Populistische Wählende sind nicht grundsätzlich antidemokratisch eingestellt sind. Sie wünsche sich aber eine Demokratie, die stärker auf die direkte Umsetzung des Volkswillens ausgerichtet ist. Dies geht einher mit dem Wunsch nach einem «starken Führer». (Foto: Shutterstock).

Populismus ist längst mehr als ein Randphänomen in Europa. Die Europawahlen 2024 haben dies eindrücklich bewiesen: In mehreren Ländern verzeichneten rechtspopulistische Parteien historische Wahlerfolge. Doch was treibt die Anhängerinnen und Anhänger des Populismus an? Eine neue Studie des französischen Politikwissenschaftlers Kevin Arceneaux gibt überraschende Einblicke: Populisten lehnen Demokratie nicht ab – sie wollen sie nur anders gestaltet sehen.

Was verstehen Populisten unter Demokratie?   
Populismus wird oft als Gegensatz zur liberalen Demokratie angesehen. Dabei zeigt die Studie, die auf Daten aus Frankreich, Deutschland und Italien basiert, dass populistische Wählende nicht grundsätzlich antidemokratisch eingestellt sind. Vielmehr wünschen sie sich eine «stealth democracy», also eine Demokratie, die stärker auf die direkte Umsetzung des Volkswillens ausgerichtet ist. Dies geht einher mit dem Wunsch nach einem «starken Führer», der sich nicht von institutionellen Zwängen bremsen lässt, sondern die Interessen der «einfachen Leute» kompromisslos durchsetzt.

Diese Haltung ist nicht unbedingt autoritär. Sie entspringt vielmehr einer tiefen Frustration über die bestehenden demokratischen Institutionen, die von vielen als elitär und abgehoben wahrgenommen werden. Populisten wollen mehr Nähe zur Politik, aber weniger technokratische Entscheidungen, wie sie in der Europäischen Union oft getroffen werden. «Populismus ist eine logische Reaktion auf die Wahrnehmung, dass liberal-demokratische Institutionen die Interessen der Mehrheit zugunsten von Eliten oder Minderheiten missachten», erklärt Arceneaux. Dieses Gefühl der Entfremdung von der etablierten Politik ist ein zentraler Treiber populistischer Einstellungen.

Die Wurzeln des Populismus: Relative Deprivation
Eine der spannendsten Erkenntnisse der Studie betrifft die Frage, warum Menschen populistische Parteien unterstützen. Es liegt nicht allein an absoluter sozialer oder wirtschaftlicher Benachteiligung. Vielmehr spielt das Gefühl eine Rolle, im Vergleich zu anderen Gruppen schlechter gestellt zu sein – ein Phänomen, das Psychologen als «relative deprivation» (relative Benachteiligung) bezeichnen.

Die Studie zeigt, dass Populismus dann besonders attraktiv wird, wenn Menschen das Gefühl haben, dass ihnen oder ihrer Gruppe ein verdienter sozialer Status verwehrt werde. Diese Wahrnehmung wird durch die populistische Rhetorik verstärkt, die das Narrativ von «wir, die ehrlichen Bürger» gegen «sie, die korrupten Eliten» bedient. Gerade in wirtschaftlich angespannten Zeiten wird diese Dynamik oft auf Migranten projiziert, die als Konkurrenten um Arbeitsplätze und soziale Leistungen wahrgenommen werden.

Interessanterweise gibt es hierbei Unterschiede zwischen individueller und kollektiver Benachteiligung. Während die individuelle Ebene die persönliche Wahrnehmung betrifft, etwa das eigene Einkommen im Vergleich zu anderen, bezieht sich die kollektive Ebene auf die soziale Gruppe, der man sich zugehörig fühlt. Beide Formen der Deprivation fördern populistische Einstellungen, doch besonders die kollektive Ebene scheint den Wunsch nach einem starken Führer zu befeuern, der die vermeintlichen Ungerechtigkeiten für die eigene Gruppe ausgleicht.

Demokratie oder Wirtschaftswachstum?
Ein weiterer zentraler Befund der Studie ist die Bereitschaft vieler populistischer Wählender, demokratische Prinzipien für wirtschaftliches Wachstum zu opfern. Dies mag auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen: Warum würden Menschen, die unzufrieden mit der Demokratie sind, dennoch an populistischen Parteien festhalten, die sich oft als demokratisch legitimiert präsentieren? Arceneaux erklärt dies mit der Priorisierung von kurzfristigem wirtschaftlichem Erfolg über die langfristige Stabilität demokratischer Institutionen.

«Populisten sind nicht gegen Demokratie», betont der Forscher, «sie wollen eine Demokratie, die effizienter ist und ihre Bedürfnisse direkt adressiert.» Der Ruf nach einem starken Führer ist daher weniger ein Ausdruck von Autoritarismus, als vielmehr der Wunsch nach einer effektiveren Form von Demokratie – wenn auch auf Kosten liberaler Grundprinzipien wie Gewaltenteilung oder Minderheitenschutz.

Populismus: Gefahr oder Korrektiv?
Die Ergebnisse der Studie werfen ein differenziertes Licht auf den Populismus. Während viele Politiker und Beobachter ihn als Bedrohung für die Demokratie darstellen, zeigt Arceneaux, dass populistische Wählende nicht unbedingt eine Abkehr von demokratischen Prinzipien fordern. Vielmehr kritisieren sie die Art und Weise, wie Demokratie derzeit funktioniert – und dies nicht ganz zu Unrecht. Die technokratische Politik, insbesondere auf EU-Ebene, erscheint vielen Bürgerinnen und Bürgern als unnahbar und wenig transparent. Populistische Parteien füllen diese Lücke, indem sie einfache Lösungen und die Rückkehr zu nationaler Souveränität versprechen.

Doch die Frage bleibt: Kann eine Demokratie, die sich stärker an populistischen Vorstellungen orientiert, langfristig bestehen? Arceneaux warnt davor, die Wünsche von Populisten als irrational oder uninformiert abzutun. Sie spiegeln reale Probleme wider wie die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit und die Frustration über eine entkoppelte politische Elite. Gleichzeitig birgt der populistische Wunsch nach einem starken Führer die Gefahr, dass demokratische Institutionen geschwächt werden und autokratische Tendenzen zunehmen.

Die Anhängerinnen und Anhänger des Populismus fordern keine Abschaffung der Demokratie, sondern eine Transformation hin zu einer Politik, die direkter und volksnäher ist. Ob dies eine Chance für die Demokratie oder eine Gefahr darstellt, wird davon abhängen, wie die etablierten Parteien auf diese Forderungen reagieren.

Eine Antwort darauf zu finden, ist essenziell – nicht nur für die Demokratie, sondern auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa. Denn eines zeigt die Studie deutlich: Populismus ist keine vorübergehende Erscheinung, sondern eine Herausforderung, die die politische Landschaft nachhaltig prägen wird.

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