«In den nächsten vier Jahren wird man in den USA wenig erreichen»

US-Kenner Martin Naville zu den Auswirkungen des Wahlkampfs Clinton-Trump auf die Zukunft.

Der US-Wahlkampf zwischen Hillary Clinton und Donald Trump wird als einer der härtesten und negativsten in die Geschichte eingehen. Was bedeutet das für die neue Präsidentschaft?
Alle vier Jahre ist das Fazit dasselbe: Das war der schlimmste US-Wahlkampf, den es je gegeben hat. Das wurde schon vor 200 Jahren gesagt. Deshalb sollte man all die alarmistischen Analysen etwas relativieren. Am Schluss stehen sich bei Wahlen in den USA – egal ob auf nationaler oder auf regionaler Ebene – immer zwei Kandidaten gegenüber, die unbedingt gewinnen wollen und sich deswegen bekämpfen. Man weiss, dass es «dreckig» wird.

Es wurde 2016 aber massiv gelogen.
Auch das ist nichts Neues. Was mich weit mehr erstaunt, ist die Tatsache, dass es sowohl auf republikanischer als auch auf demokratischer Seite Kräfte gibt, die komplett gegen das Establishment und sämtliche Erwartungen sind: Die Tea Party und nun Trump auf der einen Seite, Bernie Sanders auf der anderen.

Was bedeutet das für die nächsten vier Jahre?
Diese extremen Kräfte werden nicht wieder verschwinden. Da sie Millionen von Anhängern haben, werden sie keinerlei Konzessionen gegenüber der demokratischen oder republikanischen Partei eingehen. Denn diese Aushängeschilder haben eine Mission. Sie sind gegen die herrschenden Zustände, gegen die vermeintliche Korruption und haben versprochen, in Washington aufzuräumen.

Wie konnte es soweit kommen?
Es gibt tatsächlich Millionen von Amerikanern, die das Gefühl haben, sie gehörten zu den Globalisierungsverlierern und seien von der politischen und wirtschaftlichen Elite betrogen worden. Entsprechend sind sie frustriert und enttäuscht über diese Institutionen.

Und das in einer der ältesten Demokratien und der grössten Volkswirtschaft der Welt. Erstaunt Sie das nicht?
Das ist leider ein Zeichen der Zeit. Viele Demokratien haben zunehmend ein Glaubwürdigkeitsproblem. Spanien brauchte ein Jahr, bis es wieder eine funktionsfähige Regierung hatte. In Italien hat der Clown und Kabarettist Pepe Grillo die Partei MoVimento 5 Stelle gegründet. In Baden-Württemberg, der reichsten Region Deutschlands, hat es eine AfD ohne Parteiprogramm auf Anhieb auf 15 Prozent gebracht. In Grossbritannien lachte man vor fünf Jahren über Nigel Farage und seine UKIP, jetzt ist der Brexit Realität. Marine Le Pen ist in Frankreich eine realistische Präsidentschaftskandidatin. Wir haben die Wahren Finnen in Finnland, Geert Wilders in den Niederlanden… Überall, wo man hinschaut, nimmt die Zahl der Unzufriedenen zu. Die liberalen, demokratischen Errungenschaften erleiden Rückschläge.

Was sich in den USA abspielt, ist also ein Trend, der die Probleme der Demokratien spiegelt.
Ja, es handelt sich um ein Verständnisproblem, das sich im US-Wahlkampf besonders deutlich manifestiert hat. Für die neue Präsidentschaft ist dies eine grosse Herausforderung, weil sie nun nicht mehr zwei, sondern vier politischen Strömungen ausgesetzt ist. Die Demokraten und die Republikaner werden in den nächsten Jahren beide einen Richtungskampf austragen müssen, was bedeutet, dass man in den USA in den nächsten vier Jahren wenig erreichen wird.

Was bedeutet das für die Demokratie ganz allgemein?
Wie gesagt, dieser Trend ist leider in allen westlichen Demokratien zu beobachten. Immerhin funktioniert in den USA die Teilung der Macht zwischen Exekutive, Legislative und Judikative hervorragend. Diese Trennung ist in den wenigsten Ländern dieser Welt derart ausgeprägt. Fast immer gehören die Legislative und die Exekutive automatisch derselben Partei an, nicht so in den USA.

