«Ein Schlagabtausch ist eine gute Sache»

Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, stellt sich nach dem jüngsten Abstimmungssieg auf einen heissen Lohnverhandlungsherbst ein.

Daniel Lampart arbeitet seit 2006 für den Schweizerischen Gewerschaftsbund SGB. Der Ökonom war zuvor für die Konjunkturforschungsstelle KOF tätig. (Foto: zvg)

Daniel Lampart, was heisst für Sie Macht*?
Daniel Lampart: Unsere Mitglieder sind oft dem Einfluss ihrer Vorgesetzten und ihres Betriebs ausgeliefert. Unser Ziel ist, dass sie möglichst frei und finanziell unabhängig sein können. Um dies zu erreichen, brauchen wir Macht oder Einfluss. Das ist eine interessante Ambivalenz: Man hat eine Vision. Dafür braucht es jedoch Mittel, die sich mit der Vision reiben.

Die Gewerkschaften haben mit der 13. AHV-Rente erstmals eine Volksinitiative zum Sozialausbau durchgebracht. Sind sie jetzt so mächtig wie noch nie?
Lampart: Die 13. AHV-Rente verbessert die Rentensituation der heutigen und der künftigen Pensionierten. Unsere Gegner sind noch ein bisschen geschockt. In der katholischen Kirche gibt es dreissig Tage nach dem Tod einen Gedächtnisgottesdienst, in dem nochmals richtig getrauert wird. Dann kehrt langsam die Normalität ein. Auch die Gegner der 13. AHV-Rente brauchen noch etwas Zeit. Wir gehen aber davon aus, dass es eine gute Lösung geben wird, bei der ab 2026 die Renten fliessen werden.

Was heisst das für künftige gewerkschaftliche Forderungen?
Lampart:
Es gibt uns Mut für die Zukunft. Aber es ist schon so: In der Lohnfrage zum Beispiel sind wir an einem ganz anderen Ort. Da sind wir mit Arbeitgebenden konfrontiert, die selbst den Teuerungsausgleich in Frage stellen. Wir haben also mehr Gegenwind und müssen mit einer schwierigeren Situation umgehen und uns auch dort durchsetzen können.

Nützt oder schadet Ihnen der spektakuläre Abstimmungssieg dabei?
Lampart:
Das werden wir im Herbst sehen. Es ist offen – wir müssen neu denken und auch neu handeln.

Haben Sie nun so viel Einfluss wie zum Beispiel Gewerkschaften in Deutschland oder Österreich?
Lampart:
In Europa gehören wir ohnehin zu den einflussreichsten Gewerkschaften, weil wir nicht nur in den Branchen und Betrieben präsent sind. In der Schweiz erlaubt uns die direkte Demokratie auch, mit Volksrechten Fehlentscheide des Parlaments zu korrigieren. Oder jetzt zum ersten Mal mit einer Initiative auch etwas einzubringen, was das Parlament selbst nicht gemacht hat. Dazu brauchen wir keine Massenstreiks wie die Gewerkschaften in Frankreich.

Wird deshalb in der Schweiz weniger gestreikt als anderswo?
Lampart:
In den Betrieben oder Branchen gibt es bei uns auch immer wieder Streiks. Was wir dank dem Referendum nicht brauchen, sind politische Streiks, also Streiks gegen Entscheide der Behörden. Letzten Herbst war ich in Frankreich und ging mit dortigen Gewerkschaftskollegen einen Kaffee trinken. Das war interessant.

Wieso?
Lampart:
Die kamen gerade aus wochenlangen Streiks gegen Macrons Rentenalter-Erhöhung. Interessant war, wie kreativ sie mit der Situation umgingen, mit all den Demos und Streiks. Für sie war es aber schon sehr hart zu hören, dass wir in der Schweiz Gesetzesvorlagen umstürzen können, indem wir Unterschriften sammeln.

Liegt es an unserem politischen System, dass der Einfluss der Gewerkschaften in der Schweiz steigt, während er anderswo sinkt?
Lampart:
Sicher ist es wichtig. Man muss sehen, dass die Schweiz eins der streikreichsten Länder Europas war. Erst mit der Einführung der Gesamtarbeitsverträge und der Volksrechte nahm das massiv ab. In Frankreich richtet sich ein grosser Teil der Streiks gegen Entscheide der Behörden, nicht für bessere Löhne oder gegen Stellenabbau wie bei uns. Man meint immer, wir seien moderater als die anderen. Dabei ist es nur so, dass wir keine politischen Streiks machen müssen. Das führt hie und da zu Missverständnissen.

Zu welchen zum Beispiel?
Lampart:
Vor über zehn Jahren wollten wir zusammen mit dem europäischen Gewerkschaftsbund eine europaweite Bürgerinitiative für gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort lancieren. Dazu führten wir Gespräche in Berlin– und kamen in den offiziellen Sitzungen nicht recht vom Fleck. Beim Mittagessen stellte sich dann heraus, dass eine Unterschriftensammlung für die deutschen Kollegen etwas äusserst Suspektes war. Für uns ist es ein selbstverständliches Kampfmittel.

