Ein eindringlicher Weckruf

Die verlorene Deutungshoheit: Wie der Westen den Kampf um Narrative und Werte verliert und ein Netzwerk von Autokratien an Einfluss gewinnt

Ein deutscher Diplomat erzählt der Journalistin Anne Applebaum, dass in Afrika viele Menschen überzeugt seien, Putin habe die Ukraine zu Recht angegriffen – schliesslich seien die Ukrainer Faschisten. Keine andere Perspektive, kein Hinterfragen. Diese Anekdote, die Applebaum in ihrem hervorragenden und gut lesbaren Buch «Die Achse der Autokraten» schildert, verdeutlicht eine zentrale Krise des Westens: den Verlust der Deutungshoheit in vielen Teilen der Welt. Was früher als selbstverständlich galt – die Überlegenheit der liberalen Demokratie und die moralische Führungsrolle des Westens –, ist heute nicht nur fragwürdig geworden, sondern wird aktiv untergraben. Doch wie konnte es so weit kommen, und was steht auf dem Spiel?

Anne Applebaum legt in ihrem Buch dar, dass moderne Autokratien nicht mehr den klassischen Diktaturen gleichen, die durch einen charismatischen Tyrannen regiert werden. Stattdessen agieren sie wie Netzwerke oder Unternehmen – sie bilden, wie Applebaum es nennt, eine «Autocracy, Inc.»: einen Zusammenschluss von Regimen, nicht durch Ideologie vereint, sondern durch das Streben nach Machterhalt und persönlichem Reichtum. Diese Autokraten agieren clever, strategisch und vor allem kooperativ.

Ein globales Netzwerk der Autokraten

Applebaum beschreibt eindrucksvoll, wie Autokratien heute zusammenarbeiten, um sich gegenseitig zu stützen und globale Normen zu ihren Gunsten zu verändern. Anhand zahlreicher Beispiele zeigt sie auf, wie Autokratien Propagandastrategien austauschen, Desinformationskampagnen betreiben, finanzielle Unterstützung bieten und Technologien zur Überwachung liefern. Es handelt sich nicht nur um eine neue Achse der Macht, sondern um ein Netzwerk, das sich tief in demokratische Gesellschaften erstreckt.
Russland steht im Zentrum dieses Netzwerks. Unter Wladimir Putin hat sich das Land zur Schaltzentrale autokratischer Zusammenarbeit entwickelt: sei es durch Unterstützung für andere Regime, die Unterwanderung demokratischer Institutionen oder die Verbreitung gezielter Desinformation, namentlich im Westen. Besonders bedrückend ist Applebaums Schilderung, wie autokratische Regierungen Finanznetzwerke nutzen, um Sanktionen zu umgehen, internationale Immobilienmärkte zu infiltrieren oder Gold- und Drogenschmuggel zu betreiben.

Ziel: Verschiebung der globalen Normen und Spaltung des Westens

Applebaum zeigt auf, wie moderne Autokratien zusammenarbeiten, um ihre Macht zu sichern und globale Normen zu verschieben. Diese Zusammenarbeit umfasst:

  • Desinformationskampagnen, die westliche Demokratien spalten
  • Finanznetzwerke, die Oligarchen helfen, Vermögen zu verschleiern
  • den Export von Überwachungstechnologien
  • militärische und finanzielle Unterstützung autokratischer Verbündeter

Die Fehler des Westens

Zwei zentrale Fehler macht Applebaum für die aktuelle Stärke der Autokraten verantwortlich:

  1. «Wandel durch Handel»
    Die deutsche Strategie des «Wandels durch Handel», die in den 1960er-Jahren von Egon Bahr geprägt wurde, ging davon aus, dass wirtschaftliche Verflechtungen mit diktatorischen Staaten, allen voran der Sowjetunion, langfristig zu deren Demokratisierung führen würden. Was mit dem Fall der Mauer und dem Kollaps der UdSSR zu funktionieren schien. Doch Applebaum argumentiert, dass genau das Gegenteil eingetreten sei: Autokratien wie Russland und China haben die wirtschaftlichen Beziehungen genutzt, um ihren eigenen Einfluss zu stärken und westliche Abhängigkeiten zu schaffen. Das Nord-Stream-2-Projekt ist für sie ein Paradebeispiel, wie ökonomische Interessen westlicher Staaten die geopolitischen Risiken überlagerten.
  2. Die Illusion der «offenen Welt»
    Applebaum kritisiert die optimistische Annahme, die in den 1990er-Jahren insbesondere von US-Präsident Bill Clinton vertreten wurde: dass technologische Innovationen wie das Internet die Welt durchlässiger, transparenter und damit zwangsläufig demokratischer machen würden. Clinton und viele seiner Zeitgenossen glaubten, dass die globale Vernetzung autoritäre Regime schwächen würde. Doch Autokratien wie Russland und China haben diese Technologien adaptiert und instrumentalisiert: zur Überwachung ihrer Bevölkerung, zur Verbreitung von Desinformation und zur gezielten Destabilisierung demokratischer Systeme.

Ein Aufruf zur Verteidigung der Demokratie

Trotz der düsteren Analyse bleibt Applebaum eine Optimistin. Sie appelliert an die demokratischen Staaten, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden und gezielt gegen die Bedrohungen durch die Achse der Autokraten vorzugehen. Dazu gehören Massnahmen gegen Desinformation, mehr Transparenz im internationalen Finanzwesen und eine klare Haltung gegenüber Autokratien.

Das Buch «Die Achse der Autokraten» ist ein eindringlicher Weckruf, der sowohl die Mechanismen moderner Autokratien seziert als auch die Schwächen der Demokratien aufzeigt. Applebaum gelingt es, das komplexe Zusammenspiel von Macht, Geld und Narrativen verständlich zu machen, und fordert ihre Leserinnen und Leser dazu auf, sich für die Freiheit und den Fortbestand demokratischer Werte einzusetzen.

Anne Applebaum erinnert uns alle daran, dass wir die liberale Demokratie und unsere Freiheiten nicht als selbstverständlich hinnehmen dürfen. Wir dürfen im Westen nicht zu selbstgefällig werden.

Anne Applebaum: «Die Achse der Autokraten». Siedler Verlag 2024.

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