Insgesamt 70’000 Menschen nahmen während vier Tagen an der weltweit grössten Tech-Konferenz in Lissabon teil – vom jungen Start-up-Gründer, über Tech-Investoren, CEOs, Programmierinnen, bis zu Visionären, Politikerinnen und Prominenten aus dem Show-Business. (Foto: Shutterstock)

Das alles überstrahlende Thema am Web Summit 2023 in Lissabon war die künstliche Intelligenz. Neben viel Begeisterung für AI-Tools waren auch kritische Stimmen zu hören. Schwächt Technologie die Demokratie? Kann Desinformation in Zukunft überhaupt erkannt, geschweige denn verhindert werden? Immer häufiger werden wir uns nämlich fragen müssen, ob das, was wir wahrnehmen, tatsächlich der Realität entspricht. Insofern kann man Parallelen zur Konferenz vor fünf Jahren ziehen: Im Nachgang zu Donald Trumps Wahlsieg waren damals Fake News und die Manipulierung der Wählenden die dominierenden Themen. Fast schon anachronistisch wirkte dieses Jahr der Auftritt von Wikipedia-Gründer Jimmy Wales am Eröffnungsabend. Basiert sein digitales Nachschlagewerk doch wie kaum ein anderes Erfolgsprojekt im Internet auf der Arbeit und dem Wissen von Menschen und nicht von Maschinen.
Der Besuch am Web Summit war überwältigend. Während vier Tagen hasteten insgesamt 70’000 Menschen wie aufgescheuchte Ameisen durch das weitläufige Messegelände in Lissabon. Junge Start-up-Gründer, Tech-Investoren, CEOs, Politikerinnen, Prominente aus dem Show-Business, Programmierinnen, Visionäre und zwei Kommunikationsberater aus der Schweiz versuchten, sich ihren Weg durch das Getümmel zu bahnen, auf der Suche nach dem nächsten inspirierenden Talk auf einer der 15 Bühnen.

Diese sieben Eindrücke sind uns besonders geblieben von der der grössten Tech-Messe der Welt am Ufer des Tejo:

  1. Storytelling für Unternehmen und die Politik 
    Der erfolgreiche junge Content-Creator Eric Struk (7,7 Millionen Followers auf TikTok) beschrieb die heutigen Anforderungen an erfolgreichen Content so: Videos müssen die Nutzerinnen und Nutzer dazu animieren, möglichst lange zu schauen. Diese sogenannte «View-Time» ist die aktuell härteste «Währung» auf Social Media, befeuert durch den sogenannten «Content-Graph», den Algorithmus, der dafür sorgt, dass wir mehr von dem sehen, was uns interessiert und uns auf der Plattform hält. Je mehr Videos die User auf einem Account anschauen und vor allem auch je länger, desto stärker pusht der Algorithmus diese Inhalte. Entsprechend prominent werden sie den Usern ausgespielt. Dies gilt besonders für Instagram und TikTok, bedingt auch noch für Facebook. Die Algorithmen von LinkedIn und Twitter funktionieren momentan noch etwas anders und zeigen mehr Inhalte von Accounts, denen man folgt. Diese Priorisierung heisst «Social Graph». Eric Struks Erfolgsgeheimnis bei der Content-Erstellung ist die strikte Befolgung der altbewährten Regeln des Geschichtenerzählens.


    Dieser Maxime folgt auch Tilo Bonow, Gründer der Kommunikationsagentur Piabo. Er bestätigte in einer sehr gelungenen Präsentation die Wichtigkeit, dass Unternehmen eine gute Story erzählen. Denn nur 32 Prozent der Menschen glauben an Werbung. Umso zentraler ist die Bedeutung von PR und Branding, um Vertrauen und Glaubwürdigkeit bei der Zielgruppe zu schaffen. Da sich nur 5 Prozent der Menschen an Fakten erinnern, sie sich aber mit 22-facher Wahrscheinlichkeit an eine gute Geschichte erinnern und daran, wie sie sich dabei gefühlt haben, ist Storytelling entscheidend, um die Herzen und Köpfe zu gewinnen.

