«Zunächst einmal müssen wir Europa zusammenhalten»
Der französische Nobelpreisträger Jean Tirole über die Zukunft Europas.
Der französische Ökonom Jean Tirole gewann 2014 den Nobelpreis für Wirtschaft. Er ist Präsident der Toulouse School of Economics (TSE), unter den Ökonomen hoch angesehen und setzt sich in seinem neusten Buch «Economics for the Common Good» auch mit der Entwicklung in Europa auseinander. Seine Ausführungen sind insofern von Interesse, als dass sich Europa seit der Finanz- und Wirtschaftskrise politisch wie wirtschaftlich nicht in bester Verfassung befindet und sich viele nach dem Brexit fragen, wie es weiter mit der europäischen Integration geht. In einem Gespräch mit EuroActiv setzt sich Jean Tirole mit diesen Fragen auseinander. Hier sind seine wichtigsten Aussagen zusammengefasst.
Natürlich gibt es die Vision eines idealen Europas als Föderation, ähnlich den USA. Ich denke jedoch, dass wir heutzutage leider nicht weiter kommen werden als bis zum Vertrag von Maastricht oder einem «verbesserten» Maastricht. Er ist alles andere als perfekt. Es gibt Umsetzungs- und Informationsprobleme, aber auch der undifferenzierte Einheitsansatz stösst an seine Grenzen. Er scheint eine sehr minimalistische Sichtweise auf Europa widerzuspiegeln. Wir könnten uns in Richtung eines integrierteren Europas aufmachen, das Risiken gemeinsam schultert: gemeinsame Schulden, ein gemeinsamer Haushalt, eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung, gemeinsame Einlagensicherung etc. Es gibt jedoch zentrifugale Kräfte. Damit meine ich nicht nur den Brexit. Zudem wollen viele Europäer ihre nationale Souveränität erhalten.
Wir können nicht alles haben: Souveränität und wirtschaftlichen Föderalismus. Eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung zum Beispiel könnte regionale Schocks abfedern. Das wäre eine gute Sache, ist jedoch nicht möglich, weil es in den Mitgliedsstaaten unterschiedliche Rechtsrahmen gibt, und die Länder wollen diese behalten. Man kann solche politischen Massnahmen nicht in Ländern ergreifen, in denen die Arbeitslosigkeit bei fünf Prozent liegt, während andere eine Quote von 25 Prozent aufweisen. Um den europäischen Traum wahr werden zu lassen, müssen wir erst verstehen, was eine Föderation eigentlich ist. Wir alle leben unter demselben Dach und halten uns an ähnliche Regeln. Die Idee eines föderalen Europas könnten wir neu anstossen.
Ich glaube nicht, dass «weniger» Europa eine Lösung ist. Wie alle Wirtschaftsexperten finde auch ich es schade, dass Grossbritannien sich für den EU-Austritt entschieden hat – und das unter dem Einfluss von Demagogie in Sachen Wirtschaft und Migration. Ich hoffe, dass Europa und das Vereinigte Königreich den Brexit noch irgendwie verhindern können. Im Bereich Forschung zum Beispiel ist Grossbritannien eine wirkliche Wissenschaftsmacht. Die Abwesenheit dieser Nation in den europäischen Forschungseinrichtungen wird sowohl für Grossbritannien als auch für den Rest der EU ein Rückschritt sein.
Zunächst einmal müssen wir Europa zusammenhalten. Dann wären weniger Sparauflagen und mehr Reformen angebracht. Südeuropas Problem ist die wirtschaftliche Glaubhaftigkeit. Diese kann man nur auf zwei Arten wiederherstellen: Sparmassnahmen und Reformen. Ich persönlich glaube, es ist besser, Reformen umzusetzen, um die Zukunft zu sichern. Sparpolitik könnte den Wirtschaftsmotor komplett zum Erliegen bringen und sich negativ auf die Zukunftsperspektiven auswirken.
Die Bankenunion ist ein exzellentes Vorhaben. Wir wissen jedoch noch nicht, ob sie wirklich funktionieren wird und ob die Unabhängigkeit der EZB weiterhin anerkannt sein wird. Gerät eine grosse Bank in Schwierigkeiten, so ist es für ein Land die natürliche Reaktion zu sagen: «Hände weg von meinen Banken!» Laut Definition soll die Bankenunion die Bankenaufsicht aus der nationalen Sphäre herausholen, sie rationaler und rigoroser machen.
Bis heute wurde noch nie wirklich überprüft, inwiefern transnationale Aufsichtsbehörden tatsächlich unabhängig sind. Daher müssen wir die Strukturen stärken und gewisse Grundprinzipien klären. Sobald das geschehen ist, werden wir in der Lage sein, gemeinsame Einlagensicherungssysteme aufzustellen, was ich sehr unterstütze. Denn im Gegensatz zur Arbeitslosenversicherung fallen Einlagensicherungen bereits unter die gemeinsamen Spielregeln der europäischen Aufsicht.
Das vollständige Gespräch, das Frédéric Simon mit Jean Tirole führte, ist erstmals bei EurActive erschienen und hier zu lesen.