Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann über die historische Kraft des Neuen. (Bild: ZVG)

Herr Straumann, Innovation bedeutet, dass etwas Neues entsteht. Gleichzeitig wird dadurch Bestehendes in Frage gestellt, wie aktuell mit der Digitalen Revolution. Wie lässt sich die Digitalisierung mit der Industriellen Revolution vergleichen, die auch ein grosser historischer Bruch war?
Tobias Straumann: Nur bedingt. Denn die Industrielle Revolution war eine viel tiefere Zäsur in der Geschichte als die Digitale.

Weshalb?
Die Industrielle Revolution hat die Arbeit, die Gesellschaft und das Leben der Menschen fundamental verändert. Ein paar Beispiele: Die Kleinfamilie ist undenkbar ohne sie, weil die Kindersterblichkeit drastisch zurückgegangen ist; unser Sozialversicherungssystem ist eine ihrer Folgen genauso wie der Nationalstaat – mit der Eisenbahn konnten grössere Territorien erst regiert und verwaltet werden –, und Bildung für alle hätten wir uns ohne sie nie leisten können. Man kann so ziemlich jeden Bereich der Gesellschaft durchgehen und stellt fest, dass die Industrielle Revolution dafür eine Zäsur darstellte.

Sie zeichnen ein positives Bild der Industriellen Revolution. Doch die Umwälzungen, die sie verursacht hat, haben auch viele Menschen entwurzelt und arm und abhängig von Lohnarbeit gemacht.
Absolut. Die sozialen und ökologischen Probleme, die darauf zurückzuführen sind, dauern zum Teil bis heute an. Das ist aber nicht mein Punkt. Ich möchte nur betonen, dass der Einschnitt viel tiefer war als bei der Digitalisierung, im Guten wie im Schlechten. Ich glaube, dass wir bei der Digitalisierung nicht annähernd diese Wucht der Veränderung erleben. Die Industrielle Revolution hatte vor allem in den ersten rund 50 Jahren, zwischen 1800 und 1850, viele negative Begleiterscheinungen. Vorher war der Lebensstandard aus heutiger Perspektive ohnehin sehr bescheiden. In der ersten Zeit hat die Umstellung auf die Maschinen in England, aber auch in der Schweiz, dazu geführt, dass der Lebensstandard eher noch gesunken ist, und viele Menschen wurden entwurzelt. Das hat sich aber bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts massiv verändert. In der langfristigen Perspektive hat sich die Industrielle Revolution sehr positiv ausgewirkt. Wir können heute Dinge tun, von denen wir vor 200 Jahren nur geträumt hätten.

Müssen wir bei der Digitalen Revolution mit einer vergleichbaren Durststrecke rechnen?
Die historische Bedeutung der Digitalen Revolution ist eher vergleichbar mit Basisinnovationen wie der Eisenbahn oder der Elektrizität. Da war die Disruption nie so gross wie bei der Industriellen Revolution. Ausserdem ist die Vorstellung falsch, dass alle Berufe, die durch die Digitalisierung ersetzbar werden, sofort verschwinden.

Gerade der drohende Verlust gewisser Berufe löst Ängste aus.
Historisch betrachtet besteht dazu wenig Anlass. Denn es dauert sehr lange, bis sich eine Technologie überall durchsetzt. Ausserdem fehlt es zum Teil an den finanziellen Mitteln, um das Potenzial voll auszuschöpfen. Interessant ist, dass bestimmte Berufe, die wegen des technologischen Wandels obsolet werden, vorübergehend sogar an Bedeutung gewinnen können. Das galt etwa für die Handweberei, eine typische Heimarbeit, die trotz der Umstellung auf Maschinen im frühen 19. Jahrhundert zuerst noch einmal aufblühte, weil Garn durch die maschinelle Herstellung günstig wurde und damit die nächste Stufe der Produktion, die Verarbeitung des Garns durch die Handweber, an Bedeutung gewann. Der Bau der Eisenbahn führte dazu, dass die Zahl der Pferde emporschnellte, weil es für die Feinverteilung der Waren Kutschen brauchte. Solche Puffer federn die Folgen des Wandels ab.

