jetzt sind es sechs geworden. Jedes Jahr war speziell, und ich hatte immer Freude und Energie, noch ein weiteres Jahr zu bleiben.  

Ende 2025 ist Ende Gelände. Werden Sie dann einfach mal durchatmen und nichts tun? 

Süssli: Das ist nicht meine Art. Ich werde nächstes Jahr eine Art Bildungsreise machen: Ich möchte Start-up-Ökosysteme in Asien und in den USA besuchen, um zu schauen, wie andere Länder mit Start-ups umgehen, und versuchen, Lehren daraus zu ziehen für die Schweiz. Danach möchte ich mich in der Förderung von Start-ups engagieren. Wie genau, werde ich erst im kommenden März entscheiden.  

Wobei erholen Sie sich am besten?  

Süssli: Ich lese gerne, pro Monat vielleicht zwei oder drei Bücher, meist Sachbücher. Eines der letzten, das ich gelesen habe, ist «Der verlorene Frieden» des deutschen Historikers Andreas Rödder. Das habe ich richtiggehend verschlungen. Und zuletzt das Buch von «Nebelspalter»-Chefredaktor Markus Somm über Marignano. Er hat es mir geschenkt, ich habe es ebenfalls in einem Zug gelesen. Jetzt bin ich am Buch von FranzStefan Gady, «Die Rückkehr des Krieges: Warum wir wieder lernen müssen, mit Krieg umzugehen».  

 

Thomas Süssli (59) ist in Feldmeilen im Kanton Zürich aufgewachsen und in Küsnacht und Zürich in die Schule gegangen. Nach einer Ausbildung zum Programmierer/Analytiker sowie zum Wirtschaftsinformatiker absolvierte er einen MBA an der Fachhochschule Chur. Süssli arbeitete in diversen Funktionen in der Finanzbranchezuletzt als CEO von Vontobel Financial Products in Singapur, bevor er 2015 Berufsmilitär wurde. Der ehemalige Sanitätssoldat führte zuerst die Logistikbrigade der Armee und war danach Chef der Führungsunterstützungsbasis. Auf Anfang 2020 wurde er zum Chef der Armee ernannt; Ende 2025 gibt er das Amt ab. Der Vater von zwei erwachsenen Töchtern lebt mit seiner Frau in Oberkirch im Kanton Luzern.

Wie das Hitparadenprinzip die Berichterstattung prägt

Der Anwalt und Blockchain-Experte Luka Müller-Studer über den Bitcoin-Boom und das radikal neue Denken der digitalen Generation.

So wird die Schweiz zur «Blockchain Nation»

Wie das Eidgenössische Finanzdepartement die Weichen stellt.

Wie die U-30-Jährigen arbeiten wollen

Die Generation Z will laut dem US-Jobvermittler Handshake vor allem eines: absolute Flexibilität. Eine Herausforderung für die Unternehmen, aber auch eine Chance.

Bitcoin: Euphorie oder Ernüchterung?

5 Antworten zur virtuellen Währung

«Ein Symptom der polarisierten Parteienlandschaft»

Politologin Silja Häusermann erklärt, warum Reformen der Altersvorsorge hierzulande reihenweise scheitern – und wie es doch gehen könnte.

Daten landen im Darknet

Welche Erfahrungen die Stadt Baden nach einem Cyberangriff machte und wie sie reagierte.

Der Nutzen der Nähe

Strenge Bauvorschriften verhindern die Verdichtung und treiben die Leute in die Vororte.

«Wir wollen aufzeigen, dass Europa auf dem falschen Weg ist»

Im zweiten Teil des Gesprächs analysieren Konrad Hummler und Franz Jaeger das Verhältnis der Schweiz zu Europa. Dabei plädieren sie für eine andere EU.

Ersetzt ChatGPT bald den Menschen?

Wer sich in der Schweiz vor der breiten Nutzung von KI-Instrumenten fürchten muss