«Heute würde die AHV nicht mehr eingeführt»

Rosmarie Dormann hat im Nationalrat eine ganze Reihe von AHV-Revisionsversuchen mitgestaltet – und dabei Gemeinsamkeiten ausgemacht. Heute vermisst sie die Solidarität.

Rosmarie Dormann gestaltete während ihrer Zeit im Nationalrat mehrere Revisionen von AHV, BVG und IV massgeblich mit. (Foto: zvg)

Die Frauen müssen zwar länger arbeiten, die AHV ist aber noch nicht aus dem Schneider. Sie haben im Parlament eine ganze Reihe von Revisionsversuchen massgeblich mitgestaltet – kommt Ihnen das bekannt vor?
Rosmarie Dormann:
 Ja, als erstes Argument wird immer das liebe Geld ins Feld geführt. Das war schon so, als wir bei der 10. AHV-Revision Verbesserungen wie das Ehegatten-Splitting sowie Erziehungs- und Betreuungsgutschriften eingeführt haben. Schon damals hiess es, das könne man nicht finanzieren. Heute staunt man, dass die Schweizer Männer nach dem Zweiten Weltkrieg den Mut hatten, eine AHV zu schaffen. Die damalige Not war ausschlaggebend für die Solidarität im Volk.

Bei der Einführung der AHV gab es nur gerade eine Rente von 40 Franken pro Monat, die nirgends hinreichten.
Dormann: Viel war es tatsächlich nicht, aber gemessen an den damaligen finanziellen Verhältnissen war es ein spürbarer Beitrag. Die Armut bei verwitweten Frauen mit Kindern war riesig.

Nach der 10. AHV-Revision dauerte es fast ein Vierteljahrhundert, bis wieder eine Reform erfolgreich war. Woran liegt das: wirklich nur am Geld? 
Dormann: Auch an der fehlenden Solidarität. Heute spricht man von den bedauernswerten Erwerbstätigen, und es heisst, die Jungen müssten die Alten finanzieren. Das gehört zum Konzept der AHV. Auch die heutige Rentnergeneration hat Lohnbeiträge an die AHV bezahlt. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass unsere Eltern und Grosseltern ihre Eltern im Alter finanziert haben – ohne Rente. Das war damals gar keine Frage.

Heute ist es eine? 
Dormann: Heute geht es uns allen viel besser. Wir leben in einem reichen Land. Und Reichtum macht nicht zwingend solidarisch. Wenn wir heute abstimmen müssten, würde die AHV nicht mehr eingeführt.

Verfolgen Sie die aktuellen Revisionsversuche der ersten und zweiten Säule?  
Dormann: Selbstverständlich bin ich noch immer sehr an den Sozialversicherungen interessiert, auch wenn ich nicht mehr politisch aktiv bin. Als Sozialarbeiterin und als Richterin im Familienrecht kannte ich die Nöte der Menschen sehr gut. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Alain Berset hat es immerhin geschafft, eine eigene Vorlage durchzubringen. Was macht er besser als seine Vorgänger? Ruth Dreifuss ist bei der 11. Revision vor dem Volk gescheitert, Pascal Couchepin später schon im Parlament.  
Dormann: Ich denke nicht, dass es an den Köpfen lag. Die Ablehnung fiel ja sehr knapp aus. Und Ruth Dreifuss war bei der erfolgreichen 10. AHV-Revision im Amt.

Woran lag es dann? 
Dormann: Viele Leute, die sich nicht mit der Materie befassen, sind erst mal skeptisch. Im Zweifelsfall sagt der Schweizer Nein. Nach dem Motto: «Wenn ich es nicht will, sollen die anderen es auch nicht haben.»

Bei der AHV gibt es zurzeit neue Vorschläge von links bis rechts. Die Gewerkschaften haben eine Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente lanciert. Halten Sie das für eine gute Idee?  
Dormann: Diese Idee ist nicht durchdacht, eine 13. AHV-Rente braucht es nicht. In meinen Augen ist das ein Wahlkampfschlager, schliesslich finden im Herbst Wahlen statt. Wir sollten nicht vergessen, dass der Anteil der Vermögenden unter den Rentnerinnen und Rentnern hoch ist. Mit der Initiative käme die 13. Rente allen zugute, auch den gut Situierten, die sie gar nicht benötigen.

Sie würden eine gezielte Hilfe für die Bezüger tieferer Renten vorziehen? 
Dormann: Ja, zumal jemand, der nur eine AHV-Rente und keine oder nur eine geringe Rente aus der zweiten Säule bekommt und kein Vermögen ansparen konnte, im Alter nicht existenzsichernd leben kann. Deshalb müsste für Kleinverdienende die AHV-Mindestrente angehoben werden.

