«Wir wollen aufzeigen, dass Europa auf dem falschen Weg ist»

Im zweiten Teil des Gesprächs analysieren Konrad Hummler und Franz Jaeger das Verhältnis der Schweiz zu Europa. Dabei plädieren sie für eine andere EU.

Bundespräsidentin Doris Leuthard (links) und Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission. (Bild: BZ

Ist Ihr Buch «Kleinstaat Schweiz – Auslauf- oder Erfolgsmodell?» ein Plädoyer gegen Europa?
Franz Jaeger: Es ist ein Plädoyer für ein anderes Europa. Wir wollen mit dem Buch aufzeigen, dass Europa auf dem falschen Weg ist. Europa war und ist eine phantastische Vision, und wir sind eigentlich alle für das ursprüngliche Europa. Aber das heutige Europa hat nichts mehr mit diesem visionären Europa der Gründer zu tun. Das ist unsere Überzeugung.

Welches ist der falsche Weg?
Franz Jaeger: Europa ist historisch entstanden als Gesellschaft, die von den Grenzen, vom gegenseitigen Austausch und Wettbewerb sowie von Auseinandersetzungen geprägt wurde. Europa ist Ausdruck einer ausserordentlichen Vielfalt: unterschiedliche Mentalitäten, Sprachen, Geschichten, kulturelle Konzepte, Leistungsbereitschaften, wirtschaftspolitische Präferenzen. Im Süden ist man eher bereit, Schulden zu machen und wirtschaftliche Kräfte ohne allzu grosse Disziplin zu entwickeln. Im Norden setzt man eher auf ökonomische Stabilität und Erfolge, man akzeptiert einen Wettbewerb zwischen den Ländern, auch punkto Steuern. Nun will man von Brüssel aus all diese Elemente homogenisieren. Wird die EU nach dem französischen Vorbild noch stärker zentralisiert und vergemeinschaftet, geht der Wettbewerb verloren, was für Wirtschaft und Gesellschaft verheerend ist.
Konrad Hummler: Eine wachsende Gruppe von Staaten will das nicht. Sie setzt sich ein für eine stärkere Rückbesinnung auf das regionale und nationale Bewusstsein. Das ist auch unser Wunsch, unsere Hoffnung: Europa muss wieder ein Kontinent der Vielfalt werden. Im Gegensatz dazu entsteht aber ein homogenes Gebilde, das seinen wesentlichen Vorteil, die Vielfalt, aufgibt. Vor diesem Hintergrund ist nachvollziehbar, weshalb die sehr rechten, nationalistischen Kräfte überall in Europa Aufwind haben.

Gibt es in der Schweiz diese Kräfte, welche den Kleinstaat Schweiz für nicht überlebensfähig halten?
Konrad Hummler: Wir müssen viel intellektuelle Überzeugungsarbeit gegenüber der Verwaltung, der Diplomatie und eines Teils der Politik in Bern leisten. Es gibt eine versteckte Agenda, die ganz klar eine Affinität zum grossen Über-Ich EU verinnerlicht hat. Das merkt man bei den institutionellen Rahmenabkommen mit der EU oder bei der Duckmäuserei in der Frage der Personenfreizügigkeit. Es kann doch nicht sein, dass die Schweiz als eines der europäischen Länder mit dem höchsten Ausländeranteil und der besten Integrationsleistung keine Ausnahme bei der EU erwirken kann. Deshalb erhielten die Bundesregierung und die Verwaltung mit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative die Retourkutsche.

Wo liegt der Handlungsbedarf?
Franz Jaeger: Es braucht in gewissen Kreisen, namentlich bei den aussen- und verteidigungspolitischen Entscheidungsträgern, einen Mentalitätswandel. Wir müssen damit aufhören, mit vorauseilendem Gehorsam, mit zu viel Kompromissbereitschaft in Verhandlungen einzusteigen. Niemand traut sich beispielsweise zu sagen, dass wir das Flüchtlings- und Ausländerproblem viel besser gelöst haben als die EU. Ich verstehe die dogmatische Verabsolutierung des Freizügigkeitsabkommens nicht. Der Brexit kam genau deswegen zustande.

Welches Ziel wollen Sie mit der Diskussion erreichen?
Konrad Hummler: Wenn bei den etablierten Parteien eine etwas differenzierte Vision über die Schweiz in der Welt und in Europa entsteht, sind wir zufrieden. Die beiden Extrempositionen – Abschottung und EU-Beitritt – sind über zwanzig Jahre alt. Weder die SVP noch die SP nehmen zur Kenntnis, dass sich die Welt seither verändert hat und dass sie mit ihrer Position keine Chance haben und die Schweiz nicht weiterbringen. Niemand weiss, wie sich Europa in den nächsten fünf Jahren entwickeln wird. Deshalb wünschen wir uns ein grundsätzliches Nachdenken über die Werte und die Identität der Schweiz.
Franz Jaeger: Man kann uns vorwerfen, dass wir keine Lösung präsentieren. Das wollen wir auch nicht, denn es kann verschiedene Lösungen oder Optionen geben. Darüber wollen wir debattieren. Wir wollen über Konzepte und Prinzipien nachdenken, wir wollen das Denken beeinflussen.
Konrad Hummler: Wir müssen fähig sein, Optionen auf die verschiedenen Modelle Europas zu entwickeln. Es gibt zu viele politische, gesellschaftliche und ökonomische Unsicherheiten. Wie wollen wir uns positionieren, wenn sich die Eurozone weiter vertieft bis hin zu einer Haftungsunion? Dann gäbe es ein zweites Europa, das nicht Eurozone ist. Oder was ist die Position der Schweiz, sollte sich diese als eine Art Klub organisieren? Solche Ideen bestehen.
Franz Jaeger: Wir müssen auch die Freiheit haben zu überlegen, unter welchen Bedingungen wir bereit wären in der EU mitzumachen. Wir sind ja Teil von Europa. Aber wenn wir alle unsere komparativen Vorteile aufgeben müssten, weil sich Europa zu einem homogenen Gebilde entwickelt, dann sicher nicht.
Konrad Hummler: Wir müssen uns optionsfähig machen, wir brauchen eine gedankliche Handlungsfreiheit in diesem sehr dynamischen Umfeld. Wir haben in der Schweiz ein Manko an Selbstbewusstsein, das sollten wir ändern. Wir wollen die Erfolge, den Ruhm der Schweiz ins Bewusstsein rücken.

Was wäre für Sie eine ideale Entwicklung zwischen der Schweiz und der EU?
Franz Jaeger: Es gibt zwei Wunschvorstellungen. Wenn sich erstens die Schweiz weiter Richtung Zentralismus und politischer Union entwickeln wird, was für mich kein Weg ist, dann wird es für die Schweiz sehr schwierig werden. Denn Europa wird sich wirtschaftlich weiter schwächen. Die Schweiz müsste sich in diesem Fall noch globaler aufstellen und Allianzen bilden mit anderen Kleinstaaten in Europa, die zunehmend Schwierigkeiten mit der EU haben, namentlich mit der wuchernden Regulierung.
Konrad Hummler: Zweitens besteht die Möglichkeit, dass sich Europa viel lockerer, heterogener entwickeln wird, dass das Prinzip der Subsidiarität umgesetzt wird. In diesem Fall müssen wir uns überlegen, wie wir allenfalls mitmachen können.
Franz Jaeger: Wichtig ist, dass wir unsere eigenen Interessen nicht leichtfertig aufs Spiel setzen oder gar aufgeben. Wir müssen unsere komparativen Vorteile ausspielen, und vor allem dürfen wir keine Angst haben vor der Offenheit, die ein wesentlicher Erfolgsfaktor der Schweiz ist.
Konrad Hummler: Blicken wir in der Schweizer Geschichte zurück, dann hat unser Land immer eine globale Perspektive gehabt, sei dies in wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Bereichen. Diese Offenheit müssen wir wieder ins Zentrum unseres Denkens rücken.

Gespräch: Pascal Ihle und Andreas Hugi 

Das Buch, das Konrad Hummler und Franz Jaeger gemeinsam herausgeben, heisst «Kleinstaat Schweiz – Auslauf- oder Erfolgsmodell?» und erscheint am 21. Juni im Verlag NZZ Libro.

Im ersten Teil des Gesprächs geht es um die Erfolgsfaktoren des Kleinstaates Schweiz: «Plädoyer für den weltoffenen Kleinstaat»

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