«Kurzfristig steigen sicherlich die Risiken für die Konjunktur»

Worauf muss sich die Schweizer Wirtschaft nach dem Brexit einstellen? Eric Scheidegger, der die Direktion für Wirtschaftspolitik beim SECO leitet, analysiert die kurz- und langfristigen Auswirkungen.

Eric Scheidegger, Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik beim Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO).

Haben Sie als Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik des SECO mit dem Brexit gerechnet?
Ich hatte auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen bis zum Schluss gesetzt. Umfragen und Markterwartungen deuteten zuletzt auf eine knappe Mehrheit für «Remain» hin. Total überraschend kam der Entscheid aber nicht. Vieles erinnert im Ablauf an den 9. Februar 2014 in der Schweiz (Masseneinwanderungsinitiative): Ein Gemenge aus persönlicher Betroffenheit durch die Immigration und diffusem Unbehagen zum Beispiel gegenüber der Globalisierung, der EU oder der nationalen Politik hat sich letztlich in einem knappen Ja-Entscheid geäussert. Die grossmehrheitlichen Warnungen der Ökonomen vor negativen volkswirtschaftlichen Auswirkungen für Grossbritannien wurden überstimmt.

Was bedeutet der Austritt Grossbritanniens aus der EU für die Schweizer Wirtschaft?
Kurzfristig steigen sicherlich die Risiken für die Konjunktur.

Weshalb?
Weil der Brexit für zusätzliche Verunsicherung an den Finanzmärkten sorgt. In erster Linie wäre hier ein neuerlicher, noch stärkerer Aufwertungsschub des Frankens als «Safe Haven» zu nennen, der unsere Exportsektoren treffen würde. Aber auch eine krisenhafte Eskalation der Bankenprobleme beispielsweise in Italien wäre eine Gefahr für die EU-Konjunktur und indirekt auch für die Schweiz. Eine weitere problematische Folge dürfte sein, dass sich die Normalisierung der Geldpolitik international wie in der Schweiz weiter verzögern wird. Angesichts der gestiegenen Konjunkturrisiken werden die Notenbanken die ultra-expansive Ausrichtung noch länger beibehalten, und ein Ende der Negativzinsen ist nicht in Sicht. Mit einer anhaltend expansiven Geldpolitik wächst jedoch die Gefahr für Ungleichgewichte im Finanzsystem.

Sie haben von kurzfristigen Risiken gesprochen. Was erwarten Sie langfristig?
Die langfristigen Folgen hängen stark davon ab, wie sich Grossbritannien mit der EU vertraglich arrangieren und wie sich die EU als Ganzes politisch weiterentwickeln wird. Ob sich dies dann eher positiv oder negativ auf die Schweizer Beziehungen zur EU auswirken wird, lässt sich noch nicht abschätzen. Langfristig wäre natürlich eine europäische Desintegration im Sinne eines «Domino-Effektes» des Brexit ein besonders grosses Risiko, zumal ein solches Szenario auch von verstärktem Nationalismus, ökonomisch schädlicher Abschottung und Protektionismus begleitet sein könnte. Aber mit solchen Gedanken sind wir vorerst im Bereich der Spekulation.

Bis die vertraglichen Modalitäten des Brexit geregelt sind, dürften Jahre vergehen. Wird sich diese Phase der Unsicherheit negativ auf das Wachstum in der Schweiz auswirken?
Der Brexit und seine unklaren Folgen stellen für die Unternehmen einen zusätzlichen Unsicherheitsfaktor dar. Das Umfeld war schon zuvor aufgrund der fragilen Weltwirtschaft, dem ausserordentlichen Tiefzinsumfeld, dem Formtief der EU und der ungewissen Zukunft unseres bilateralen Verhältnisses zur EU schwierig. Unsichere Perspektiven haben in erster Linie eine bremsende Wirkung auf Investitionsentscheide der Unternehmen. Sollte es zu einer unerwarteten Konjunktureintrübung kommen, wird es aber künftig wohl schwierig sein, den effektiven «Brexit-Effekt» festzustellen. Zurzeit lasten einfach zu viele verschiedene Faktoren auf der Konjunktur.