Und die Schweiz?
In der Schweiz ist die Trennung der Macht ebenfalls sakrosankt, ausser dass es hierzulande keine Verfassungsgerichtsbarkeit gibt, so dass die hiesigen Gerichte eine weniger zentrale Rolle spielen als in den USA. Ich gehe davon aus, dass man in der Schweiz wie in den USA grössere Demokratie-Unfälle verhindern kann. Diese Systeme sind extrem stabil und resistent. Mir bereiten jedoch jene Demokratien Sorgen, in denen die Gewalten nicht derart klar getrennt sind. Das spült plötzlich charismatische, aber inhaltsleere Figuren und Parteien ins Rampenlicht. Doch das ist gefährlich, denn in einer Demokratie geht es immer um Inhalte.

Die demokratische Tradition ist in den USA und der Schweiz stark verwurzelt. Die Schweiz liess sich 1848 von den USA inspirieren…
… und die USA vom Schweizer Föderalismus. Das beruht auf Gegenseitigkeit.

Deshalb nennt man sie auch Schwesterrepubliken. Zählt das heute noch?
Für die Grundwerte ist diese historische und institutionelle Nähe sicher wichtig. In den politischen und wirtschaftlichen Alltagsbeziehungen spielt das keine Rolle.

Weshalb?
Aus der Sicht von Washington ist die Schweiz klein und geopolitisch unbedeutend. Sie hat die Grösse von New Jersey. Wir kennen zwar die weltoffenen, globalen Metropolen New York und San Francisco, doch die USA sind politisch und wirtschaftlich sehr auf sich konzentriert. Es ist wohl das binnenpolitischste und binnenwirtschaftlichste Land der Welt. Im Wahlkampf kommt die Aussenpolitik kaum vor.

Wovon kann sich die Schweiz von den USA inspirieren lassen?
Von der Flexibilität und von der Fehlertoleranz, vom Motto «Let’s try». Da sind wir Schweizer schon noch stark von der europäischen Kultur geprägt, alles abzuwägen und Fehler zu verhindern. Wir haben mit den USA viel gemeinsam: Punkto Innovationsstärke und Wettbewerbsfähigkeit sind die USA und die Schweiz top, entsprechend würde es Sinn machen, wir übernähmen das eine oder andere Erfolgsrezept der Amerikaner.

Sie sprechen von Fehlertoleranz. Der Bankenstreit mit den USA hat den Finanzplatz Schweiz etwas anderes gelehrt. Verfehlungen werden bestraft. Mehr noch: Die USA bringen als Weltpolizist ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen knallhart durch. 
Den Bankenstreit muss man relativieren. Hier ging es primär um einen innenpolitischen Machtkampf zwischen Präsident Obama und den Banken. Die grössten Bussen mussten die US-Banken zahlen. Die Schweizer Banken haben rund 3,7 Prozent aller Bussen bezahlt. Die Frage des Weltpolizisten ist eine andere. Jede Grossmacht will ihre Interessen durchsetzen. Das ist bei den Chinesen nicht anders als früher bei den Russen oder Franzosen. Die USA sind eine imperialistische Macht. Doch wenn ich die Wahl habe, mich zwischen Weltmächten zu entscheiden, dann fällt meine Wahl klar auf die USA.

Hierzulande und in Europa gibt es zahlreiche Skeptiker und Kritiker der USA. Weshalb?
Man kann das nicht verallgemeinern. Jene Leute, welche die USA kritisieren, haben primär die Extraterritorialität im Visier. Die USA wollen der Welt nicht ihre Regeln aufzwingen, sondern sagen den Unternehmen und den Menschen: Wenn ihr zu uns kommt, dann müsst ihr unsere Regeln befolgen. Wenn man einen Viertel der Wirtschaftskraft verkörpert, kann man das durchsetzen.

Wird sich dieser exterritoriale Ansatz auch im Freihandelsabkommen TTIP zwischen den USA und der EU durchsetzen?
Nein. Die Amerikaner werden Kompromisse eingehen müssen, weil die EU ebenfalls einen Viertel der Weltwirtschaft verkörpert. Das ist ein Geben und Nehmen. Stimmt der Vertrag für eine Seite nicht, wird er nicht ratifiziert.

Ist der TTIP nicht schon tot? Französische und deutsche Spitzenpolitiker haben das Ende der Verhandlungen bereits verkündet.
Das sind absurde, primär innenpolitisch motivierte Aussagen.

