Wie Jugendliche heute mit den sozialen Medien umgehen – und was sich in nur acht Jahren verändert hat
Sechs Trends im Umgang mit Fake News, Cybermobbing, Datenschutz, Recht, Facebook, Instagram, WhatsApp und neuen Plattformen.
Am Anfang stand eine einfache Frage: «Bist du nicht auf Facebook?», wollte der Prorektor eines Zürcher Gymnasiums im Herbst 2011 von Robin Leins wissen. Der Pädagoge plante eine Projektwoche zum Thema Medienkompetenz und wusste, dass er die digitalen Medien «irgendwie» miteinbeziehen sollte. Im Jahr 2011 – in der Steinzeit von Social Media – fand er kaum Lehrpersonen, die sich in diesen Themen auskannten. So durfte Leins, damals junger Student und Facebook-Marketing-Manager, erstmals einen zweitägigen Workshop zum Umgang mit Social Media durchführen. 2014 gründete Leins zusammen mit der Juristin Sarah Zurmühle medienkurs.ch. Dieser Basiskurs wurde inzwischen mit mehr als 30 Schulklassen durchgeführt und durch Angebote für Lehrpersonen und Eltern ergänzt.
Für influence analysieren Leins und Zurmühle, wie sich der Umgang der Jugendlichen mit den sozialen Medien in den letzten acht Jahren verändert hat:
1. Es gibt eine starke Diversifizierung und Parallelnutzung der Plattformen
Das wohl bis heute bekannteste soziale Network, Facebook, wurde im Jahr 2004 gegründet. Es entwickelte sich quasi über Nacht zum Welterfolg. Ökonomen sprachen von einem fast unüberwindbaren Lock-In-Effekt: Wer sich online mit seinen Freunden austauschen wollte, hatte kaum eine Alternative zum grössten sozialen Netzwerk. Auch als weitere Plattformen wie Pilze aus dem Boden zu schiessen begannen – darunter Flickr (2004), YouTube (2005), Twitter (2006), etwas später die Nachzügler Google+ (2011) und Pinterest (2012) – behielt Facebook seine Vormachtstellung. In unseren ersten Kursen drehte sich damit noch alles um den ehemaligen Platzhirsch, bei dem rund 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler aktiv waren. Die restlichen 10 Prozent nutzten gar keine sozialen Netzwerke. Heute, rund 8 Jahre später, ist die Generation Facebook erwachsen geworden. Unter heutigen Jugendlichen ist der ehemalige Spitzenreiter kaum mehr ein Thema: Vielmehr gilt Facebook inzwischen als altbacken. Durch die Vielzahl neuer Angebote hat eine starke Diversifikation der sozialen Netzwerke stattgefunden, wobei sich die Jugendlichen vielfach auf mehreren Plattformen parallel bewegen:
Durch die starke Diversifikation und Spezialisierung der Plattformen wurde Facebook auf eine Weise verdrängt, die man vor einigen Jahren noch nicht für möglich gehalten hätte.
2. Fake News – schwierige Beurteilung von Informationen
Soziale Netzwerke sind für viele Jugendliche zu einer zentralen Informationsquelle geworden. Zwar stammen die meisten Informationen von den Onlineportalen der klassischen Medien, doch werden diese auf sozialen Netzwerken gelesen, geteilt und kommentiert. Im Netz ist es jedoch für viele Jugendliche eine Herausforderung, den Wahrheitsgehalt der gelesenen Medieninhalte zu beurteilen. Trotz zunehmenden Drucks haben es die grossen Plattformen noch nicht geschafft, Falschnachrichten zuverlässig einzudämmen. Gleichzeitig werden auch seriöse Nachrichten oft als «Fake News» bezeichnet, wenn sie nicht dem eigenen Weltbild entsprechen. Umso wichtiger ist es, Jugendlichen konkrete Strategien zur Beurteilung von Informationen anzubieten.
3. Trennung von analog und digital löst sich im Alltag auf
In früheren Jahren unterschieden Schülerinnen und Schüler noch stark zwischen der digitalen und der «echten» Welt. Während die trennscharfe Unterscheidung zwischen digital und analog bei vielen Erwachsenen weiterhin verankert ist, hat sie sich bei Jugendlichen bereits weitgehend aufgelöst. Freundschaften, Liebe, Sexualität, Konsum und Freizeitaktivitäten, aber auch immer mehr Schulstunden enthalten eine digitale Komponente, welche sich zu einer kombinierten Erfahrung vermischt. Rein analoge Tätigkeiten sind in der Lebenswelt der Jugendlichen – wie auch vieler Erwachsener – selten geworden.
Damit sind frühere Strategien der klassischen Medienprävention obsolet geworden: Dazu gehört etwa das Gebot, im Internet möglichst wenig von sich preiszugeben und niemandem zu vertrauen. Solche Empfehlungen sind in der digital eingebetteten Lebenswelt der Jugendlichen schlicht nicht mehr realistisch.
