«Der perfekte Ort für Friedensgespräche»

Christina Schori Liang, Terrorismusexpertin am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik, erklärt, welche Rolle die Schweiz einnehmen soll – wenn die Kriegsparteien dereinst so weit sein werden, an einem Tisch zu sitzen.

Christina Schori Liang leitet am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik die Abteilung Terrorismusbekämpfung und Prävention von gewalttätigem Extremismus. (Foto: zvg)

Ukraine, Naher Osten, Taiwan, Pakistan: Wohin man auch blickt, herrscht Krieg oder eine explosive Stimmung. Überrascht Sie das?  
Christina Schori Liang: Wir alle sind überrascht worden. Niemand hatte erwartet, dass an so vielen unterschiedlichen Orten gleichzeitig Konflikte aufbrechen und die Welt in eine bedrohliche Lage bringen könnten.

Welcher Konfliktherd bereitet Ihnen am meisten Sorgen? 
Schori Liang: Alle sind gleichermassen besorgniserregend, denn Kriege haben einen Lawineneffekt. Und sie wirken sich global aus, wo auch immer auf der Welt sie stattfinden. Am bedrohlichsten ist natürlich ein Krieg, der in der Nachbarschaft tobt.

Ist das für die Schweiz der Krieg in der Ukraine oder jener im Nahen Osten? 
Schori Liang: Die Schweiz ist ein europäisches Land, also ist für sie der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine bedrohlicher.

Aber nicht so bedrohlich wie für die nordischen Staaten und die ehemaligen Sowjetrepubliken und -Satelliten? 
Schori Liang: Deshalb hat der schwedische Zivilschutz-Minister Carl-Oskar Bohlin kürzlich vor einem Krieg in Schweden gewarnt, und der Oberbefehlshaber der Armee seine Landsleute dazu aufgerufen, sich mental darauf vorzubereiten. Finnland ist erst im April 2023 der NATO beigetreten, worauf aus Russland die Drohung kam, dass das Land als erstes darunter leiden werde, wenn die Spannungen mit der NATO eskalieren sollten. Das gefährlichste Szenario ist eine direkte Beteiligung der NATO am Ukraine-Krieg.

Ist es nicht eher der Konflikt zwischen China und Taiwan? 
Schori Liang: Der steigende wirtschaftliche und militärische Druck Chinas auf Taiwan könnte zu einer schweren Krise mit Beteiligung der USA und anderer Länder der Region führen und einen Krieg auf globaler Ebene auslösen. Ich glaube aber, dass zu viel auf dem Spiel steht, um das zu riskieren. Sowohl die USA als auch China sind vollständig nuklear bewaffnet. Die nukleare Abschreckung trägt dazu bei, einen Konflikt in Ostasien zu verhindern.

China hat angekündigt, Taiwan bis 2030 mit Gewalt «heim ins Reich» zu zwingen. Und der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew, heute stellvertretender Vorsitzender von Russlands Sicherheitsrat, hat mehrmals vor einem Weltkrieg gewarnt. Alles nur leere Drohungen?
Schori Liang:
Es sind politische Verlautbarungen, die der Hebung der Moral der eigenen Truppen dienen sollen. Ich glaube, dass niemand für einen dritten Weltkrieg bereit ist. Medwedew war immer gut im Säbelrasseln, ebenso wie Wladimir Putin.

Sie halten die Furcht vor einem globalen nuklearen Konflikt für übertrieben?
Schori Liang:
Auf eine so schwierige Frage habe ich keine gute Antwort. Ich kann aber sagen, dass uns der Krieg in der Ukraine daran erinnert hat, dass es keinen Weg gibt, Unsicherheit und Risiko zu vermeiden. Das Ziel, die Bedrohung durch Atomwaffen zu verringern, bleibt wichtig wie eh und je. Die vollständige Abschaffung der nuklearen Arsenale ist derzeit aber ein unrealistisches Unterfangen. Als 2022 der UNO-Vertrag über ein vollständiges Verbot solcher Waffen in Kraft trat, figurierte keiner der neun Kernwaffenstaaten unter den 86 Unterzeichnern.

