Wer in einem Krieg wie in der Ukraine ein Kommunikationssystem zur Verfügung hat, das schnelle Übermittelung von Zielkoordinaten zulässt, hat einen Vorteil gegenüber den gegnerischen Streitkräfte. (Foto: Shutterstock)

Wenn die US-Armee einen Artillerieangriff befiehlt, vergeht von der Übermittlung der Zielkoordinaten bis zum Abschuss des Geschützes eine ganze Stunde. Die ukrainischen Streitkräfte haben im Krieg gegen die russischen Invasoren diese Reaktionszeit inzwischen auf 30 Sekunden heruntergeschraubt. Das bedeutet: Wird ein Ziel definiert, können innerhalb dieser kurzen Zeit schon erste Schläge erfolgen. Dazu noch aus verschiedenen Stellungen gleichzeitig, was für die Russen ein ziemliches Problem darstellt. Denn für ein Artillerie-Gegenfeuer bräuchten sie schnellstmöglich ein genaues Ziel und eine klare Priorität, wo der Gegenschlag zu erfolgen hat.

Die Reaktionszeit ihrer Truppen derart zu senken, dieses Kunststück gelang den Ukrainern vor allem durch eine smarte und unorthodoxe Kombination bestehender Technologien. Genauso, wie dies an dieser Stelle in den Überlegungen der beiden schwedischen Offiziere Michael Claesson und Zebulon Carlander zum Ausdruck kam. Beide hatten für die Verteidigung ihres Heimatlandes und generell von Kleinstaaten die Integration neuer Technologien analysiert. Dieses Beispiel kann, losgelöst vom militärischen Konflikt, auch als Lehrstück für andere Wirtschaftsbereiche gelten. Denn es zeigt, wie Innovation möglich wird: Es braucht einerseits Leute, die Technologie grundlegend verstehen. Andererseits braucht es auch den Willen, sich von kurzfristigen Rückschlägen nicht abschrecken zu lassen. Improvisationstalent ist eine weitere kritische Notwendigkeit.

Ziele und Geschütze werden verknüpft wie Uber-Fahrer und Kunden

Als erstes benötigten die Ukrainer eine schnelle Software, die Ziele auf einer elektronischen Karte dem bestgelegenen Geschütz zuteilen kann, wie der in Chicago lebende, ehemalige zivilie Mitarbeiter des US-Department of Defence, Trent Telenko, auf Twitter zusammenfasste. Der Softwareentwickler Yaroslav Sherstyuk, ein Artillerieoffizier, entwickelte ein Programm namens ArtOS. Ähnlich wie die Systeme von Taxivermittlern von Uber und Lyft, kann dieses Programm eine Triage vornehmen. Es kommt offenbar gar nicht so stark darauf an, ob man Taxis mit wartenden Kunden oder Kanonen und potenzielle Ziel digital miteinander verbindet. Das Programm kann mit dem Smartphone verknüpft werden, so dass eine Artilleriebatterie, ein Raketenwerfer- oder Mörser-Kommandant, ein Drohnen-Pilot oder ein Kommando von Spezialkräften ganz schnell genaue Zielkoordinaten erhält.

Die Reaktionszeit ist essenziell, weil sie dazu führt, dass eigene Truppen schneller Feuerunterstützung erhalten oder Angriffe des Gegners gestoppt werden können. Zum Vergleich, was diese Reduktion bedeutet: Bei der US-Armee nahm die Reaktionszeit seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich zu: Waren es 1945 noch 5 Minuten, lag sie im Vietnamkrieg schon bei 15 Minuten. Wenn es bei den US-Streitkräften heute vom Befehl bis zum Feuer eine Stunde dauert, so hat das auch damit zu tun, dass Zielkoordinaten doppelt und dreifach von verschiedenen Stellen geprüft werden müssen. Inzwischen sind selbst Militärjuristen in einen solchen Prozess involviert, weil die USA Kollateralschäden möglichst ausschliessen wollen.

Zurück zu ArtOS, das inzwischen zu einem Multi-Profil-Befehl-Kontroll-System geworden ist, das auch Daten von Drohnen, Smartphones, Entfernungsmessern und kommerziellen Satellitenbildern verarbeiten kann. Die grösste Innovation besteht darin, dass das ukrainische Oberkommando mit einer guten Satelliten-Datenverbindung Ziele in der App an die nächstgelegenen Feuerunterstützungs-, Drohnen- oder Panzerabwehr-Teams im gesamten ukrainischen Kampfgebiet weiterleiten kann, ohne dass die lokalen Einheiten Hinweise auf nachrichtendienstliche Quellen und Methoden erhalten. Wichtig für die Entwicklung der App war die Erfahrung der ukrainischen Softwareentwickler mit der Anwendung von Geo-Informationssystemdaten. Offenbar, so weiss man inzwischen, überlassen selbst US-amerikanische Softwarefirmen solche Entwicklungen den Spezialisten in der Ukraine.

