Ein polarisiertes Land, in dem nur SP und SVP zu zweit eine Mehrheit haben
Diejenigen Parteien gewinnen, die viel versprechen – dabei bleibt die Eigenverantwortung auf der Strecke
Die Eidgenössischen Wahlen vom 22. Oktober 2023 sind Geschichte. Was uns vorläufig noch bleibt, sind die Emotionen vom Wahlsonntag. Die Freude der Siegerinnen, die Ernüchterung der Verlierer. Doch bald wird in der Schweiz wieder die Normalität einkehren. Das neue Parlament, das am 4. Dezember 2023 erstmals zusammentreten wird, muss ab dann Lösungen liefern. Die Probleme haben die Parteien in diesem Wahlkampf eingehend angesprochen.
Die dritte Wahl in Folge, die Rekorde schlägt
Auch wenn es nach mehreren Rekorden aussieht: Der Ausgang der nationalen Wahlen 2023 sollte nicht isoliert betrachtet werden. Die Resultate (vgl. Schluss) fügen sich in eine Reihe aussergewöhnlicher Wahlausgänge von 2015 und 2019 ein, mit für die Schweiz ungewöhnlich hohen Verschiebungen. Erst steigerte die SVP ihren Wähleranteil 2015 auf rekordhohe 29,4 Prozent. Weil damals auch die FDP gewann, wertet man diesen grossen Wahlsieg als Rechtsrutsch. 2019 verlor die SVP gleich 12 Sitze im Nationalrat; die FDP 4 Sitze. Die Grünen erreichten 2019 einen rekordhohen Zuwachs (+17 Sitze) – in einer Wahl, die als Klima- und Frauenwahl in die Geschichtsbücher einging. Gewinner damals: Grüne und Grünliberale. Politanalysten und Medien werteten die Wahlen von 2019 allgemein als Korrektur des Wahlsiegs der beiden Parteien rechts der Mitte.
Jetzt lässt der Wahlsonntag 2023 nur einen Schluss zu: Das Stimmvolk hat eine weitere Korrektur vorgenommen, dieses Mal am Resultat von 2019. Nur fällt die Kurskorrektur im Vergleich zu 2019 weniger massiv aus. Die SVP konnte ihre Verluste gegenüber 2015 nicht vollständig kompensieren. Zur Erinnerung: Damals gewann die SVP 11 Sitze, die FDP deren 3. Beide bürgerlichen Parteien rechts der Mitte kamen 2015 zusammen auf 98 Sitze. Mit den Stimmen von MCG und Lega ergab das eine knappe 101-zu-99-Mehrheit im Nationalrat. Am Wahlsonntag 2023 gewann nur noch die SVP Mandate; und auch nur deren 9. Das ergibt eine klare, im historischen Vergleich aber moderate Stärkung des bürgerlichen Lagers. In der kommenden Legislatur werden SVP/FDP über 90 Sitze verfügen. Das bedeutet für FDP und SVP, dass sie mindestens 10 Stimmen aus den anderen Parteien holen müssen, wenn sie eine Vorlage im Nationalrat durchbringen wollen. Fallweise dürften die beiden Parteien auf die Vertreter der EDU, von MCG aus Genf und von der Lega bauen können, die die Zahl auf 95 hochbringen. Wobei MCG und Lega in gewissen Fragen durchaus auch mit Links stimmen werden.
Demgegenüber geht Links-Grün im Vergleich zu 2019 geschwächt hervor: Statt über 67 Stimmen verfügen die beiden Parteien nur noch über 64 Mandate. Dies ist aber immer noch sehr viel mehr als 2015: Damals verfügten SP und Grüne nur gerade über 54 Mandate.
Die Bundesratsparteien SVP, SP, Mitte und FDP als Ganzes gehen für einmal gestärkt aus den Wahlen hervor. Sie haben zusammen 11 Sitze dazugewonnen und verfügen neu über 160 Mandate, fast so viel wie 2015, als sie bei 168 Sitzen lagen. Gegenüber 2015 oder 2019 dürfte die Mehrheitsbildung im neuen Nationalrat insgesamt schwieriger geworden sein.
Globale Krisen haben Auswirkungen
Insgesamt dürfte die Korrektur der Wähleranteile auch in einem globalen Kontext stehen. Die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg und zuletzt der Angriff der Hamas auf Israel tragen zur Verunsicherung bei. Konservative Werte sind daher wieder im Aufwind. Schliesslich hat die SVP es auch geschafft, erfolgreich die Angst vor Überfremdung und Überbevölkerung zu schüren. Nach der Klimawahl von 2019 hat das Migrationsthema wie 2015 den Wahlausgang wieder entscheidend beeinflusst.
Die Wahlen haben gezeigt, dass liberale Werte heute einen schweren Stand haben. Der Niedergang der CS, zu deren Rettung der Staat eingreifen musste, hat Zweifel am marktwirtschaftlichen Paradigma geweckt. Für viele Stimmbürgerinnen und Stimmbürger steht Eigenverantwortung in Zeiten grosser Unsicherheit nicht im Vordergrund. In unsicheren Zeiten – und seien diese in der Schweiz teilweise auch nur gefühlt – ist Sicherheit gefragt. Parteien, die den Schweizerinnen und Schweizern etwas abverlangen (Leistung wie die FDP oder Verzicht wie die Grünen und teilweise die GLP), sind weniger gefragt. Gewonnen haben diejenigen Parteien, die Sicherheit versprechen (vor «Masseneinwanderung») wie die SVP oder vor sozialen Risiken (SP) und vor Veränderungen generell wie teilweise die Mitte.