Der Nahostkonflikt ist momentan etwas in den Hintergrund gerückt. Zu Recht?
Schori Liang:
Was auffällt, sind die Fähigkeiten, welche nichtstaatliche Akteure wie die Hamas entwickelt haben. Wie Frankensteins Monster wurden sie von Staaten geschaffen, haben sich losgelöst und sind unglaublich reich geworden. Dank ausgeklügelter Technologien: Der militärische Flügel der Hamas nutzt schon seit 2018 Kryptowährungen und erhält auf diesem Weg eine Milliarde Dollar Spenden pro Jahr. Weil diese Akteure so reich sind, können sie sich das beste Militärmaterial leisten, zu dem früher nur Staaten Zugang hatten. So bekommen sie die gleiche militärische, wirtschaftliche und politische Macht wie Staaten. Das hat sich dramatisch verändert.

Sind die Huthi-Rebellen in Yemen, die den Welthandel erfolgreich torpedieren, auch so reich?
Schori Liang:
Das Interessante an ihnen ist, dass sie sich wie ein Staat im Staat verhalten, weil sie ebenfalls über die nötigen Mittel verfügen, die ihnen militärische, wirtschaftliche und politische Macht geben. Es ist eine Weiterentwicklung dessen, was mit dem Islamischen Staat IS und den Taliban begonnen hat. Nur ist es inzwischen viel raffinierter.

Woher droht die grösste Gefahr: Von Lenkwaffen, von Terrorangriffen oder aus dem Cyberspace?
Schori Liang:
Von allen drei gleichermassen, denn alle sind inzwischen Teil der modernen Kriegsführung. Zu konventionellen Kriegen gehören jetzt auch Terroranschläge, wie sich zuletzt im Krieg zwischen Israel und der Hamas gezeigt hat. Cyberangriffe sind ein integraler Bestandteil der konventionellen Kriege geworden. Privatpersonen sowohl aus der Ukraine als auch aus Russland führen sie, um den Feind zu schwächen. Terroranschläge und Cyberattacken werden im Tandem eingesetzt, um den Feind durch Angriffe auf Spitäler und Banken zu demoralisieren. Im Cyberwar gibt es aber Anlass zu Hoffnung.

Woraus schöpfen Sie diese?
Schori Liang:
Im Oktober 2023 hat das Internationale Komitee vom Roten Kreuz IKRK zum ersten Mal Einsatzregeln für zivile Hacker in Konflikten veröffentlicht. Dieser «Genfer Kodex für den Cyber-Krieg» wurde zunächst als undurchführbar kritisiert. Jetzt aber haben die grössten ukrainischen und russischen Hacktivisten-Gruppen angekündigt, dass sie die Regeln einhalten werden. Diese basieren auf dem humanitären Völkerrecht und verbieten etwa Cyberangriffe gegen zivile Objekte wie medizinische Einrichtungen.

Sie haben kürzlich die Genfer Sicherheitsdebatte über den Krieg in der Ukraine geleitet. Sehen Sie eine Chance für Friedensgespräche?
Schori Liang:
US-General James Mattis sagte einmal: «Ein Krieg ist erst dann zu Ende, wenn der Feind sagt, dass er zu Ende ist. Wir mögen ihn für beendet halten, wir mögen ihn für beendet erklären, aber in Wirklichkeit hat der Feind eine Stimme.» Sowohl Russland als auch die Ukraine sind nicht bereit, den Krieg aufzugeben. Keine der beiden Seiten ist besiegt worden. Die Ukraine ist jetzt ein geteiltes Land, aber genug davon ist intakt, um den Sieg für sich zu beanspruchen. Und Russland konnte weit genug über seine alten Grenzen vordringen, um einen kleinen Sieg zu deklarieren. 2024 wird ein entscheidendes Jahr sein. Der Westen muss der Ukraine weiterhin helfen, nicht nur mit Sicherheitszusagen, sondern auch mit Waffen, Ausbildung und Materiallieferungen.

Dazu ist der Westen aber immer weniger bereit.
Schori Liang:
Dabei ist es wichtig, denn für Europa steht viel auf dem Spiel: Der Ausgang des Konflikts hat das Potenzial, die Logik des internationalen Systems zu prägen, angefangen bei der euro-atlantischen Sicherheitsordnung und den internationalen Normen, an die sie sich hält. Die Auswirkungen des Krieges können auch dazu führen, dass bündnisfreie Staaten wie die Schweiz, die keine Sicherheitsgaranten haben, sich mehr Sorgen um ihre Zukunft machen.