Russischer Cyberangriff zielt ins Leere

Was also unternahmen die Russen kurz vor dem Krieg, um die Ukrainer bezüglich Artillerie-Kampffähigkeit entscheidend zu schwächen? Sie griffen im Cyber-Space genau die wichtigsten Satelliten-Datenverbindung an. Zur Erinnerung: Am 24. Februar 2022, also genau am Tag 1 der russischen Invasion, funktionierten Zehntausende von KA-SAT Satelliten-Kommunikations-Terminals in mehreren europäischen Ländern plötzlich nicht mehr. Betroffen waren neben der Ukraine auch Deutschland, Griechenland, Ungarn und Polen. Das deutsche Unternehmen Enercon gab zu, dass etwa 5800 seiner Windturbinen, die vermutlich über eine SATCOM-Verbindung in Mitteleuropa ferngesteuert wurden, den Kontakt zu ihrem SCADA-Server verloren hatten. Doch auch dieser Schlag mit ziemlichen Kollateralschäden in unbeteiligten Ländern, brachte den Russen nicht den gewünschten Erfolg.

Denn kurz danach kam das Satelliten-Internet von Tesla-Chef Elon Musk ins Spiel. Es waren nur zwei Sätze des reichsten Menschen der Welt, deren Folgen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine nachhaltig beeinflussen sollten. «Der Starlink-Service ist jetzt aktiv in der Ukraine. Weitere Empfangsgeräte sind auf dem Weg», schrieb Musk am dritten Kriegstag auf Twitter. Das Starlink-Netzwerk verbreitet schnelles Internet aus dem All. Also auch dann, wenn Mobilfunk und lokale Internet-Zugänge ausfallen – oder eben von russischen Streitkräften ausgeschaltet oder zerstört wurden. Durch die Unterstützung von Musks Unternehmen SpaceX konnten ukrainische Zivilisten trotz Besatzung Kontakt mit der Aussenwelt aufnehmen.

Mit der Verfügbarkeit von Starlink konnten die Ukrainer die Satelliten-Datenverbindungen wieder aufbauen, um ArtOS weiter zu nutzen. Eine entsprechende Anpassung des Systems konnten die Entwickler offenbar in kürzester Zeit vornehmen – mit verheerenden Folgen für die russischen Streitkräfte.

«Wir brauchen einen Wettbewerb der Ideen»

Der neue Avenir-Suisse-Direktor Peter Grünenfelder über die Schweiz, ihre Erfolgsfaktoren und Provokationen. Sein erstes Gespräch.

«Wer weiss, woher er kommt, kann mit Erfolg umgehen»

Ski-Weltmeister Michael von Grünigen über Schweizer Sternstunde an der WM, die Probleme im Nachwuchs und die Folgen des Klimawandels.

«Putin will die Einheit der EU aufbrechen»

Weltraumforscherin Salome Gruchola erklärt, wie sie ein Instrument baut, um Leben im All nachzuweisen.

Was ist der Schweizer Finanzplatz noch wert?

Die Schlagzeilen über den Niedergang des Schweizer Finanzplatzes mehren sich geradezu inflationär. Ist der Abgesang auch gerechtfertigt? 10 Fakten.

Carla Del Ponte und ihr Einsatz für die Opfer von Kriegen und Gewalt

Das Buch erklärt, warum sie sich im Sommer 2017 als UNO-Sonderberichterstatterin in Syrien zurückzog.

«Die Diskussion ist unglaublich konservativ»

Medienprofessor Manuel Puppis erklärt, warum die SRG im digitalen Zeitalter mehr Geld bekommen sollte.

«Wir haben nun mal keine militärische politische Struktur»

Michael Jordi, Generalsekretär der Gesundheitsdirektoren, erklärt, was die Schweiz in der Pandemie gut und was sie weniger gut gemacht hat – und warum er jetzt noch mehr zu tun hat als auf dem Höhepunkt der Krise.

Medien im radikalen Wandel

Die Schweizer Medienlandschaft am Scheideweg – zwischen wirtschaftlichem Druck, digitaler Transformation und Künstlicher Intelligenz.

Schweiz als Vorreiterin in der KI: Warum hier die Zukunft entsteht

Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft soll Vertrauen in die Technologie und ihre Regulierung stärken.