Vincent Subilia, Sie sind seit Juni Präsident der Schweizer Industrie- und Handelskammer (SIHK), die 19 kantonale und regionale Handelskammern aus der Schweiz und Liechtenstein vereinigt. Sie haben die Funktion in einer für die Schweizer Wirtschaft von Unsicherheit geprägten Zeit angetreten. Wie sehen Sie das?
«Die Chancen sind zahlreich, die Herausforderungen ebenso», heisst es so schön. Wir befinden uns in einer entscheidenden Phase, die von raschen Veränderungen in der Weltwirtschaft, der Energiewende und der Digitalisierung geprägt ist. Unsere Aufgabe als Dachverband ist es, die Schweizer Unternehmen bei dieser Entwicklung zu begleiten, ihre Interessen zu vertreten und für eine effiziente Koordination zwischen den verschiedenen Kammern des Landes zu sorgen.
Sie sprechen von Koordination: Wie sieht das konkret zwischen den verschiedenen Handelskammern aus?
Wir richten Austauschplattformen ein, organisieren regelmässige Treffen und lancieren gemeinsame Initiativen. Es ist wichtig, dass wir unsere Kräfte bündeln, um regionale Herausforderungen anzugehen und gleichzeitig eine starke nationale Vision zu bewahren. Dies erfordert einen ständigen Dialog, den Austausch von Erfahrungen und die Bündelung von Ressourcen. Wir möchten auch die Berufsbildung stärken, Innovationen fördern und uns für ein stabiles und wettbewerbsfähiges regulatorisches Umfeld einsetzen. Aus meiner Sicht sind das die zentralen Säulen des wirtschaftlichen Wohlstands der Schweiz.
Was sind Ihre Ziele für dieses Präsidialjahr?
Mein Ziel ist es, dass diese Institution noch mehr Sichtbarkeit, Glaubwürdigkeit und Legitimität gewinnt. In einer unruhigen Welt ist kollektive Intelligenz unverzichtbar: Wir müssen alle an einem Strang ziehen und ein gemeinsames Ziel verfolgen. Es gilt, unsere Mitglieder so gut als möglich zu verteidigen und zu fördern. Das ist letztlich die Hauptaufgabe einer Handelskammer.
Dennoch konkurrieren die Handelskammern den Rest des Jahres darum, Unternehmen in ihre Region zu locken. Ist es nicht widersprüchlich, gleichzeitig den eigenen Kanton und die ganze Schweiz zu vertreten?
Ich glaube nicht. Wir verfolgen einen Ansatz der Komplementarität. Natürlich stellt jede Kammer ihre Stärken heraus – sei es Zürich, die Waadt oder wir in Genf. Aber wir arbeiten auch Hand in Hand. Die Kammern sind private Institutionen, was uns ermöglicht, die Politik konstruktiv zu kritisieren und gleichzeitig privilegierte Partner der Behörden zu bleiben. Unsere Aufgabe ist es, Synergien zu nutzen und sowohl in der Schweiz als auch international mit einer Stimme zu sprechen.
Genf leistet in diesem Jahr den grössten Beitrag an den Finanzausgleich. Warum ist das so und was ist das Geheimnis hinter diesem Erfolg?
Es gibt keinen Zauberstab, sondern eine grosse Vielfalt an Kompetenzzentren. Das sorgt für einen Ausgleich zwischen den Sektoren und für gute Steuereinnahmen. Einige wie der Rohstoffhandel leisten einen aussergewöhnlichen Beitrag: Genf verfügt über ein weltweit einzigartiges Ökosystem, in dem die gesamte Wertschöpfungskette vertreten ist. Aber wir sehen auch, dass die letzten Jahre in Bezug auf die Steuereinnahmen aussergewöhnlich ertragreich waren. Das sollte uns aber wiederum zur Vorsicht mahnen: Der internationale Wettbewerb ist hart. Wenn ein Genfer Unternehmen wie die SGS nach 110 Jahren nach Zug zieht, wird das Spuren bei den Steuern hinterlassen. Als Genfer bedauere ich das natürlich. Gleichzeitig ziehe ich es vor, dass die Firma in der Schweiz bleibt, anstatt nach Dubai oder Singapur zu gehen.
Genauso hart wird der Wettbewerb global um die internationalen und UNO-Organisationen in Genf geführt. Fürchten Sie um die Zukunft des internationalen Genfs?
Ja, und das betrübt mich. Genf beherbergt 43 internationale Organisationen, 750 NGOs und fast 200 diplomatische Vertretungen. Das ist weltweit einzigartig. Das Gewicht dieses Sektors ist enorm: Er steht für rund 5 Milliarden Franken Umsatz pro Jahr und Zehntausende von Arbeitsplätzen. Aber über die wirtschaftliche Bedeutung hinaus ist es eine Frage der Werte. Genf ist eine Hochburg des Multilateralismus, der heute angegriffen wird. Diese Weltstadt der Governance muss erhalten bleiben, denn sie dient der ganzen Schweiz, nicht nur Genf.
Der starke Franken und die US-Zölle beunruhigen die Schweizer Exporteure. Welche Lösungen sehen Sie?
Unsere Exporteure haben ihre Margen bereits reduziert. Die zusätzlichen US-Zölle in Verbindung mit dem starken Franken gegenüber dem Dollar üben einen enormen Druck aus. Wir müssen daher unsere Absatzmärkte diversifizieren. Freihandelsabkommen sind unerlässlich – beispielsweise das kürzlich unterzeichnete Abkommen mit Indien. Unsere Beziehungen zur Europäischen Union sind für den Wohlstand unseres Landes ebenso von entscheidender Bedeutung und müssen heute gefestigt werden. Aber wir müssen auch an unseren Rahmenbedingungen arbeiten: Steuern, Regulierung und Infrastruktur. Attraktivität lässt sich nicht verordnen, sie muss geschaffen werden.
Und welche Rolle spielen die Handelskammern in diesem Zusammenhang?
Die Handelskammern vertreten Zehntausende von Unternehmen und Hunderttausende von Arbeitsplätzen. Sie erfüllen zwei Hauptaufgaben: Sie bringen die Stimme der Wirtschaft in die politische Debatte auf kantonaler und nationaler Ebene ein. Dazu sind ein echter Marktplatz, der mit einer starken internationalen Ausrichtung die Geschäfte zwischen Unternehmen erleichtert. Je komplexer die Welt wird, desto nützlicher werden unsere Kammern. Entgegen der Meinung einiger sind sie keine verstaubten Institutionen. Im Gegenteil, sie sind Orte, an denen kollektive Intelligenz zum Tragen kommt – vor allem im Austausch untereinander.