«Die Zersplitterung ist viel grösser»

Der neue Gewerbeverbandsdirektor Urs Furrer zu den gestiegenen Anforderungen an die «klassischen» Verbände im 21. Jahrhundert.

Urs Furrer (51) ist ein erfahrener Verbandsleiter. Bevor er diesen Mai zum Schweizerischen Gewerbeverband wechselt, war er zehn Jahre Direktor von Chocosuisse und Biscosuisse. (Foto: zvg)

Urs Furrer, was ist für Sie Macht*?
Urs Furrer: Macht ist ein Instrument, um etwas zu bewirken und um Ziele zu erreichen.

Sind Sie als Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes SGV ein mächtiger Mann, der über die nötigen Instrumente zum Erreichen der Ziele verfügt?
Furrer: Mit dem Amt sind mir Stellhebel in die Hände gegeben worden, zusammen mit der Aufgabe, die Ziele des SGV zu erreichen. Das heisst: für gute Rahmenbedingungen für unser Gewerbe und unsere KMU zu sorgen. Wird jemandem «Macht» übergeben – ich setze das bewusst in Anführungszeichen –, dann bringt dies auch Verantwortung mit sich.

Haben Sie mit dem Wechsel von Chocosuisse zum Gewerbeverband an Macht gewonnen?
Furrer: Der Schweizerische Gewerbeverband ist der grösste Wirtschaftsdachverband der Schweiz. Selbstverständlich ist seine Bedeutung grösser als diejenige eines Branchenverbandes. Damit ist auch die Macht grösser, etwas zu bewirken. Und zwar für die ganze Wirtschaft, nicht nur für eine Branche, was ein Unterschied ist.

Sie waren unter anderem für den Wirtschaftsdachverband Economiesuisse tätig. Es heisst, die Macht der Wirtschaftsverbände habe abgenommen – sehen Sie das auch so?
Furrer: Wir leben in anderen Zeiten als noch vor 50 Jahren, das gilt für alle Verbände in der Schweiz. Heutzutage sind die Zersplitterung und Diversität der Interessengruppen deutlich grösser. Für die «klassischen» Verbände ist das eine Herausforderung. Sie müssen immer wieder aufzeigen, wie wichtig es ist, Mitglied zu sein und sie zu unterstützen in ihrem Einsatz für das grosse Ganze.

Gelingt das den Verbänden?
Furrer: Die Herausforderung ist grösser geworden. Wenn ich aber die Repräsentativität des Schweizerischen Gewerbeverbandes anschaue, so stelle ich fest, dass wir mit den rund 230 Branchenverbänden und den kantonalen Gewerbeverbänden heute sehr breit abgestützt sind. Dieses breit abgestützte, föderalistische System bietet uns gute Voraussetzungen, um diese Notwendigkeit auf allen Ebenen immer wieder aufzuzeigen. Nicht nur Top-down vom schweizerischen Verband aus, sondern auch von den kantonalen Gewerbeverbänden und kommunalen Gewerbevereinen.

Haben es andere Verbände dabei schwieriger?
Furrer: Wie gut ein Verband potenzielle Mitglieder davon überzeugen kann, sich ihm anzuschliessen, hängt auch von seiner Wahrnehmung in der Öffentlichkeit ab. Der Bauernverband wird beispielsweise als mächtig wahrgenommen, und er vertritt einen Bereich, der als typisch für die Schweiz angesehen wird, zu dem viele Menschen einen Bezug haben. Dasselbe gilt auch für das Gewerbe.

Bei Grosskonzernen aber, die von Economiesuisse vertreten werden, ist es schwieriger?
Furrer: Sicher ist es herausfordernder, wenn man den Teil der Wirtschaft vertritt, der zumindest in der Wahrnehmung von aussen in der Gesellschaft weniger stark verankert ist.

Sehen Sie eine zunehmende Entfremdung, eine immer breiter werdende Kluft zwischen Wirtschaft und Bevölkerung?
Furrer: Ja, ich teile diese Beobachtung mit vielen anderen, würde aber nicht verallgemeinern. In einem bestimmten Teil der Wirtschaft ist es in der letzten Zeit zu Vorfällen gekommen, die in der Gesellschaft nicht gut angekommen sind.

Sprechen Sie etwa das 14-Millionen-Salär von UBS-Chef Giorgio Ermotti an?
Furrer: Ich möchte es nicht an einzelnen Personen oder Salären festmachen. Aber ich denke beispielsweise an die Rettung der Grossbank CS, die breiten Teilen der Bevölkerung das Gefühl gibt: Denen wird mit viel Geld geholfen, und ich komme zu kurz.

Was dazu beigetragen hat, dass auch viele Gewerbetreibende die 13. AHV-Rente angenommen haben?
Furrer: Sicher hat die breite Zustimmung im Nachhinein viele überrascht. Da hatten nicht nur die Verbände die Situation falsch beurteilt. Das Parlament hielt einen Gegenvorschlag für unnötig. Das zeigt, dass die Politik die Signale offenbar auch nicht wahrgenommen hatte.

Nicht nur die Verbände, auch die Politik entfremdet sich vom Volk?
Furrer: Bei der 13. AHV-Revision war es mit Sicherheit so: Die Politik hat die Stimmung im Volk falsch eingeschätzt.

Ist es generell schwieriger als früher, die Interessen der Wirtschaft zu vertreten?
Furrer: Angesichts der Vielzahl von Interessenvertretern ist es anspruchsvoller geworden. Das liegt an den vielen unterschiedlichen Gruppierungen, die in den letzten Jahrzehnten dazu gekommen sind.

Im Parlament oder in der Bevölkerung?
Furrer: Sowohl als auch.

Könnte es auch daran liegen, dass die globalisierte Welt mit den sozialen Medien, der zunehmenden Personalisierung der Politik und der damit einhergehenden steigenden Hektik komplexer geworden ist?
Furrer: Absolut. Aber auch die einzelnen Themen sind sehr viel komplexer geworden. Es gibt heute mehr technische Themen wie zum Beispiel internationale Handelsverträge oder komplizierte Zollbestimmungen, die grosse Auswirkungen haben können. Umso wichtiger sind glaubwürdige Absender im politischen Prozess, die diese Themen den Entscheidungstragenden – sei es nun das Parlament oder die Bevölkerung – erklären können. Die in der Lage sind, verständlich aufzuzeigen, worum es geht und was die Folgen der Entscheide sind.

Kann das der Gewerbeverband? Wie sehen Sie das nach knapp zwei Monaten als Direktor?
Furrer: Ich bin sehr zuversichtlich, nachdem ich quer durch die Schweiz getourt bin und viele Mitgliederorganisationen kennengelernt habe. Dabei habe ich festgestellt, wie stark verankert die Vertretenden der SGV-Mitgliederorganisationen in der Gesellschaft sind. Das stimmt mich sehr optimistisch. Denn sie sind glaubwürdige Absenderinnen und Absender. Das gilt auch für den politischen Prozess.

Welches ist für Ihren Verband der grösste anstehende Brocken in diesem Prozess?
Furrer: Die Abstimmung über die Nationalstrassen im November, bei der der Gewerbeverband den Lead hat. Die Engpässe bei den Nationalstrassen zu beseitigen, ist ganz wichtig für die Schweiz. Die Autobahnen machen nur knapp drei Prozent des Strassennetzes aus, aber mehr als 40 Prozent des Verkehrsvolumens werden über sie abgewickelt. Beim Güterverkehr, der für das Gewerbe besonders wichtig ist, sind es gar knapp 70 Prozent. Eine funktionierende Verkehrsinfrastruktur ist für die Wirtschaft systemrelevant. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir die Engpässe beseitigen können, auch als Signal für weitere Infrastrukturprojekte. Damit die Schweiz nicht stehen bleibt.

Im öV kann von Stehenbleiben nicht die Rede sein, da sind für viele Milliarden Ausbauprojekte in der Pipeline. Nur die Strasse hat es angesichts des Klimawandels schwer.
Furrer: Ich würde nicht die Schiene gegen die Strasse ausspielen. Auch E-Autos brauchen Strassen. Und bei der Abstimmung geht es weniger um den Ausbau als um die Beseitigung von Engpässen. Selbstverständlich gibt es im öV ebenfalls einen Investitionsbedarf. Das Gute ist: Wird bei der Strasse gebaut, so geschieht das nicht in Konkurrenz zum öV, sondern als Ergänzung dazu. Auch die Finanzierung erfolgt separat: Bei der Strasse ist es der Nationalstrassenfonds NAF, im öV der Bahninfrastrukturfonds BIF.

Wie absolvieren Sie Ihre Tour de Suisse als frischgebackener SGV-Direktor: im Zug oder auf der Autobahn?
Furrer: Meist bin ich im Zug unterwegs, benutze aber beide. Ich nehme täglich das Auto, um zur Bahn zu gelangen. Wenn ich in eine abgelegene Gegend oder zu einem Anlass fahre, bei dem es sehr spät wird, nehme ich das Auto.

Wie sieht Ihr typischer Arbeitstag aus: Sind Sie ständig auf Achse?
Furrer: Mir ist wichtig, die Mitglieder kennenzulernen, deshalb bin ich häufig unterwegs. Ebenso wichtig ist mir, dass ich mich den rund zwei Dutzend Mitarbeitenden in der Geschäftsstelle widmen kann. Ich habe ein Team übernommen und ergänzt. Nun geht es darum, es so zu formen, dass die einzelnen Mitglieder die volle Schlagkraft in ihren Dossiers entfalten und gemeinsam für gute Rahmenbedingungen für unsere KMUs in der Schweiz wirken können.

Ist Ihr Job im Vergleich zum «Schoggijob» bei Chocosuisse anspruchsvoller geworden?
Furrer: Ein Job in der Schokoladebranche besteht nicht nur aus Zuckerschlecken, auch da muss man ab und zu eine harte Nuss knacken. Die Arbeit in Verbänden und mit politischen Entscheidungstragenden ist mir seit zwei Jahrzehnten vertraut. Beim SGV als komplexem Verband kann ich meine Erfahrung gut einbringen.

Wer darf Ihnen privat widersprechen?
Furrer: Natürlich meine Partnerin. (kurze Pause) Aber eigentlich alle, die einen guten Grund dafür haben, denn: Fortschritt lebt von Widerspruch.

Wie verbringen Sie die Freizeit: Mit dem Giessen von Schoggifiguren?
Furrer: Die Schoggi esse ich lieber. In der Freizeit versuche ich, mein Bewegungsmanko an der frischen Luft zu kompensieren. Ich mag alles, was draussen stattfindet: Joggen, Velofahren, Wandern, Segeln – im Winter Langlaufen und Skifahren.

Urs Furrer (51) ist im Zürcher Oberland und im Toggenburg aufgewachsen. Er hat in St. Gallen Recht studiert. Nach Erlangen des Anwaltspatents arbeitete er unter anderem für die Beratungsfirma KPMG und den Wirtschaftsdachverband Economiesuisse. Zehn Jahre lang leitete er die Verbände Chocosuisse und Biscosuisse, seit Mai 2024 ist er Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbandes (SGV). Furrer ist Mitglied der FDP und wohnt mit seiner Partnerin in Obersiggenthal AG.

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