Wie gross ist Ihr persönlicher Anteil am AHV-Abstimmungserfolg?
Lampart:
Nicht umsonst lautet der Spruch: Siege haben tausend Mütter und Väter, die Niederlage ist ein Waisenkind. Beispielsweise haben wir erst am Freitag vor der Abstimmung festgestellt, dass in Glarus einige Leute aus der Gewerkschaft, die noch nie eine Kampagne gemacht hatten und von denen wir nichts wussten, intensiv für die Abstimmung gekämpft hatten. Ohne das wäre es nicht gegangen.

Wenn sich nicht so viele engagiert hätten, in Glarus und anderswo?
Lampart:
Genau. Es war eine Bewegung, und die hat wirklich Tausende von Müttern und Vätern.

Was hecken Sie im Sozialbereich als nächstes aus?
Lampart:
Jetzt müssen wir zuerst mal das Abstimmungsjahr gut überstehen. 2024 macht das Volk Politik, nicht das Parlament: mit der Abstimmung über die AHV im März, über die Krankenversicherung im Sommer und über die zweite Säule im Herbst. Dann folgt die Lohnrunde – und das Jahr ist voll. Wir setzen alles daran, es so gut abzuschliessen, wie wir es begonnen haben.

Ein grosses Thema ist der gewerkschaftliche Widerstand gegen das bundesrätliche Verhandlungsmandat mit der EU. Warum fällt der so heftig aus?
Lampart:
Für uns ist sehr schwierig, dass der Bundesrat schon einen Teil des Lohnschutzes preisgegeben hat und den Strommarkt öffnen will. Wir hoffen, dass der Unterhändler wie ein Löwe für die Löhne der Arbeitnehmenden in der Schweiz kämpfen wird. So oder so wird die Agenda gewendet – wahrscheinlich durch die SVP, die demnächst ihre Nachhaltigkeits-Initiative gegen die 10-Millionen-Schweiz einreichen wird, die auf die Kündigung der Bilateralen hinausläuft. Die wird wohl zuerst behandelt werden müssen. Aber wir werden sehen.

Normalerweise wirken Sie im Hintergrund, jetzt stehen Sie gleich doppelt im Rampenlicht – wegen der Abstimmungen zum Sozialausbau und wegen der EU-Verhandlungen. Behagt Ihnen diese Rolle?
Lampart:
Ich bin ehrlich gesagt etwas überrascht, dass so viele Leute finden, ich stehe erst jetzt im Rampenlicht. Ich weiss nicht, wie viele «Arena»-Abstimmungskämpfe ich schon gemacht habe. Offenbar werden wir seit der 13. AHV-Rente anders betrachtet. Es war ein intensiver Abstimmungskampf mit einem wunderschönen Sieg, ich hatte aber nicht mehr Medienauftritte als sonst.

Mögen Sie den Schaukampf in der «Arena»?
Lampart:
Ich mag Auseinandersetzungen und starke Gegner. Ein Schlagabtausch, bei dem den Leuten klar wird, worum es geht, ist eine gute Sache, die ich gerne mache. Was ich nicht mag, sind Schläge unter die Gürtellinie und langweilige Diskussionen.

Sie hatten eine Karriere als Musiker erwogen – da wären die Scheinwerfer wohl noch stärker auf Sie gerichtet gewesen.
Lampart:
Nicht ganz. Es ist witzig, ein Gegner der 13. AHV-Rente hat mir geschrieben, es wäre besser, ich wäre Musiker geworden. Aber ich war Kontrabassist, und die stehen in der Regel nicht im Rampenlicht. Sie sind jedoch wichtig.

Weil sie den Rhythmus vorgeben?
Lampart:
Man merkt, wenn sie nicht da sind. Wenn sie da sind, wird es für selbstverständlich genommen.

Geben Sie jetzt in der Gewerkschaft den Takt vor, statt im Orchester?
Lampart:
So würde ich es nicht sagen. Ein Kontrabassist denkt gerne ein bisschen strategisch, er muss sich im Ganzen sehen. Ein Trompeter oder ein Pianist genügt sich mit seinem Spiel selber. Ein Kontrabassist aber muss immer an alles denken und schauen, dass alles gut kommt. Das ist etwas, was ich sehr gerne tue.

Im Gewerkschaftsbund sind Sie Chefökonom und Geschäftsführer. Wie ist Ihr Verhältnis zu Präsident Pierre-Yves Maillard?
Lampart:
Gut, da läuft etwas.

Er sagte einst sinngemäss, er habe sich zuerst an Sie gewöhnen müssen.
Lampart:
Ich habe lange mit Paul Rechsteiner zusammengearbeitet, der zwar das gleiche Ziel verfolgt hatte, aber eine ganz andere Persönlichkeit ist. Mit Pierre-Yves läuft immer etwas, er ist sehr charismatisch, seine Auftritte sind eine Freude. Wir haben es lustig zusammen, und er ist auch sehr grosszügig, was ein wichtiger Wesenszug in unserer Organisation ist.