Welche Puffer gibt es bei der Digitalisierung?
Es entstehen ganz neue Chancen, auch in nicht besonders hochqualifizierten Berufen. Nehmen wir den Detailhandel. Dieser steht enorm unter Druck, weil sich die Kunden viele Waren per Post nach Hause schicken lassen. Dafür erlebt die Paketpost eine Renaissance, die niemand erwartet hätte, und es gibt viele neue Jobs für Logistiker und Chauffeure.

Sie halten die Endzeitstimmung, die teilweise verbreitet wird, für verfehlt?
Es verändert sich viel und das ist nicht harmlos. Jeder technologische Wandel produziert auch Verlierer. Die kann man nicht mit ein paar tröstenden Worten abspeisen, sondern muss unterstützend eingreifen. Aber die Angst, dass eine grosse Zahl von Berufen innert kurzer Zeit verlorengeht, halte ich für unbegründet.

Wie kann eine Gesellschaft auf disruptive Veränderungen reagieren?
Man könnte zuerst sagen, was man nicht tun sollte. Die USA sind dafür das prominenteste Beispiel: Sie haben lange Zeit die eigenen Märkte nur zögerlich geöffnet und dann in den späten 1990er-Jahren darauf gedrängt, China in die WTO aufzunehmen. Dieser abrupte Politikwechsel wirkt bis heute nach. In den traditionellen amerikanischen Industrieregionen kam es zu einer Entlassungswelle nach der anderen. Es ist entscheidend, dass eine Volkswirtschaft kontinuierlich ein hohes Mass an Offenheit und Wettbewerb fördert. Das bedeutet, dass schwächere Branchen nicht zu stark geschützt und gestützt werden dürfen, weil sie früher oder später ohnehin dem Untergang geweiht sind. Wie kostspielig eine Verzögerung des Strukturwandels sein kann, erfuhr die Schweiz in den 1970er-Jahren, als in kurzer Zeit Zehntausende von Arbeitskräften in der Textil- und Uhrenindustrie ihre Stelle verloren. Um die sozialpolitischen Kosten tief zu halten, hat man die Folgen auf die Gastarbeiter abgewälzt, indem man sie wieder in ihre Länder zurückschickte, was zu diplomatischen Konflikten führte. Der Preis für frühere wirtschaftspolitische Fehler war gross.

Ist die Schweiz gewappnet für die Herausforderungen, die die Digitalisierung mit sich bringt?
Ich bin sehr optimistisch. Es wird gelingen dank der Instrumente, die wir im Laufe der Zeit entwickelt haben, um Veränderungen abzufedern. Dazu gehört unser Bildungssystem, das für alle Qualifikationsstufen gute Bildungswege anbietet und ständig an die neuen Anforderungen angepasst wird. Es ist als Reaktion auf die Industrialisierung und frühe Globalisierung im späten 19. Jahrhundert entstanden. In diesem Kontext müssen wir auch die Sozialversicherungen sehen, die dazu dienen, die Menschen bei den Unwägbarkeiten der Marktwirtschaft zu unterstützen. Die Schweiz hat heute eine Arbeitslosenversicherung, die grosszügig ausgestaltet ist und Arbeitslosen mit Weiterbildungen und Umschulungen Gelegenheit bietet, wieder in den Arbeitsprozess zurückzukehren. Zudem findet eine intensive öffentliche Diskussion statt. Das sind sehr gute Voraussetzungen, um den Wandel zu meistern.

Autor: Thomas Gull, Universität Zürich

Zur Person
Der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann ist Titularprofessor an der Universität Zürich für die Geschichte der Neuzeit und Lehrbeauftragter der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Im März 2019 erscheint sein Buch über die grosse Finanzkrise von 1931: Debt, Crisis, and the Rise of Hitler (Oxford University Press).

Dieser Artikel erschien im Januar erstmals im Magazin der Universität Zürich

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