Soll die Schweiz stärker aufrüsten, um sich zu wappnen?
Schori-Liang:
Der Krieg in der Ukraine hat die Schweiz dazu veranlasst, ihr Neutralitätskonzept zu überdenken. 2022 gab es dazu sogar einen ergänzenden Bericht zur Schweizer Sicherheitspolitik. Der Krieg belebt das Konzept der bewaffneten Neutralität neu und unterstreicht die Bedeutung der Armee für die Wahrung der schweizerischen Souveränität. Im Bericht erhält die Bedeutung der internationalen militärischen Zusammenarbeit einen hohen Stellenwert. Um eine Invasion abwehren zu können, muss in Friedenszeiten geübt werden. Daher wird die Verstärkung der internationalen Verteidigungs- und Sicherheitszusammenarbeit zu einem zentralen Element der schweizerischen Sicherheitspolitik.

Soll sich die Schweiz mit einem Ukraine-Friedensgipfel wieder als Friedensvermittlerin zu positionieren versuchen, wie beim Treffen zwischen Ronald Reagan und Michail Gorbatschow 1985 in Genf? Oder ist das anmassend?
Schori Liang:
Die Schweiz im Allgemeinen und Genf im Besonderen wären der perfekte Ort für Friedensgespräche. Die Schweiz ist am besten in der Lage, Kleinstaatendiplomatie zu betreiben, indem sie alle diplomatischen Kanäle offenhält, wie sie es in der Vergangenheit immer getan hat. Ihre traditionelle Rolle als neutraler Staat qualifiziert die Schweiz im Ausland als «ehrliche Maklerin» bei Konflikten. Das ist nicht anmassend, sondern ein wertvoller Beitrag, um die Kluft zwischen den Grossmächten zu überwinden und ihnen letztlich dabei zu helfen, einen Weg zu Frieden und Stabilität zu finden.

Wann wäre der richtige Moment für einen Friedensgipfel?
Schori Liang:
Friedensprozesse sind nur möglich, wenn alle Kriegsparteien bereit sind, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Derzeit sind die Aussichten dafür sehr schlecht. Putin wartet ab, wer im November bei den US-Präsidentschaftswahlen gewählt wird. Trump war noch nie ein grosser Freund der NATO. Auf seiner Wahlkampf-Website ruft er derzeit dazu auf, «den Zweck und die Aufgabe der NATO grundlegend neu zu bewerten». Mehrere europäische Länder zögern, ob sie mehr Waffen in die Ukraine schicken sollen, da sie die militärische Ausrüstung für ihre eigene Verteidigung benötigen könnten, falls Trump im November wiedergewählt wird.

Wie sind Sie eigentlich zur Sicherheitspolitik gekommen?
Schori Liang:
Meine Dissertation habe ich über Rechtsextremisten in Deutschland geschrieben. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wandte ich mich dem Terrorismus zu. Jetzt ist der Rechtsextremismus wieder ein grosses Thema, überall in Europa. Terrorismus ebenfalls. Es ist spannend zu sehen, wie Terroristengruppen einander weltweit helfen. Wie sie sich sozusagen gegenseitig füttern.

Können Sie da noch ruhig schlafen?
Schori Liang:
Die globale Sicherheit ist auf einem Tiefstand. Ich schlafe nicht sehr viel, aber das liegt auch daran, dass ich mich sehr für meine Arbeit engagiere und hoffe, dass ich zumindest ansatzweise etwas bewirken kann.

Wie nutzen Sie die freie Zeit, falls welche bleibt?
Schori Liang:
Mit Skifahren. In den Schweizer Bergen tanke ich Kraft und finde meinen Frieden.

Christina Schori Liang ist in den USA und der Schweiz aufgewachsen und hat am Institut de hautes études internationales et du développement in Genf Geschichte und internationale Politik studiert. Am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik ist sie Leiterin der Abteilung Terrorismusbekämpfung und Prävention von gewalttätigem Extremismus. Zudem leitet sie Sicherheitsdebatten, zuletzt über den Ukrainekrieg, und bietet Schulungen und strategische Beratung an – etwa für die UNO, die Europäische Kommission, die NATO und die OSZE. An der Pariser Elitehochschule Sciences Po unterrichtet Schori Liang über globale Risiken gewalttätiger staatlicher Akteure sowie über die Geopolitik der Cybersicherheit. Sie lebt im Waadtland.

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