    In eine ähnliche Richtung zielte der Vortrag von David Heasty von der Werbeagentur Triboro aus New York. Anhand von Arbeiten der letzten Jahre zeigte er auf, wie die Agentur für ihre Kunden versucht, hinter die Dinge zu schauen, tief einzutauchen in ein Thema, zu recherchieren, Daten zu sammeln und daraus die passenden Visuals, Commercials und Slogans zu kreieren. Dabei spielt die Intuition eine zentrale Rolle. Sie dient sozusagen als Übersetzung zwischen all den Daten und der Form – dem Endprodukt. Hier kommen aus seiner Sicht der Mensch und dessen Kreativität ins Spiel.

    Auch Politiker sind mehr denn je gefordert, ihre Botschaften in leicht verständliche Geschichten zu packen, wenn sie viele Menschen erreichen wollen. Nachrichten kämpfen auf Social Media um Aufmerksamkeit – gewissermassen auf Augenhöhe mit leicht verdaulichen Spass-Beiträgen. Politikerinnen und Politiker der Polparteien erreichen mit ihren extremen Forderungen auf Social Media besonders häufig hohe Aufmerksamkeit und werden von den Algorithmen bevorzugt ausgespielt. News werden – gerade von einem jüngeren Publikum – vermehrt direkt auf Social Media konsumiert. Wahrgenommen wird dabei vor allem die Schlagzeile. Reicht das? Für unsere direkte Demokratie ist diese Frage von grosser Wichtigkeit. Wie werden Informationen für Stimmberechtigte künftig kommuniziert? Mehrere Speaker appellierten am Web Summit an die Verantwortung von uns allen gegenüber den politischen Systemen, welche über Jahrzehnte aufgebaut wurden. Wir müssen dazu Sorge tragen.

  2. Nachrichten auf TikTok
    Chris Chandler ist ein junger Brite, der auf TikTok die Nachrichten präsentiert. Es heisst immer wieder, dass gerade junge Menschen TikTok als ihren Vorzugskanal anschauten, wenn sie News konsumieren. Diese Aussage lässt sich nun deutlich korrigieren. Richtig ist, dass viele junge Menschen ausschliesslich TikTok als Social-Media-Plattform nutzen. Und sie sind dort, um unterhalten zu werden. Wenn man sie mit News erreichen will, so müssen sich die News-Plattformen auf TikTok mit Unterhaltungsinhalten um die Aufmerksamkeit der Nutzer streiten. Einer, der es gut macht, ist Chris Chandler. Er scheint den Ton der Community besonders präzis zu treffen.
  3. «Trust»
    «Trust» – Vertrauen – war ein häufig gehörter Begriff am Web Summit. Regierungen, Politiker, News-Organisationen und überhaupt alle Medien kämpfen mit Vertrauensverlust. Corona lässt grüssen. Wenn die staatlichen Institutionen keine klaren Informationen liefern können und keine einfachen Antworten auf die grossen Fragen haben, werden Menschen empfänglich für Verschwörungstheorien. Autokraten wie Putin füttern das Misstrauen der Leute gezielt, indem sie bewusst Unmengen an Unwahrheiten publizieren. Der Autor James Ball hat dieses Phänomen am Beispiel der QAnon-Bewegung in seinem Buch «The Other Pandemic» untersucht. Sein Fazit ist glasklar: «Populism and conspiracy need each other.» Sandro Kaulartz von Ipsos befürchtet, dass junge Menschen, die mit generativer AI aufwachsen, noch viel weniger Vertrauen in die Medien haben werden. Sie sind sich bewusst, wie einfach Fake-Inhalte erstellt werden können. Wie können wir dieses Vertrauen wieder herstellen? Die Medien haben hierzu ihre Rolle als Gatekeeper schon verspielt.