Noch unklar ist, ob sich die Polarisierung in der Schweiz fortsetzen wird. Denn auch wenn beide Polparteien – SVP und SP – erneut gestärkt wurden, so ist die Beharrlichkeit der Mitte überraschend. Als eine von sehr wenigen Parteien hat sie sich demonstrativ gegen die Polarisierung positioniert und aktiv vor den negativen Auswirkungen gewarnt. Damit hat sie nicht nur den Abwärtstrend gestoppt, sondern hinsichtlich des Wähleranteils knapp zur FDP aufgeholt. Was ebenso als historischer Moment gewertet werden darf.
Was besonders auffällt in der Nachbetrachtung: Die Polarisierung von Stadt-Land ist so stark wie nie. Das lässt sich etwa mit Daten zeigen (vgl. Politologe Sean Müller)
In den fünf grössten Städten der Schweiz haben die Linken seit den 70er-Jahren kontinuierlich zugelegt. Mitte und Rechte haben gleichermassen Wähleranteile und damit an Einfluss verloren. Einzig in Genf ist es zu einer Trendwende gekommen, wobei der Einfluss von Links/Grün immer noch gross bleibt.
Nimmt man die beiden Resultate in den Kantonen Bern und Zürich zum Massstab, so fällt auf, dass die städtischen Zentren in beiden Kantonen ganz anders gewählt haben als die Landbevölkerung des gleichen Kantons. Das führte zur absurden Situation, dass der SP und den Grünen während des Wahlsonntags entweder moderate Gewinne (SP) oder markante Verluste (Grüne) vorausgesagt wurden. Doch die Prognosen lagen falsch: Die städtischen Zentren hatten am Schluss viel höhere Stimmbeteiligungen auszuweisen, was der Grund für die Ungenauigkeit der Voraussagen war. Weil viel mehr Städter an die Urnen gingen, erhielten deren Stimmen natürlich viel mehr Gewicht. Illustriert am Beispiel von SVP und SP im Kanton Zürich: Auch wenn der Sünneli-Partei in der Prognose 3,3 Prozent Zuwachs prognostiziert wurde, bleiben ihr am Schluss nur 0,7 Prozent. Demgegenüber wird aus einem marginalen Zuwachs der SP (1. Hochrechnung) am Schluss eine Steigerung von satten 3,8 Prozent.
Weniger Frauen schaffen Sprung in den Nationalrat als noch 2019
Der Frauenanteil im Nationalrat ist nach den rekordhohen 42 Prozent der letzten Legislatur wieder auf 38,5 Prozent zurückgegangen (in absoluten Zahlen: 77 statt 84 Sitze). Das ist eine direkte Folge des Wahlerfolgs von SVP, MGC, Lega und EDU, die zusammen 12 Mandate gewinnen. So schnappte im Kanton Zürich ein EDU-Mann den Sitz einer SVP-Frau weg. Auch bei den beiden anderen Kleinparteien werden nur Männer gewählt. Die Verluste von Grünen und Grünliberalen treffen ebenfalls mehrere Frauen. Die SVP trat von allen Bundesratsparteien mit dem tiefsten Frauenanteil unter den Kandidierenden an.
Insgesamt wurde der Nationalrat nur leicht verjüngt. Neu beträgt das Durchschnittsalter in der grossen Kammer zum Wahlzeitpunkt gerade 49,7 Jahre und ist damit fast ein Jahr höher als 2019. Es gibt im Vergleich deutlich weniger Mitglieder bei den unter 35-Jährigen und deutlich mehr bei den über 65-Jährigen als noch 2019.
Erst Ständeratswahlen bringen endgültige Klarheit
Wie schon 2015 muss man den Ausgang der Ständeratswahlen abwarten, bevor eine abschliessende Analyse der Kräfteverhältnisse möglich wird. Die zweiten Wahlgänge finden mehrheitlich am 12. oder 19. November statt. Wenn die Linke am Wahlabend vor dem Rechtsruck warnt, dürfte das Wahltaktik sein, nicht zuletzt im Hinblick auf den Ständerat. 2015 funktionierte das Lamento der Linken hervorragend: Sie eroberten im zweiten Wahlgang mehr Sitze in der kleinen Kammer als erwartet, womit der Ständerat damals leicht nach links rückte. Erste Resultate der Ständeratswahlen 2023 zeigen noch keinen klaren Trend, wie die Kräfteverteilung in den nächsten vier Jahren aussehen wird. Dieser Tage klären sich die Konstellationen in den Kantonen, in denen keine der Kandidierenden das absolute Mehr erreicht hat, oder nur ein Sitz besetzt werden konnte. Was dieses Jahr überrascht: In mehreren Kantonen hat sich die Konkurrenz der SVP überraschend schnell auf eine einzige Kandidatur verständigt. In manchen Kantonen tritt die FDP zwar nochmals an, die Freisinnigen werden mutmasslich aber auch im Ständerat deutlich hinter die Mitte zurück rutschen, wenn man die Sitzzahl als Massstab nimmt.
Die Resultate im Überblick:
So sieht die Sitzverteilung im Nationalrat bei den drei Wahlen zwischen 2015 und 2023 aus: