«Der Zivilschutz muss wieder kriegstüchtig werden»

Alexander Krethlow, Generalsekretär der Regierungskonferenz Militär, Zivilschutz und Feuerwehr, zu den Lehren aus Ukrainekrieg und Nahostkonflikt.

Alexander Krethlow ist seit 2015 Generalsekretär der Regierungskonferenz Militär, Zivilschutz und Feuerwehr. (Foto: zvg)

Alexander Krethlow, was heisst für Sie Macht*?  
Alexander Krethlow: Macht ist ein zweischneidiges Schwert. Als Historiker greife ich zum Vergleich: Napoleon setzte seine militärische Macht für grössenwahnsinnige Ziele ein und überflutete ganz Europa während 20 Jahren mit Krieg. Fürst von Metternich setzte seine politische Macht ein, um den Tyrannen zu stürzen. Macht ist nicht nur negativ konnotiert, sondern kann auch positiv eingesetz werden.

Ist die Schweiz zurzeit besonders ohnmächtig angesichts der geopolitischen Verwerfungen in der Ukraine und im Nahen Osten, denen sie tatenlos zusehen muss? 
Krethlow: Uns geht es wie den meisten Staaten in Europa: Von der russischen Aggression wurden breite Kreise überrascht. Ich habe zu Beginn der 90er-Jahre in Moskau studiert und die russische Hauptstadt zuletzt 2016 mit Vertretern der Regierungskonferenz Militär, Zivilschutz und Feuerwehr RK MZF besucht. Mich hat es überhaupt nicht überrascht, dass Russland seine säkularen Ziele – nämlich die Ausdehnung seines Territoriums Richtung Westen – wieder aufgenommen hat. Überrascht hat mich nur der Zeitpunkt.

Die Armee ist Bundessache. Welchen Einfluss hat die Regierungskonferenz auf die Sicherheitspolitik, die seit dem russischen Überfall enorm an Bedeutung gewonnen hat?  
Krethlow: Unseren Mitgliedern – den Regierungsrätinnen und Regierungsräten, die für die Bereiche Militär, Zivilschutz und Feuerwehr zuständig sind – geht es um den Schutz der Bevölkerung. Wir machen unseren Einfluss auch gegenüber dem eidgenössischen Parlament und dem Bund regelmässig geltend. Im Sicherheitsverbund Schweiz sind wir integriert. Die Vorsteherin des Verteidigungsdepartements kennt unsere Ansichten. Ich würde es nicht Macht nennen, aber wir üben Einfluss aus.

Wie genau? 
Krethlow: Durch Vernetzung, Koordination und Positionsbezug. Wir nehmen zu jeder sicherheitspolitisch relevanten Gesetzesvorlage Stellung und sind in zahlreiche Projekte involviert. Selbstverständlich liegt die Armee im Kompetenzbereich des Bundes, der Bevölkerungsschutz aber – das Verbundsystem von Polizei, Feuerwehr, Gesundheitswesen, Zivilschutz und technischen Betrieben – ist primär Sache der Kantone. Der Zivilschutz ist das strategische Mittel der Kantone zur Sicherstellung ihrer Durchhaltefähigkeit. Unser Anliegen ist, dass nicht nur die militärische Verteidigungsfähigkeit gestärkt wird, sondern genau gleich auch der Bevölkerungsschutz.

Brauchen Sie wie die Armee ebenfalls mehr Mittel? 
Krethlow: Wahrscheinlich geht es für die Kantone nicht anders, wenn sie wollen, dass unser Zivilschutz wieder für den Krieg tüchtig gemacht wird.

Wurde das zu sehr vernachlässigt? 
Krethlow: Nach dem Fall der Mauer stand für den Zivilschutz die Bewältigung von Katastrophen und Notlagen im Fokus. Dabei wurden etliche Truppengattungen abgeschafft. Es gibt nur noch wenige Kantone, die über einen Sanitätsdienst im Zivilschutz verfügen. Der ABC-Schutz – der Schutz vor atomaren, biologischen und chemischen Waffen – ist weitgehend verschwunden. Der Ukrainekrieg stellt höchste Anforderungen an den Schutz der Bevölkerung. Wir ziehen laufend unsere Erkenntnisse daraus. Jetzt geht es darum, sie zusammen mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz umzusetzen und bestehende Projekte in hohem Tempo voranzutreiben.

Welche Projekte? 
Krethlow: Zentral ist die Fähigkeit zur Kommunikation über ein sicheres Datenverbundsystem. Ausserdem brauchen wir ein sicheres Funknetz. Heute benützen Behörden und Organisationen für Rettung und Sicherheit Polycom. Spätestens 2035 benötigen wir einen Ersatz. In all diesen Projekten arbeiten wir eng mit dem Bund zusammen.

Wie sieht es mit den Schutzräumen aus? Die galten lange als überflüssig, inzwischen hat der Wind gedreht. 
Krethlow: Da hat der Wind massiv gedreht. Im Ukrainekrieg und im Nahostkonflikt sehen wir, dass Drohnen und Raketen regelmässig zum Einsatz kommen. Grundsätzlich sind wir hervorragend aufgestellt. Kein anderes Land in Europa ist so gut mit Schutzbauten ausgerüstet wie die Schweiz. Doch die Schutzbauten müssen instand gestellt werden, was nicht ganz günstig ist.

Müssen die Hausbesitzer einen anderen Aufbewahrungsort für ihre Weine, Champignonzucht oder was auch immer suchen?
Krethlow:
Auch im Kalten Krieg lagerten viele Eigentümer von Schutzräumen anderes darin als das, was vorgeschrieben gewesen wäre. Es war aber klar, dass der Schutzraum nach einer Vorwarnzeit von drei Tagen bezugsbereit sein musste. In vielen Fällen ist das nach wie vor absolut ok. Das Problem sind die ABC-Filteranlagen, die teilweise hoffnungslos veraltet sind. Diese muss man baldmöglichst erneuern.

Die Personalnot im Zivilschutz ist gross. Was halten Sie von einer Zusammenlegung mit dem Zivildienst?
Krethlow:
Bis Ende Jahr soll dem Bundesrat eine vertiefte Prüfung von zwei Modellen vorgelegt werden. Das eine ist die «Sicherheitsdienstpflicht», also die Zusammenlegung von Zivilschutz und Zivildienst, das andere die «bedarfsorientierte Dienstpflicht», bei der auch die Frauen militärdienstpflichtig würden. Persönlich halte ich die Zusammenlegung zu einer neuen Organisation, dem «Katastrophenschutz», für einen gangbaren Weg.

Warum?
Krethlow:
Das würde das System vereinfachen. Heute haben wir drei Gefässe: Armee, Zivilschutz und Zivildienst. Würde man das neue Modell umsetzen, hätte man nur noch zwei Gefässe: die Armee als Mittel des Bundes und den Katastrophenschutz als Mittel der Kantone. Für die Kantone bedeutet das zwar zusätzlichen Aufwand, weil davon auszugehen ist, dass im Katastrophenschutz gleichviel Dienst geleistet werden müsste wie in der Armee, also 245 Diensttage. Der Katastrophenschutz würde in diesem Modell aber viel stärker auf die Verteidigungsfähigkeit ausgerichtet werden können.

Was halten Sie von der allgemeinen Dienstpflicht?
Krethlow:
Wir teilen die Meinung des Bundesrates. Er sagt, der Bedarf sei nicht gegeben und die Kosten seien zu hoch.

Wie schätzt die RK MZF die aktuelle Lage der Armee ein – ist sie so dramatisch, wie Armeechef Thomas Süssli sagt?
Krethlow:
Der Vorstand teilt Süsslis Einschätzung: Die Lage beim Heer ist bedenklich. Bei den Ausgaben sind meiner Meinung nach die Waffensysteme auf der Strecke geblieben. Diese sind teilweise dermassen veraltet, dass wir einen enormen Nachholbedarf haben. Es geht aber nicht nur um die materielle Verteidigungsfähigkeit, sondern auch um die Ausbildung, die nicht mehr auf Krieg ausgerichtet ist. Wie werden wir wieder kriegsgenügend? Das ist heute die Frage.

Wo sehen Sie das grösste Problem der Armee?
Krethlow:
Es gibt nicht eines, sondern drei Probleme: Das eine ist das Personal. Wir verlieren sehr gute Leute an den Zivildienst, und es kommen nicht genügend Leute in die Wiederholungskurse. Das zweite Problem ist das Material. Und das dritte Problem ist das Tempo.

Dass das Personal- und das Materialproblem nicht rasch genug gelöst werden?
Krethlow:
Richtig. Für eine grundlegende Reform wie das Katastrophenschutz-Modell braucht es eine Verfassungsänderung. Diese dauert rund acht Jahre. Um das Material zu beschaffen, müssen wir uns nach den Rüstungsbeschaffungsprozessen richten. In der Armeebotschaft 2024 steht, dass das in der Schweiz zwischen sieben und zwölf Jahren dauert. Überspitzt ausgedrückt kann ich sagen: Ich hoffe nur, Putin hält sich an den schweizerischen Rüstungsbeschaffungsprozess.

Warum trägt die Regierungskonferenz auch die Bezeichnung «Militär» im Namen, obwohl die Armee nicht Sache der Kantone ist?
Krethlow:
Auch die Kantone treten im militärischen Bereich auf. So organisieren wir die Orientierungstage, an denen die Jugendlichen über die sicherheitspolitischen Organisationen informiert werden. Zudem arbeiten die Kantone eng mit den Territorialdivisionen zusammen.

Sie haben in den 90ern Russistik studiert. Aus besonderer Affinität zu Russland?
Krethlow:
Ich bin Historiker und gehöre zu jenen, die Russland für einen europäischen Staat halten. Damals wusste ich nichts über Russland. Es war eine reine Horizonterweiterung.

Beobachten Sie den Ukrainekrieg deshalb mit besonderem Interesse?
Krethlow:
Ich habe ein zweifaches Interesse am Ukrainekrieg: Erstens aufgrund meines Geschichtsstudiums. Seit 2006 unterrichte ich zudem Geschichte an der Universität Bern, seit 2010 als Privatdozent. Zweitens aufgrund meines beruflichen Interesses an den aktuellen Veränderungen im sicherheitspolitischen Bereich.

Auch zum zweiten aktuellen Konfliktherd haben Sie eine Verbindung: Sie unterstützen Schulen, Spitäler und andere Institutionen im Heiligen Land. Was sagen Sie zur Eskalation der Lage?
Krethlow:
Meine Kontakte pflege ich zu den Christen im Nahen Osten. Deren Lage ist momentan ganz schwierig. Die meisten sind palästinensische Christen, und die stecken zwischen Hammer und Amboss. Sie leiden unter unerhörten wirtschaftlichen Schwierigkeiten, weil sie meist in irgendeiner Weise mit Pilgerreisen ins Heilige Land verbunden sind, zum Beispiel nach Bethlehem. Der Tourismus ist völlig weggebrochen, also leiden sie.

Wer darf Ihnen privat widersprechen?
Krethlow:
Jeder Mann und jede Frau darf mir widersprechen. Ich liebe hitzige Diskussionen, die argumentativ gut geführt werden.

Und in der Freizeit betreiben Sie einen Kampfsport wie Fechten oder Judo?
Krethlow:
Meine Freizeit ist ausgefüllt mit der Jagd und dem Schreiben von Büchern, primär zur Militärgeschichte. Mein wichtigstes ist die Biografie des preussischen Generalfeldmarschalls Colmar Freiherr von der Goltz, der 1916 als Chef einer osmanischen Armee in Bagdad gestorben ist. Auch daher stammt mein Interesse für den Nahen Osten.

Alexander Krethlow (59) ist in Muri bei Bern aufgewachsen, hat an der Stiftsschule Einsiedeln die Matura gemacht und in Genf und Bern Geschichte und Russistik studiert. Der Oberst der Schweizer Armee arbeitete im Strategischen Nachrichtendienst und als Chef Strategie im Bundesamt für Bevölkerungsschutz, bevor er 2015 Generalsekretär der Regierungskonferenz Militär, Zivilschutz und Feuerwehr wurde. Daneben unterrichtet Krethlow als Privatdozent Neueste Geschichte an der Universität Bern. Der Vater von zwei erwachsenen Kindern lebt mit seiner Gattin in Luzern.

*In der Schaltzentrale der Macht
Sie sitzen auf entscheidenden Positionen, aber selten im Rampenlicht: Generalsekretäre von Parteien oder eidgenössischen Departementen, Geschäftsführerinnen von Verbänden oder Direktoren von Nichtregierungsorganisationen. Braucht die Schweiz politische Lösungen, helfen sie diese zu entwickeln. In regelmässigen Abständen wollen wir im Gespräch die Schaltzentralen der Macht ausleuchten.

Innovation braucht Demut und Tempo

Ein neues Führungsmodell aus Lausanne verspricht Managern mehr Erfolg in der digitalen Transformation.

«Der Zivilschutz muss wieder kriegstüchtig werden»

Alexander Krethlow, Generalsekretär der Regierungskonferenz Militär, Zivilschutz und Feuerwehr, zu den Lehren aus Ukrainekrieg und Nahostkonflikt.

«Leider gibt es zu wenige Kräfte, die sich für einen grösseren Kuchen einsetzen»

Warum der Industrielle Valentin Vogt trotz allem optimistisch ist.

Bund will Sicherheit von Medienleuten verbessern

Selbst im Demokratie-Vorzeigeland Schweiz können Medien nicht uneingeschränkt arbeiten.

Nach Corona wird die Welt anders sein – so wird sie aussehen

Welche Veränderungen und Prioritätssetzungen führende Denker nach der Krise erwarten.

Schweiz als Vorreiterin in der KI: Warum hier die Zukunft entsteht

Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft soll Vertrauen in die Technologie und ihre Regulierung stärken.

«Niemand wagt es, genau hinzusehen»

Carolina Müller-Möhl ist Unternehmerin und Philanthropin. Ihr Ziel ist es, einen Beitrag für eine bessere Gesellschaft zu leisten. Dadurch macht sie sich auch angreifbar, doch das spornt sie an, erst recht weiterzumachen.

Wenn das Profil zum Problem wird

Die Spuren, die wir auf unseren Rechnern oder Handys hinterlassen, sind langlebig. Es kann zu unschönen Überraschungen kommen, wenn Daten kombiniert und missbraucht werden.

Konsens statt Krawall

Angesichts alternativer Energiequellen ist Putins Versuch, Europa in Sachen Energie zu erpressen, gescheitert.