Womit rechnet das SECO?
Unsere Konjunkturprognose von Mitte Juni ging im Grundszenario nicht vom Brexit aus, sondern betrachtete diesen als Prognoserisiko. Dieses hat sich nun materialisiert. Gleichwohl wäre eine Prognosekorrektur nach unten zurzeit verfrüht. Ob sich wichtige Fundamentalfaktoren wie die Konjunktur in Grossbritannien und der EU oder die Währungssituation verschlechtern werden, ist aufgrund der verfügbaren Indikatoren noch nicht klar. Bisher sehen wir noch keine Anzeichen in diese Richtung. Die Finanz- und Devisenmärkte haben sich nach dem ersten Schock eher wieder normalisiert, auch wenn eine erhöhte Verunsicherung etwa in Bezug auf die schwache Verfassung vieler Banken festzustellen ist. Zurzeit erachten wir unser Konjunkturszenario einer moderaten Erholung vom letztjährigen Frankenschock (BIP-Wachstum 2016: 1.4 Prozent; 2017: 1.8 Prozent) nach wie vor als Richtschnur. Eine neue Prognose werden wir am 20. September veröffentlichen. Bis dahin werden wir aufgrund der Entwicklung wichtiger Indikatoren mehr Information haben.

Ohne massive Intervention der Schweizerischen Nationalbank hätte sich der Franken massiv verteuert. Ist der starke Franken nach wie vor eine Hypothek für die Wirtschaft?
Insbesondere zum schwachen Euro haben wir immer noch eine deutliche Überbewertung. Aber der Aufwertungsschock von Januar 2015 hat sich teilweise korrigiert. Zudem haben sich die Firmen dem schwierigen Währungsumfeld angepasst. Von daher hatten wir vor dem Brexit bislang die Einschätzung, dass der Frankenschock grösstenteils verdaut sei und der Konjunkturmotor langsam wieder Fahrt aufnähme. Aber eine neuerliche Aufwertung wäre natürlich kontraproduktiv!

Der Werkplatz leidet. Müssen wir mit einer stärkeren De-Industrialisierung rechnen?
Zweifellos hatte die Industrie in den letzten Jahren unter der Währungsstärke sowie schleppenden Exportmärkten zu leiden. Entsprechend gingen Arbeitsplätze verloren – seit 2008 rund 40‘000 Stellen. Gleichzeitig wurden aber im Dienstleistungsbereich viele neue Arbeitsplätze geschaffen. Gemessen an der Wertschöpfung konnte sich die Schweizer Industrie bisher aber gut behaupten. Mit einem Industrieanteil von knapp 20 Prozent stehen wir international gut da. Die hohe industrielle Wertschöpfung zeigt, dass die Unternehmen in der Schweiz es im Rahmen der Globalisierung bislang besser als Unternehmen in anderen Ländern geschafft haben, sich auf Tätigkeiten mit hoher Wertschöpfung zu spezialisieren. Alles in allem sehen wir den Werkplatz Schweiz zurzeit unter dem Druck eines beschleunigten Strukturwandels, jedoch nicht in einer Phase der De-Industrialisierung in grösserem Stil.

Düster sind die Prognosen auch für den Tourismus. Worauf muss sich die Branche einstellen?
Insbesondere der alpine Tourismus ist herausgefordert. Zwischen 2008 und 2015 sind die Hotelübernachtungen im Schweizer Alpenraum um rund 13 Prozent zurückgegangen. Die Prognosen für den Tourismus sehen aber glücklicherweise weniger düster aus. Es scheint, als wäre die Talsohle erreicht. Gemäss der aktuellsten Tourismusprognosen der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich vom Mai 2016 wird bei den Hotellogiernächten im laufenden Jahr mit einer Stagnation gerechnet. 2017 dürfte ein Wachstum von knapp 2 Prozent erreicht werden. Und auch für den Tourismus im Alpenraum besteht Hoffnung. Nach einem weiteren Rückgang der Hotellogiernächte im laufenden Jahr um minus 1.3 Prozent wird für 2017 eine leichte Zunahme um plus 0.4 Prozent erwartet.

Um welche Bereiche der Wirtschaft machen Sie sich keine Sorgen?
Seit der Finanzkrise beobachten wir gewissermassen eine Zweiteilung der Volkswirtschaft Schweiz: Die export- und währungsexponierten Bereiche insbesondere im verarbeitenden Gewerbe oder im Tourismus hatten zu kämpfen, binnenwirtschaftlich orientierte Sektoren wie Bau oder Gesundheit wuchsen nicht zuletzt dank Zuwanderung und tiefer Zinsen kräftig.