Weshalb?
Weil beide Seite, die USA wie die EU, dieses Freihandelsabkommen benötigen. Kommt hinzu, dass gemäss Eurobarometer 51 Prozent der Europäer hinter dem TTIP stehen, 34% sind dagegen, in den USA sind zwei Drittel dafür. Kommt kein TTIP zustande, dann werden die Chinesen ihre Regeln und Interessen im Welthandel durchsetzen. Und das erachte ich für die Europäer und die Amerikaner als die weniger gute Alternative, gerade im Hinblick auf den Schutz der Umwelt, der Konsumenten, der Arbeitgeber, des geistigen Eigentums und der Investitionen. Das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada CETA galt auch als tot und wurde dann eine Woche später doch noch unterzeichnet. Ich rechne fest damit, dass wir in drei bis vier Jahren das TTIP haben und die USA ein paar Kompromisse machen werden, so bei den umstrittenen Chlorhühnchen und den gentechnisch veränderten Organismen. Kommt hinzu, dass Grossbritannien als Folge des Brexit relativ schnell ein Abkommen mit den USA unterzeichnen dürfte, was den Druck auf die EU erhöht.

Freihandel und Globalisierung bringen aber auch Verlierer hervor, die dann die Protestparteien wählen.
Das stimmt. Trump ist eine Verkörperung dieses Phänomens. Die europäischen Staaten haben mehr für die Globalisierungsverlierer gemacht als in den USA, weswegen der Freihandel in Europa mehrheitlich als sinnvoll erachtet wird. Nimmt man Chlorhühner und GVO aus dem Vertragswerk, die in Europa besonders kritisiert werden, wird sich die Aufregung wieder legen.

Was heisst das für die Schweiz? Wir nehmen nicht an den Verhandlungen teil.
Im Idealfall können wir das TTIP mitunterzeichnen und ratifizieren, doch dann haben wir ein Problem mit der Landwirtschaft. Zum Glück gibt es das Freihandelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada, das den Spielraum zeigt. Die einzige Bestimmung, die für die hiesige Landwirtschaft negativ ist, betrifft die verarbeiteten Nahrungsmittel. Die europäischen Nahrungsmittelverarbeiter haben gegenüber den schweizerischen einen klaren Vorteil. In einem transatlantischen Freihandelsvertrag mit den USA erfolgt die Öffnung der Landwirtschaft automatisch. Das werden selbst die französischen Bauern akzeptieren, weil sie gegenüber den USA einen Handelsbilanzüberschuss von 16 Milliarden Dollar erzielen, ebenso die EU.

Die Schweizer haben im Grund zwei Optionen: Das TTIP akzeptieren oder verwerfen.

«Take it or leave it» – etwas anderes wird es nicht geben.  Auch die Vorstellung, dass die Schweiz oder die EFTA mit den USA ein separates Freihandelsabkommen aushandeln könnte, ist unrealistisch. Kommt hinzu, dass die Schweiz das einzige Land der Welt ist, das vor zehn Jahren ein solches Abkommen ausschlug.

Ist das TTIP die grösste Herausforderung in der Beziehung der Schweiz mit den USA?
Absolut. Die wirtschaftlichen Beziehungen sind hervorragend. Das Wachstum betrug in den letzten fünf Jahren 40 Prozent.

Weshalb?
Die US-Wirtschaft lief in den letzten acht Jahren gut. Zweitens kennen die Schweizer Unternehmen den amerikanischen Markt wie kaum ein anderes Land. Sie wissen, wie man richtig operiert, kennen die Konsumenten. Drittens wissen die Unternehmen, wie man in den USA Geld macht. Viertens ist die Schweizer Wirtschaft der sechstgrösste Direktinvestor in die USA. Und fünftens zahlen sich die hohe Präzision und die hohe Qualität der Produkte und Leistungen aus. Das kumulierte Wachstum der Schweizer Unternehmen in den USA betrug in den letzten 20 Jahren eineinhalbmal jenes der Bric-Staaten. China, Indien und Brasilien sind natürlich auch wichtig für die Schweizer Wirtschaft, aber man darf die Bedeutung der USA nicht vergessen. Das sind die wirklichen und wahren Erfolgsgeschichten – und nicht, dass die bösen Amerikaner die Schweizer Banken kaputt machen wollen. Denn das stimmt einfach nicht.

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