Inwiefern ist der Gewerkschaftsbund grosszügig?
Lampart:
Wir müssen unsere vielen Verbände, die Unia, die Eisenbahner und all die anderen, immer wieder zusammenbringen und überzeugen. Da kann man nicht einfach hingehen und Befehle erteilen. Also braucht es ein grosszügiges Wesen, um zuerst etwas zu geben, und wenn etwas nicht so läuft wie man es sich vorstellt, auch wieder zu vergessen. Das ist eine absolute Stärke von Pierre-Yves, die es sehr schön macht, mit ihm zusammenzuarbeiten. Ich mag grosszügige Leute gern und versuche selber auch, grosszügig zu sein.

Sie stammen aus dem Zentralschweizer Gewerbe-Milieu und sind Ökonom, was eher für eine bürgerliche Karriere sprechen würde. Wie sind Sie zu den Gewerkschaften gekommen?
Lampart:
Die Gewerkschaft ist ökonomisch betrachtet etwas vom Spannendsten überhaupt. Es gibt so viele Menschen, die arbeiten und Schwierigkeiten haben. Mir ging es auch so, als ich als Musiker, auf dem Bau und im Kino gearbeitet habe: Ich hatte Probleme mit dem Arbeitgeber. So bin ich als Arbeitnehmer zwangsläufig Gewerkschaftsmitglied geworden. Danach habe ich Ökonomie studiert und die Nähe zu den Gewerkschaften beibehalten.

Ging es nicht auch um Macht? Er habe in seiner ganzen Karriere nie mehr so viel Einfluss gehabt wie als Zentralsekretär des Gewerkschaftsbunds, sagte Ihr Vorgänger Serge Gaillard, der es danach immerhin zum Chef der Eidgenössischen Finanzverwaltung gebracht hat.
Lampart:
Man kann in meiner Position sehr viel bewegen, muss aber gut überlegen, wie man es angeht. Einfach hinauslaufen und meinen, so, jetzt wird etwas bewegt – das geht nicht. Man muss sehr gut abwägen, wie man die Ressourcen einsetzt, muss die richtigen Partner suchen, und man muss auch einstecken und verlieren können. Wir verlieren immer wieder mal.

Wie sieht Ihr typischer Arbeitstag aus?
Lampart:
Den gibt es nicht, sonst wäre ich nicht mehr da. Ich liebe es, wenn kein Tag dem anderen gleicht, und ich liebe es, zu den Leuten gehen zu können. Ich suche und brauche das. Als meine
Tochter klein war, habe ich sie ein paarmal am Vatertag mitgenommen. Sie fand es ziemlich langweilig: ellenlange Sitzungen, ständig am Computer und Telefon, viel Gerede. Nur etwas hat sie fasziniert: Versammlungen, in denen es um etwas ging und die Leute stritten. Ehrlich gesagt geht es mir ähnlich. Wenn Menschen zusammenkommen und es um etwas geht, ist es spannend. Aber das ist nur ein Teil meiner Tätigkeit.

Der Rest ist langweilig?
Lampart:
Vieles besteht aus Vorbereiten, Koordinieren, Aufarbeiten und so weiter. Ich muss vor allem schauen, dass die Leute zufrieden sind, und dafür sorgen, dass jene, die unzufrieden sind, abgeholt werden. Das ist eine der Hauptaufgaben eines Geschäftsführers. Und dass man so plant, dass man das Richtige zum richtigen Zeitpunkt macht.

Wer darf Ihnen privat widersprechen?
Lampart:
Selbstverständlich alle. Es muss einfach überlegt sein, aber hie und da ist auch spontan ok – solange es nicht unter der Gürtellinie ist. Ich bin ein freiheitsliebender Mensch und mag es, wenn etwas läuft.

Wie verbringen Sie Ihre Freizeit – am Kontrabass?
Lampart:
Ja, wenn immer möglich mache ich Musik.

In einer Band?
Lampart:
Meist für mich allein. Weil ich unregelmässig arbeite, habe ich keine Zeit, um mit anderen zusammenzuspielen. Aber ich spiele im Quartierorchester und schaffe es am Mittwochabend jeweils zur Probe. Manchmal gehe ich auch an Jazz-Sessions.

Daniel Lampart (54) wurde in Willisau im Luzerner Hinterland geboren. Er hat in Luzern das Gymnasium besucht, in Zürich Philosophie und in St. Gallen Ökonomie studiert. An der Universität Zürich promovierte er in Wirtschaftsgeschichte. Ins Berufsleben stieg er als freischaffender Orchestermusiker ein. Es folgten Stationen als Software-Entwickler und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich, bevor Lampart 2006 zum Gewerkschaftsbund wechselte. Der Vater einer erwachsenen Tochter lebt mit seiner Partnerin in Oerlikon.

*In der Schaltzentrale der Macht
Sie sitzen auf entscheidenden Positionen, aber selten im Rampenlicht: Generalsekretäre von Parteien oder eidgenössischen Departementen, Geschäftsführerinnen von Verbänden oder Direktoren von Nichtregierungsorganisationen. Braucht die Schweiz politische Lösungen, helfen sie diese zu entwickeln. In regelmässigen Abständen wollen wir im Gespräch die Schaltzentralen der Macht ausleuchten.

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