Wo ist Wachstum angesagt?
Unter der Voraussetzung, dass die begonnene Erholung in der Weltwirtschaft nicht wieder abbricht, dürften auch weite Teile der Exportwirtschaft in den kommenden Jahren wieder vermehrt zum Wachstum beitragen können – insbesondere in Infrastruktursektoren oder in parastaatlichen Bereichen wie Gesundheit, Soziales und die Verwaltung besteht noch Potenzial für Produktivitätssteigerungen. Hier liegt ein Schwerpunkt unserer Wachstumspolitik.

Wo orten sie jenes Innovationspotenzial, dass die Schweizer Wirtschaft vorantreibt?
Wir suchen im Rahmen unserer ökonomischen Analyse grundsätzlich nicht nach branchenbezogenen Innovationspotenzialen. Wir würden uns ansonsten anmassen, besser als Unternehmen und Investoren zu wissen, wo künftige Marktchancen liegen. Das ist Aufgabe von Unternehmern. Wirtschaftspolitisch setzen wir vielmehr auf wachstumsfreundliche Rahmenbedingungen für die ganze Volkswirtschaft, ohne besser wissen zu wollen, was die Privatwirtschaft zu unternehmen hat.

Wie gut ist die Schweizer Wirtschaft im Hinblick auf die Digitalisierung gerüstet und aufgestellt?
Viele Unternehmen in der Schweiz sind sehr aktiv dabei, die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung auszuloten und für sich zu nutzen. Der Bund unterstützt diese Entwicklung, indem er möglichst gute Rahmenbedingungen für Innovationen setzt. Dazu gehört insbesondere auch eine weitsichtige Analyse, ob neue digitale Geschäftsmodelle wirklich neue Regulierungen benötigen.

Ihre Antwort?
Ich bin da prinzipiell skeptisch. Grundsätzlich stellt sich bei den sogenannten disruptiven Innovationen eher die Frage, ob bestehende Regulierungen für bisherige Geschäftsmodelle nicht angepasst werden sollten, um die vielbeschworenen «gleich langen Spiesse» zu ermöglichen. Gemäss verschiedener Studien und Rankings etwa des WEF ist die Schweiz im Hinblick auf die Digitalisierung im internationalen Vergleich gut aufgestellt. Das SECO erarbeitet zudem momentan einen Bericht, der möglichen Handlungsbedarf für den Bund aufzeigen soll, etwa im Bereich der sogenannten Sharing Economy oder bezüglich des Arbeitsmarktes.

Ist die Digitalisierung und die Roboterisierung nun Fluch oder Segen für die Arbeitnehmer? Zahlreiche Studien sagen einen massiven Jobausbau voraus.
Schon in der Vergangenheit standen bei technologischen Umwälzungen stets Befürchtungen über das Ende der Arbeit im Raum. Tatsächlich wurden auch verschiedenste Berufe durch die technologische Entwicklung überholt. Auf lange Sicht haben technologische Basisinnovationen bislang aber stets zu Wachstum und neuen Arbeitsplätzen geführt.

Sie gehören also zu den Optimisten?
Bezüglich solcher Fragen bin ich grundsätzlich optimistisch. Denn in den letzten Jahren konnten wir beobachten, dass trotz fortschreitender Automatisierung laufend neue Stellen und Berufsprofile entstehen. Die Arbeit wird uns sicher nicht ausgehen, aber sie wird sich verändern.

Wie können sich die Unternehmen bestmöglich für die unsichere Zukunft rüsten?
Die Unternehmen wissen, dass sie mit Eigeninitiative, Innovation und Flexibilität am Markt bestehen können. Zentral scheint mir, dass Unternehmen und Mitarbeiter die Digitalisierung als Chance wahrnehmen. Angesichts des hohen Wertschöpfungsniveaus ist es zwingend, dass die Unternehmen in der Schweiz auch bei der Digitalisierung mit den Besten der Welt mithalten.

Wie kann und soll das gelingen?
Ein Schlüssel für den längerfristigen Erfolg bei der Digitalisierung liegt in der Aus- und Weiterbildung der Arbeitskräfte. In den letzten Jahren verzeichneten wir in der Schweiz ein bildungsintensives Beschäftigungswachstum und das Qualifikationsniveau des beruflichen Nachwuchses ist dementsprechend gestiegen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass sich Ausbildungen zeitnah an veränderte Anforderungen anpassen. Die Schweiz befindet sich auch hier mit ihrem dualen und arbeitsmarktnahen Bildungssystem in einer guten Ausgangslage.

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