4. Das Basiswissen der Jugendlichen hat sich verbessert
«Was ist eigentlich dieses Liken?» Ja, diese Frage wurde uns von Seiten Lehrer- und Schülerschaft vor allem zu Beginn unserer Arbeit mehrfach gestellt. Tatsächlich bestanden Kurse zu Beginn noch mehrheitlich aus technischer Unterweisung: Wo befinden sich die Privatsphäre-Einstellungen? Wie lösche ich einen Account? Heute wissen die Schülerinnen und Schüler genau, wie sie «ihr» Snap, Insta und TikTok zu bedienen haben und mit wem sie welchen Content teilen. Im Vergleich zu früheren Jahren ist das Bewusstsein für Themen wie Datenschutz, Cybermobbing und sexuelle Belästigung im Internet gestiegen. Dies erlaubt uns heute, auf höherem Niveau über Themen wie Selbstinszenierung, Umgang mit Mobbing und über rechtliche Themen zu diskutieren.
5. Das Recht als grosse Unbekannte
Angesichts der rechtlichen Risiken im Netz behandeln wir auch die rechtlichen Grundlagen zur Nutzung von Social Media eingehend: Welche Inhalte dürfen gepostet, geteilt oder heruntergeladen werden? Wie wehrt man sich gegen unerwünschte Nachrichten, Drohungen oder sexuelle Belästigung? Bei diesen Themen beobachten wir regelmässig, dass das Interesse an den rechtlichen Themen sehr gross, das entsprechende Vorwissen jedoch äusserst bescheiden ist: Die Jugendlichen wissen kaum, was im Netz erlaubt ist und was nicht. Die Kombination von Interesse und Unwissen fördert die Verbreitung von Legenden. So glauben fast alle Jugendlichen, dass sie fremde Bilder verbreiten dürfen, solange sie die jeweilige Quelle angeben. Selbst diese Einschränkung wird im Alltag jedoch aus praktischen Gründen kaum berücksichtigt («wer gibt schon die Quelle an?»). Eine wichtige Botschaft des Kurses ist folglich, dass grundsätzlich sowohl der Urheber als auch die abgebildete Person mit der Verbreitung eines Bildes einverstanden sein müssen.
Viele Unklarheiten bestehen weiterhin zur Legalität von Up- und Downloaddiensten und um die Nutzung von Streamingangeboten. Sind wir einmal in die rechtlichen Fragen eingestiegen, stellen die Schülerinnen und Schüler immer sehr engagiert Fragen: «Was ist Ihre Meinung dazu, dass sich jemand durch Liken, Kommentieren und Sharen wohlmöglich strafbar macht?» Um den interessierten Fragen der Schülerinnen und Schüler versiert begegnen zu können, wird jeder Kurs durch eine juristisch fachkundige Person mitgeleitet.
6. Die Risikobereitschaft der Jugendlichen hat zugenommen
Im Vergleich zu den früheren Jahren sind Jugendliche heute eher bereit, persönliche Inhalte auf sozialen Medien zu teilen. Diese Entwicklung ist insofern erstaunlich, als dass sich die Schülerinnen und Schüler der Sichtbarkeit des Geteilten durchaus bewusst sind. Sie kennen die typischen Lehrbuchfälle von Amanda Todd (Suizid nach Cybermobbing), dem Migros-Ice-Tea-Video (Ex-Freund veröffentlicht privates pornografisches Video von Schülerin im Netz) und den rechtsradikalen Twitter-Posts. Mit dem technischen Wissen und der vermehrten Präsenz trauen sich Teenager jedoch auch mehr zu experimentieren, sich spielerisch auszudrücken und gerade während der Pubertät auch zu provozieren. So begegnet den Jugendlichen auch Sexting – das private Verbreiten erotischer Inhalte und Nachrichten über Online-Dienste und Mobiltelefone – zunehmend früher. Viele unserer Schülerinnen und Schüler geben an, schon einmal erotisches Bildmaterial erhalten zu haben. Einige geben zu, bereits selbst erotische Bilder verschickt zu haben. Eltern reagieren, mit dem legeren Umgang Jugendlicher auf Online-Diensten konfrontiert, oftmals mit Verboten und verschärften Kontrollen. Diese sind als reaktive Massnahme zwar wirkungsvoll, fördern aber keinesfalls einen eigenverantwortlichen Umgang Jugendlicher mit Technik und sozialen Medien. Vielmehr sollten ein selbstreflektiertes Verhalten unterstützt und eigene Strategien mit den Jugendlichen entwickelt werden.
Sarah Zurmühle arbeitet als Gerichtsschreiberin und doktoriert im Bereich IT- und Immaterialgüterrecht an der Universität Zürich, wo sie Grundlagenforschung zu Softwareentwicklung und deren urheber- und patentrechtlicher Erfassung betreibt. Sie ist ausgebildete Mediatorin und arbeitet nach acht Jahren Amtstätigkeit in der Schulpflege zusätzlich im Bereich Medienkunde und Umgang mit Konflikten im Raum Schule, der Behörde und in der Wirtschaft.
Robin Leins befasste sich im Rahmen seines Masterstudiums «Geschichte und Philosophie des Wissens» an der ETH Zürich mit Technikgeschichte und Social Media. Er arbeitet heute als Unternehmensberater mit Schwerpunkt auf Organisationsentwicklung.
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