    Auch Kalev H. Leetaru, Gründer des faszinierenden GDELT Project (siehe dazu https://www.bigdata-insider.de/was-ist-gdelt-a-1078771/) warnte davor, dass wir alle anfällig für das gezielte Verbreiten von Falschinformationen seien. Solange News unseren Werten und Interessen entsprechen, halten wir sie für eher wahr. Dagegen glauben Trump-Wähler sofort, dass Joe Biden wieder eine Treppe hinuntergestürzt sei, auch wenn die Bilder nur künstlich hergestellt wurden. Vertrauen ist für Jimmy Wales, den Gründer von Wikipedia, ein äusserst wichtiges Anliegen. Er ist skeptisch, dass künstliche Intelligenz in ihrer aktuellen Ausprägung in der Lage wäre, Artikel für Wikipedia zu verfassen. Wikipedia lebt nach wie vor davon, dass eine Community von Freiwilligen die Artikel redigiert. Er will Falschinformationen mit einem neuen Konzept bekämpfen: Wales hat eine weitere Plattform am Start, das «Trust Café», das Raum für Diskussionen und Austausch sein soll. Dort sollen Falschinformationen rasch aufgedeckt und beseitigt werden können. Eine schöne Idee, die aber wohl wieder in einer Bubble landen wird.

  4. Künstliche Intelligenz im Arbeitsalltag
    Der Experte für Effizienz im Arbeitsumfeld, Jan Rezab, gab konkrete Einblicke in seinen Umgang mit künstlicher Intelligenz und wo er den grössten Nutzen im Arbeitsalltag sieht. Er nutzt die aktuellen AI-Tools als Helfer zur Vervollständigung laufender Projekte, zur Inspiration im kreativen Prozess und in der internen Kommunikation. Das Schreiben ganzer Artikel traut er ChatGPT zum Beispiel noch nicht zu, das Verfassen interner Memos hingegen schon, und das Zusammenfassen von Sitzungen delegiert er ganz an die Maschine.

  5. ChatGPT und die News-Organisationen
    In Sachen Tech und Medien zeichnet sich eine Erweiterung der Kampfzone ab, verfolgen doch grosse Publisher in Europa wie etwa Springer die Idee eines Leistungsschutzrechts, mit dem sie Entschädigungen von den grossen Tech-Firmen aus Kalifornien durchsetzen wollen, die Werbegewinne dank Medieninhalten machen würden. Nun hat man auch die AI entdeckt: Vertreter grosser News-Organisationen machen sich dafür stark, dass sie von OpenAI oder anderen AI-Providern eine Entschädigung erhalten. Die Begründung? Schliesslich sei ChatGPT unter anderem mit den Inhalten der News-Portale gespiesen worden. Und das Training der AI sei nur deshalb erfolgreich gewesen.
  6. Nachrichten in Zeiten des Krieges
    Die Kyiv Post ist ein preisgekröntes englischsprachiges News-Erzeugnis, das in der Ukraine erscheint. Dank weltweit erfolgreichem Crowdfunding konnte die unabhängige Internet-Zeitung vor allem mit schneller und fundierter Kriegsberichterstattung brillieren. Die Redaktion scheute sich nicht, auch kritisch über die ukrainische Führung zu berichten, unter anderem machte sie auch Korruption und Misswirtschaft selbst im Verteidigungsbereich öffentlich. Für Chefredaktor Bohdan Nahaylo ist Desinformation heute die wichtigste Waffe im Krieg. Er wies auf die immensen Ressourcen, die der Kreml seit vielen Jahren verwende, um die Deutungshoheit in der Erzählung der Ereignisse rund um Russland zu gewinnen.
  7. We live in a geek world
    Andrew McAfee, Principal research scientist vom MIT, stellte sein neues Buch «The Geek Way» vor. Für die Recherche zum Buch hat er verschiedene Unternehmen wie Raumfahrtgigant SpaceX oder Streaming-Krösus Netflix angeschaut und sich gefragt, was diese von «Old School»-Unternehmen unterscheide. Im Gespräch erläuterte er anhand von SpaceX, wie schnell heutige Unternehmen auf Rückschläge reagierten. Feedbacks sind für Geek-Unternehmen essenziell. Diese werden aufgenommen, in die nächste (Beta)-Version direkt integriert und rasch veröffentlicht. Daten werden ausgewertet. Die Frage ist: Wie rasch kann man aus Fehlern lernen und diese an die nächste Phase adaptieren? Geschwindigkeit scheint also ein wichtiger Faktor für ein Unternehmen in der heutigen Zeit zu sein. Und Agilität, um sich rasch an neue Gegebenheiten anzupassen. Bleibt die Frage, ob die Geek-Unternehmen nicht selbst das Tempo immer weiter vorantreiben?

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