Souveränität der Schweiz in Europa

«Ein Blick in die Geschichte hilft», stellt André Holenstein eingangs des zweiteiligen Buches in Aussicht: des historischen von ihm und des juristischen von Thomas Cottier. Und er teilt rasch einmal ein: «Beim Rahmenabkommen streiten wir über Einzelfragen wie den Lohnschutz und die Unionsbürgerrichtlinie. Aber der Elefant im Raum ist die Souveränität.»

Zwei Perspektiven, gleichsam politisch aufgeladen wie wissenschaftlich fundiert auf Fussnoten-bereinigten gut 150 Seiten, lassen zweifelsohne nur einen Schluss zu: Eine falsch verstandene Souveränität führt einmal mehr zu einer unnötigen Bremsspur.

Das Buch zeigt eindrücklich auf, was Souveränität soll: Sie soll der Herstellung von Frieden, Wohlfahrt und Gemeinwohl dienen. Die Schweiz hat eigentlich eine grossartige Erfahrung in kooperativer Souveränität, im Verhältnis zwischen Bund und Kantonen. Doch historisch wurde das anders verwertet. Wer Souveränität ins Spiel bringt, will Alarm schlagen und verkünden, dass es um nichts weniger geht als um die Freiheit, die Unabhängigkeit und die Selbstbestimmung der Schweiz. Aus diesem tradierten Geschichtsverständnis hat die SVP ein Mantra gemacht. Daraus wurde in der Debatte um das Institutionelle Rahmenabkommen ein pathetischer Appell, sich ja nicht der EU anzunähern. Das hat nachhaltig gewirkt; die «Entscheider» hatten fortan Angst, sich beim Wähler, bei der Partei, bei den Mitgliedern die Finger zu verbrennen.

Holenstein zeigt eindrücklich auf, dass die Bündnisse der Alten Eidgenossenschaft den jeweils Verbündeten zu mehr Einfluss, Ressourcen und Verhandlungsmacht verhalfen. Dabei waren das bei weitem nicht nur Bündnisse mit Kantonen next door, sondern Allianzen der Kantone mit auswärtigen Mächten wie Frankreich, Habsburg-Österreich, Savoyen oder Venedig. Sie waren integrale Elemente eines Gesamtsystems.

In der nationalstaatlichen Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts wurde dies verklärt. Weil vieles nicht ins nationalstaatliche Selbstbild passte, wurde es ausgeblendet, so namentlich auch die 50-jährige staatspolitische Krise von 1798 bis 1848. Die Umwandlung zum Bundesstaat geschah auf grossen Druck und mit starker Unterstützung verschiedener europäischer Mächte. Die neue Verfassung verlieh dem Verhältnis der Kantone zum neuen Bundestaat einen institutionellen Rahmen. Unsere Schweiz, auf die wir alle irgendwie stolz sind, ist selber das Ergebnis eines institutionellen Rahmenabkommens!

Unsere schöne Schweiz, ein Land der Zauderi? Irgendwie schon, wenn uns Holenstein Revue passieren lässt, dass die Schweiz sich lange gesträubt hatte, der UNO beizutreten, und dies erst 2002 nach zwei Anläufen tat. 1945 fehlte die Schweiz auch bei der Gründung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, trat beiden erst 1992 bei. 1948 traten wir dem GATT (heute Welthandelsorganisation WTO) nicht bei, holten dies aber 1958 nach, als die handels- und zollpolitische Isolation drohte. In anderem Zusammenhang, aber wohl gleich motiviert war die liebe Mühe der Schweizer Männer mit dem Frauenstimmrecht.

«Wer die Realität aus den Augen verliert, läuft Gefahr, unter Druck entscheiden zu müssen. Wir befürchten, dass sich die Schweiz in ihren Beziehungen zur EU ein weiteres Mal in eine Phase des Sichdurchwurstelns begibt. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass eine solche Politik in der Regel in Entscheidungen endet, die Hals über Kopf gefällt werden müssen», analysiert Holenstein.

Gerade in der Nachkriegszeit, durch das Völkerrecht, veränderte sich die Souveränität, und noch stärker mit der europäischen Integration. Die Schweiz hat sich dagegen stets gewehrt, einem tradierten, der Unabhängigkeit verpflichteten Verständnis verhaftet. Das hatte eigentlich nie Erfolg. Weiteres Beispiel? Bankgeheimnis. Jahrzehnte lang die Heilige Kuh der Schweiz, plötzlich notgeschlachtet.

Von der Verletzung der Souveränität sind Beschränkungen klar zu unterscheiden. Das führt Cottier in seinem Teil «Souveränität im Wandel» ausführlich aus. Es wird klar, dass die Ziele der Souveränität sich nicht in Unabhängigkeit und Selbstbestimmung erschöpfen, sondern zum Schutz von Rechten und der Wohlfahrt dienen, die in der heutigen Zeit ganz wesentlich von internationalen Verträgen und Garantien abhängen. Doch anders als im Innern des Staates sind die Grundsätze der Partnerschaften, der Partizipation, der Kooperation in den internationalen Beziehungen (bewusst) nicht ausgereift. Darum ist die Souveränität Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Sie muss immer wieder austariert und neu verhandelt werden. Genauso wie sich die Herausforderungen an die heutige Sicherheit und den Wohlstand ändern.

Einerseits paradox, andererseits nicht ganz hoffnungslos, stellt man am Ende der Lektüre fest: Die Lage ist vergleichbar mit jener der Kantone nach 1798, die sich dem aufstrebenden Bundesstaat widersetzen wollten. Sie büssten – im Sonderbundskrieg – formell an Selbstbestimmung ein und gerieten dennoch zu einem grossen Ganzen, dass bis heute Frieden und Wohlstand stiftet.

Das nächste Mal sollten wir nicht geschichtsvergessene Debatten führen, sondern aus unserer reichen Geschichte Lehren ziehen. Cottier und Holenstein legen dazu ein hervorragendes Buch vor. Es sollte ein Lehrbuch sein.

Thomas Cottier und Rolf Holenstein: «Souveränität der Schweiz in Europa – Mythen, Realitäten und Wandel». Stämpfli Verlag, Bern 2021.

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