Das Parlament hat soeben eine Revision der beruflichen Vorsorge beschlossen, welche gering Verdienenden höhere Renten bringen würde. Die Lohnabzüge steigen aber so stark, dass Gewerkschaften, Bauern und Gewerbe die Reform bekämpfen.
Dormann:
 In der zweiten Säule wirkt sich die rasant steigende Lebenserwartung aus. Der angesparte Betrag muss nicht nur für zehn Jahre reichen, sondern für 30 Jahre. Dafür kann niemand etwas, das ist eine Folge des medizinischen Fortschritts.

Macht die Renteninitiative der Jungfreisinnigen mehr Sinn, die das Rentenalter zuerst auf 66 Jahre erhöhen und danach an die Lebenserwartung knüpfen will? 
Dormann: Das könnte gerechter sein, muss aber gut überlegt werden. Die Menschen in der Schweiz sind je länger je besser ausgebildet und werden immer älter. Und 80 Prozent der Frauen sind heute berufstätig. So betrachtet halte ich es nicht für utopisch, eines Tages das Rentenalter für beide Geschlechter ein bisschen anzuheben. Dies immer in Relation zu unserer Lebenserwartung, die massiv gestiegen ist.

Hätten Sie die von der Partei der Arbeit geforderte «Volkspension» bevorzugt, die 1972 an der Urne gescheitert ist? 
Dormann: Eine einzige Rente, von der man im Alter leben kann, wäre die sozialste Lösung. Dann würde es die zweite Säule nicht brauchen. Denn diese ist sehr kostentreibend. Allein mit der Verwaltung der Gelder verdient sich manch einer eine goldene Nase.

Wenn Sie auf die Reihe von Revisionsversuchen der Sozialversicherungen zurückblicken, die Sie in den 16 Jahren als Nationalrätin und teils als Präsidentin der vorberatenden Kommission mitgestaltet haben: Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben? 
Dormann: Ich denke bis heute daran, wie wir Frauen darüber gespottet haben, dass es den Männern nicht eingefallen ist, eine Witwerrente zu verlangen. Die Witwerrente wurde dank eines Vorstosses von Josi Meier eingeführt, der ehemaligen Ständeratspräsidentin aus dem Kanton Luzern. Sie kam aus heiterem Himmel mit der Idee – und wir fanden es besonders amüsant, dass die Männer nicht selber daran gedacht hatten.

Die Witwer- und die Witwenrenten sind ein politischer Dauerbrenner. Nun hat Finanzministerin Karin Keller-Sutter wegen der knappen Bundeskasse deren Abschaffung vorgeschlagen. Ist der Moment jetzt gekommen?
Dormann:
 Das hatte ich schon vorgeschlagen, als wir vor fast 30 Jahren in der Sozialkommission des Nationalrats die 10. AHV-Revision berieten. Diese Rente erhalten auch Witwen und Witwer, die nicht darauf angewiesen sind, weil sie voll erwerbstätig sind und gut verdienen.

Vor ein paar Jahren haben Sie angekündigt, etwas kürzer zu treten. Ist das gelungen? 
Dormann: Ja, das ist es. Ich habe keine zeitraubenden ehrenamtlichen Verpflichtungen mehr. Das Präsidium der Bethlehem-Mission Immensee sowie des Vereins Traversa, der sich für Menschen mit einer psychischen Erkrankung einsetzt, habe ich vor kurzem abgegeben. Jetzt bin ich nur noch im Vorstand von «Don-Bosco-weltweit», einer Organisation mit Sitz in Beromünster, die sich in südlichen  Ländern vorwiegend für die Ausbildung von Lehrpersonen vor Ort einsetzt.

Wie nutzen Sie die gewonnene Zeit? 
Dormann: Ich engagiere mich für die berufliche Ausbildung von Flüchtlingen, die voraussichtlich nicht in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden können. Konkret setze ich mich dafür ein, dass fünf Kinder einer alleinerziehenden Mutter aus Afghanistan einen Beruf erlernen können. Das ist eine schöne Aufgabe.

Machen Sie auch etwas für sich selber? 
Dormann: Ich lese, wandere und reise gern – früher in die ganze Welt, jetzt beschränke ich mich auf die Schweiz und die Nachbarländer. Im Mai werde ich ein paar Tage nach Florenz fahren, wo ich vor 50 Jahren sechs Monate lang Italienisch gelernt hatte. Ausserdem gehe ich täglich spazieren, im Winter bin ich mit den Schneeschuhen unterwegs oder mache Gymnastik – all das, wofür ich früher keine Zeit hatte.

Rosmarie Dormann (76) gehörte 16 Jahre lang dem Nationalrat als Vertreterin des sozialen Flügels der Luzerner CVP an. Die diplomierte Sozialarbeiterin und Mediatorin gestaltete mehrere Revisionen von AHV, BVG und IV massgeblich mit. Sie gilt zudem als Mutter der Antirassismus-Strafnorm, wofür sie mit dem Fischhof-Preis der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz ausgezeichnet wurde. Rosmarie Dormann wohnt im luzernischen Rothenburg.

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